Archiv für den Monat November, 2010

Ställe

Montag, 29. November 2010

Soeben fertig geworden die erste Theorie, die auch ein Auge aufs Alpentörtchen wirft, den alpinen Kuhfladen:

PDF: http://www.ueliraz.ch/analyse-2010/alpen/staelle.pdf

HTML: http://www.ueliraz.ch/analyse-2010/alpen/staelle.htm

Jetzt müssen nur noch die Hunderte von Alpen, die 2010 fotografiert wurden, der Reihe nach an die richtigen Stellen kopiert werden. Das dauert ein paar fleissige Wochen.

Bergkatzen

Sonntag, 28. November 2010

Tomba war ein berühmter Kater, im Sommer zuhause im Schwarenbach, von wo er öfters frühmorgens mit einer der ersten Gruppen aufs Rinderhorn und sogar aufs Balmhorn mitzog. Mit Google findet man einige Berichte und Fotos.

Auf dem Picasa-Album von gestern gibt es nicht nur die verlinkten Bilder aus der Eigernordwand, sondern weitere Sehenwürdigkeiten, darunter Eisklettern nicht nur an, sondern auch hinter den mächtigen Eiszapfen und eben Bilder mit einer Katze aus der Baltschiederklause, die mit Zweibeinern bis aufs Bietschhorn kletterte – einige Passagen lang im Rucksack. In einem Artikel über die Hüttenwarte ist zu lesen, eine ihrer drei Katzen hätten sie einmal in der Bietschhornhütte wieder abholen müssen. Ob es nach der Tour mit diesen Bildern war, weiss ich nicht. FotografInnen in den Bergen sind zuweilen arg wortkarg.

http://picasaweb.google.com/dres76/
20080825TourenwocheBaltschieder#

Porte du Soleil

Sonntag, 28. November 2010

Man ist vielleicht kein Fan des grossflächigen Skizirkus, aber auf der Porte du Soleil haben sie eine Panorama-Webcam installiert, die es in sich hat:

http://portesdusoleil.livecam360.com/

Ich hatte am 26. Juni auf der Pointe des Mossettes fotografiert:

http://www.ueliraz.ch/2010/morgins.htm

Eiger Nordwand

Samstag, 27. November 2010

Heute wieder mal in der Eigernordwand gewesen:


http://picasaweb.google.com/dres76/EigernordMitMartinKeller#

Gurrelieder

Freitag, 26. November 2010

Gestern auf Radio DRS 2 die Gurre-Lieder (1900-1911) von Arnold Schönberg aus dem KKL Luzern vom 14. September 2010, mit Christine Brewer, Petra Lang,Stephen Gould, Andreas Conrad, Stephen Powell, Wolfgang Schöne, Tonhalle-Orchester Zürich, Orchestre de la Suisse Romande, NRD Chor, Damen des Choeur du Théâtre de Genève, Staatlicher Akademischer Chor „Latvija, Leitung: David Zinman.

Ich höre Musik mit offenen Augen und träume dabei nichts Gegenständliches. Bei den Gurre-Liedern gerate ich seit jeher in Schwierigkeiten, der Struktur zu folgen, insbesondere im ersten Teil. Gestern dissoziierte ich mich die ganze Zeit in die Gegend des Pic Tenneverge, zuerst sehr lange auf der französischen Seite in die wilden Pâturages de Prazon, in die Passage de la Rigole, durch die Gures und ins Vallon de Tenneverge (einer der vielen Bäche, leicht südlich, heisst Cascade des Gurrets), im kurzen zweiten Teil auf den Col de Tenneverge und in die Nähe der Pointe de Finive, im dritten Teil wie ein Echo der ganzen Gegend zu den Sauriern und zu den Seen von Emosson. Vor allem die französische Seite mit einer abstrus deponierten Hütte ist eine Zone, die ich jahrelang auf der Karte begaffte, wo ich mich aber schon früher nicht hätte herumtreiben können.

http://www.hikr.org/tour/post3813.html

http://www.flickr.com/photos/8237558@N07/
sets/72157600205110656/detail/

Boulez benutzte den Spruch von Klee, An der Grenze des Fruchtlandes, unter Streichung des ersten Wortes „Monument“; Schönberg komponierte den ganzen vor ihrer eigenen Zeit, der Schönbergs und Klees, in dieses Werk.

Schade, dass der Applaus zugunsten der aufdringlichen Radionachrichten abgewürgt wurde – die Spannung war auch unter Kopfhörern so immens, dass man ihn als Teil der grossartigen Aufführung hätte miterleben wollen. Die Sprecher trampen in den Medien herum so elegant wie Saurierprotze.

(Zusatz 28. 11. 2010: Drei Tage später die Gurre-Lieder nochmals gehört, die alte Aufnahme mit Boulez von 1974, die ich einmal kaufte, weil ich die von Ozawa nicht ausstehen konnte. Sie ist immer noch sehr frisch und zeigt die Soundscapes der überladenen Orchestrierung in klaren Schichten. Die Struktur des ersten Teils ist nicht wirklich kompliziert, aber die Motivmomente schieben sich zuweilen arg in- und übereinander. Mit ein wenig Distanz und trainierten Ohren nach mehrmaligem Hören in kurzer Folge wird es eine leichtfüssige Musik.)

Extrempositionen

Montag, 22. November 2010

Ich habe heute den herumgeisternden Text Der kommende Aufstand gelesen: er ist irrational und gegenaufklärerisch, enthält keinen Gehalt darüber, wie die Gesellschaft gesehen werden soll und erträumt sich als Ziele eines guten Lebens Kindereien mit Schrebergarten, die ins 19. Jahrhundert gehören. Dazu kommt, dass er in einem Priesterton gehalten ist (mehr als fünf Leute haben in diesem Kollektiv sicher nicht mitgeschrieben, und einer davon ist ein Faschist, really, trust me!), der Einfältige dazu verführt, Dinge zu tun, die im mindesten ihr eigenes Leben zerstören. Ich sehe nur Destruktion. Allerdings ist er aus einer Situation heraus geschrieben, deren Wirklichkeit ernst zu nehmen ist: die Notwendigkeit, die Welt und die Gesellschaft radikaler zu beschreiben als es in den Parteiprogrammen geschieht, scheint mir gegeben. Ich wüsste keine Partei, deren Gefolgsmann ich aus freien Stücken sein möchte, obwohl ich immer nach bestem Gewissen wählen und stimmen gehe. Wenn man sich etwas von ihm gelöst hat, nüchtern oder nicht mehr ganz, zeigt der Text auch einen Nutzen, nämlich den, dass auch eine radikale Position sich zeigen muss. Das ist nicht leicht: wegen der existentiellen Redlichkeit muss man zu seiner radikalen Position stehen – aus Vernunftgründen aber auch dazu, dass sie nicht tel quel ins Gesellschaftliche hinausgeschrie(be)n werden kann, sondern in Taten und Gebilden vermittelt ihre teils fetten, teils homöopathischen Spuren deponieren muss.

Hausballet

Freitag, 19. November 2010

Ich schaffe es inzwischen, zwanzig Minuten lang auf den Zehenspitzen durch die Wohnung zu kurven, ohne ein einziges Mal mit den Fersen den Boden zu berühren – im Gegenteil wird zeitweilig angestrebt, sie nur bis knapp über ihn zu senken, um noch mehr Kraft oder Geschicklichkeit an den Tag legen zu können. Bei diesem Laufen gehe ich oft halbwegs in die Knie und schwanke auf groteske Weise, nicht selten in verlangsamten Drehungen eines Derwischs, seitwärts, vor- und rückwärts. Die Absicht ist, auch in wanderunfreundlichen Zeiten wie winters bei unerwünschten Magensymptomen einen Beweis leisten zu können, dass Bewegungsmangel als Ursache nicht in Frage kommt. (Die beschleunigten Attackenfolgen vor zwei Wochen wurden mit einer Diät ohne Fett und Zucker abgefangen, wenigstens diese zwei Wochen lang mit Erfolg.)

Faule Herrschaft

Freitag, 19. November 2010

Haben sich die einzelnen der Scham entledigt und die Peinlichkeiten der Wahlen erfolgreich durchlaufen, installieren sich die PolitikerInnen in ihren demokratischen Behörden auf gleichförmige Weise, in welchem Erdteil und auf welcher administrativen Organisationsstufe auch immer. Vielmals ermöglicht das Internet der Wählerschaft, das Treiben der Gewählten zu verfolgen, wenn nicht auf eigenen Websites, so doch auf denjenigen ihrer Partei. Beide Typen geben ein jämmerliches Bild ab, das von Gefangenen der Werbebranche. Nur schon der Anblick stösst einem auf, rechts zum Kotzen, als wäre man im Schlachthaus, links zum Einschlafen, als surfe man per Zufall auf der Website einer Homöopathin, in der Mitte gleichwie im Webshop eines Elektrikers. So zeigt sich die globalisierte Kultur, und so zeigen sich die Standards ihrer Werbetechniker, die unsere Briefkästen überfluten. Stossend aber im eigentlichen Sinn ist, dass nirgendwo, weder auf den Seiten der Parteien noch der PolitikerInnen, lebenslänglich an der Nase der Selbstüberschätzung herumgeführt, Texte zu finden wären, die übers Tagesgeschäftliche hinausgingen. Auf ihrer geilen Karriere ist ihnen entgangen, in einer Gesellschaft mit Geschichte zu leben, deren Ablagerungen sich als textliche, bildliche und musikalische Werke zeigen, mit denen ein Mensch, der sich kraft seines Verstandes der Kulturindustrie zu wehren weiss, täglich Umgang pflegt – nicht zur Unterhaltung, sondern weil sie das Material sind, das einem erlaubt, sich mit der Welt auseinanderzusetzen. Ausser beim Sozialdemokraten Leuenberger und einer ehemaligen Parteipräsidentin dem Willen nach, die von den Unterhosenjournalisten abgeschossen wurde, gewinnt man nie den Eindruck, es wären Bürgerinnen und Bürger als Spezialisten und besonders Kundige ihrer Gesellschaft gewählt worden, sondern Ruinen, denen man von Klein auf nur Werbesuppe zu löffeln gönnte. Sie haben die Macht auf ihrer Seite, wenigstens da, wo Militär und Banken sie ihnen gewähren, und dürfen sich folglich damit entschuldigen, dass es so alle täten, weltweit. In der Tat gibt es neben den für die Schweiz zu erwähnenden nur wenige Ausnahmen, und sie erlebten alle das Gefängnis von innen – weil sie solches produziert hatten, was die globalisierte Standardausgabe des Politikers ignoriert.

Globalisierung frisst Langeweile und macht tierisch

Donnerstag, 18. November 2010

Die Globalisierung hat viel Negatives. Eines unter vielen ist die Überflutung des einzelnen durch Informationen, ganz und gar nicht allein deshalb, weil die Medienherrscher dem Unterhosenjournalismus aus kommerziellen Gründen freie Hand lassen, sondern weil dann, wenn jedes Ereignis ohne zeitliche Verzögerung an jedem beliebigen Ort der Welt zur Kenntnis genommen wird, das Mass der Aufnahmefähigkeit wie das der Aufmerksamkeit strapaziert werden. Auch wer sich der Unterhaltung entzieht, mit und ohne Grimmigkeit, sieht sich urplötzlich als Teil eines Ganzen, das ihm über den Kopf wächst, weil er für es nicht geschaffen scheint. Auf einem grossen Ackerfeld vor der Stadt fand heute eine Versammlung von Krähen statt, in der die dicht gedrängt sitzenden Individuen wirkten, als ob sie nächstens die Orientierung verlören, weil sie nur noch zu wissen schienen, dass sie hierher gerufen wurden, nicht aber, was sie alle zusammen zu tun hätten und wie sich in solchem Tun die einzelne Krähe zu verhalten hätte. Ihr Vermögen, sich stressfrei den eigenen Impulsen zu überlassen, schien spürbar überreizt. Man kennt es vom dunklen Wald: die Masse der Ereignisse verhindert, den Sinn der Struktur zu sehen. Die Interesselosigkeit der Menschen ist Symptom von Stress und Überreizung, weil ihnen die notwendige Langeweile genommen wurde.

Theorie und Praxis

Dienstag, 16. November 2010

Mit den Symptomen eines unlustigen Körpers naht die Zeit, da man sich Klarheit verschaffen und sogar stückweise Rechenschaft darüber geben muss, wie sich gewisse Entscheidungen und Fährtenwahlen ausgewirkt haben, in welchem Verhältnis zu anderen sie stehen und ob sie möglicherweise nach so langer Zeit heute noch einmal zu ändern wären. Das berufliche Scheitern wird mit dem körperlichen Horror zusammen nur angesprochen, um beide desto eindeutiger auszuklammern, nicht weil sie einer drohenden Selbststilisierung im Wege stünden, sondern zu jeder objektiven Aussage wie auch zu subjektiven über Objektives Zusätze erzwingen würden, die sie zur Unkenntlichkeit verzerrten. Da der Stärke der Interessen für Theorie und Musik früher wie später die Fähigkeiten nicht gleichermassen entsprachen, wurden einstens nur Ziele anvisiert, die etwas vermitteln, ein Gegebenes immer schon voraussetzen und das Schaffen von eigenen Gebilden niemals erfordern würden. Wer sich mit Theorie und den Künsten auseinandersetzt, muss nicht notwendigerweise ein ernstzunehmender Theoretiker oder Künstler sein, auch dann nicht, wenn die Bahn kaum den Bereich der Pädagogik streift. Ein Verhältnis zur Theorie ist aber gegeben, und es muss gehütet werden, wenn das Leben im ganzen nicht als zum Organisieren von Hobbies verkommen gedeutet werden soll.

Sowohl in biederer und seriöser wie auch in tendenziell ausgeflippter und revolutionärer Ausgestaltung leistet der engagierte Intellektuelle einen Verzicht aufs erschöpfende diskursive Darstellen der Theorie, um seinen Einsatz auf die Praxis zu konzentrieren. Auch wenn einem die Welt in einem desolaten Zustand erscheint, sind die Arbeiten dieser Philosophen, Soziologinnen, Schriftstellerinnen und Journalisten in den Medien doch präsent und erscheinen wenigstens aus diesem Grund erfolgreich. Sie stehen mit beiden Beinen in der Welt, und was sie tun, lohnt sich – nur die Lektüre ihrer Werke nicht. Ihre begrifflichen Argumentationen enden in Behauptungen, und ihr Aktivismus missachtet Sartre’s Einsicht in die Schwierigkeit aktivistischer Gruppen, in autoritäre, irrationale umzukippen. Weniger fasslich erscheinen die pragmatischen Intellektuellen, die mehr als die engagierten fast nur an den Universitäten und in den konservativen Büros der Machtinstitutionen wirken. In ihren Arbeiten wäre das eigentlich Falsche und Verschlafene der letzten zwanzig Jahre aufzuspüren, zum Kotzen diejenigen nahe der Fachökonomie mit der Betriebswirtschaft für die Schnösel aus den Villenvierteln und der Volkswirtschaft in ihren täglich wechselnden Theoriekursen, wo jeder Satz für eine Lüge steht: sie verzichten auf die Perspektive der Kritik und darauf, die Theorie als Platz der Auseinandersetzung noch ernsthaft in Erwägung zu ziehen; weder wollen sie die Theorie im ganzen weiterhin darstellen noch implizit auf eine phantasierte Bezug nehmen. Der Status solcher Theorie ist nicht einfach vorläufig, sondern unverbindlich. Um so drastischer wird in diesen Texten das andere der eigenen Position ausgeblendet – es fällt weg, und zwar, kurioserweise, als falsche Theorie, auf die man nicht mehr zurückzukommen hätte. Nicht der dümmste der Alten, Leibniz, behauptete, in nicht klar und eindeutig zu bestimmender Weise hätte jede Position in der Philosophie ihr Recht und stünde nicht ausserhalb der Wahrheit. Das findet kein Gehör, als ob auch hier die heutige Welt, die globalisierte Destruktivität, der Vernunft ins Gesicht schlagen wollte, die eine gewisse Zeit braucht, sich zu entfalten, und nicht beliebig beschleunigt werden kann.

Das Vertrauen in ein begriffliches, an der Gesellschaftstheorie orientiertes Darstellen von Einzelgebilden hat keine Bahn beschrieben, die sich nachzeichnen liesse und zeigt sich als bedauerlichen Fall ins Nichts. Man denkt an ein treibendes Floss im windstillen Ozean als Negativ eines Treutse Bo, eines Bocks in der einsamen Steinwüste – dessen Segelfetzen nur dann vom flauen Wind noch Nutzen ziehen können, wenn dort, wo nichts mehr ist, noch mehr Ballast abgeworfen und der Blick auf noch Kargeres gerichtet wird, immer noch weiter abstrahierend von dem, was das gesellschaftliche Leben und der gesellschaftliche Zusammenhang einem als schlechte Notwendigkeit aufdrängen. Ein solches Terrain wurde im Wallis weit ausserhalb der Dorfränder gefunden, fast schon in der Zone dessen, was peu à peu daran ist, nicht mehr Gletscher genannt werden zu können. Auch diese obersten Flecken sind noch Bestandteil der Gesellschaft, weil ohne sie das Überwintern der Familienkuh, singuläres Kapital der Gesellschaftsteile, unmöglich gewesen wäre. Als materieller Teil der Gesellschaft sind sie Moment der Theorie und zeigen sich in dem, was für die wanderlose Winterzeit zum Thema der Gletschersoziologie wird; sie stehen herum als nichts weniger denn ihr Schlüssel: Ställe.

Kreuz & Kruzifix

Sonntag, 14. November 2010

Ich brauchte 99% meiner Lebenszeit, um vom Unterschied zwischen dem Kreuz und dem Kruzifix Kenntnis zu nehmen. Das Kruzifix kenne ich bewussterweise nur von Achternbusch, ohne den Film, der offenbar einen gut funktionierenden Wecker enthält, selbst gesehen zu haben. Erst in den letzten Tagen dämmerte mir, dass es sich um zwei verschiedene und eindeutig definierte Formen handelt, von denen eine nur einer einzigen Konfession zukommt, die andere aber mehreren, in unbestimmter, von mir noch nicht durchschauter Weise auch wieder der ersten. Den Kreuzen begegne ich seit jeher auf Hügeln und Bergen, deutlich mehr im Wallis, aber nicht unmöglicherweise auch in reformierten Gebieten wie dem Berner Oberland und der Waadt. Ich hatte sie nie als etwas empfunden, zu dem ich mich negativ verhalten sollte, ausser bei Neubauten, die mit einer Volksparty verbunden waren und so die Ruhe infrage stellten, die von ihnen beim Wahrnehmen ausgeht, besonders stark und leicht berührend eben, wenn sie Spuren des Alterns aufweisen. Ein einziges Mal empfand ich körperliche Widerstände, weil ich die Installation als Zumutung verspürte und es sich entgegen der Tradition, so wie ich sie damals im Gedächtnis hatte, nicht um ein Kreuz, sondern um ein ungetümes Kruzifix handelt, auf dem Kleinen Matterhorn. Der Gegenstand dort oben ist in mehrfacher Hinsicht falsch, weil er an aufdringlicher Stelle plaziert wurde, viel zu gross ist und man gar nicht auf dem Berg steht, sondern selbst schon auf einer Installation, seit dem Austritt aus der Bergstation. Das Kruzifix dort oben erwartet nicht BersteigerInnen, um ihnen Ruhe zu verschaffen, sondern die finanzkräftigen Massen des globalisierten Tourismus, um den einzelnen klar zu verstehen zu geben, auf welchem Hintergrund hier Ordnung herrscht. Mehr Bauchweh machen neuerdings Meldungen, nach welchen es im Wallis gesegnetes Recht von Sitten sein soll, dass die Dorfpotentaten diejenigen, die ihre Kinder bilden und ausbilden, damit sie fähig werden, sich mit den Wunderbarkeiten & Wundersamkeiten der Welt auseinanderzusetzen, in die Gletscherwüste schicken und symbolisch ans Kreuz nageln, um, nicht symbolisch, weiterhin damit auf ihre Kinder einschlagen zu können. Was geschieht und mit welchen Tatsächlichkeiten, weiss ich nicht. Aber ich weiss jetzt, dass es solche gibt, die mit Kruzifixen erzogen wurden, und dass sie möglicherweise mehr daran zu tragen haben, als ich bis anhin hätte vermuten können.

Dusapin, nicht Mozart

Donnerstag, 11. November 2010

Gerade im Théâtre des Champs-Elysées (Aufnahme vom 8. Oktober), auf France Musique, mit Pascal Dusapins Passion (2008), einer Oper mit reflektierendem Bezug zu Monteverdi, leicht und sehr feingliedrig, ohne alles Fett der Massenoper. So hätte sich die Musik nach Monteverdis Tod entwickeln sollen, nicht hin zu Mozart. Hoffentlich gibt es das Stück bald noch einmal zu hören, wegen des Orchesters und einigen SängerInnen, Ensemble Modern und Vocalconsort Berlin, vielleicht auf einem deutschen Sender. Und hoffentlich gibt es auch die anderen Werke dieses erst heute entdeckten Komponisten zu verfolgen. Weil diese Musik so leicht erscheint, dünkt es mich, ich verfolge sie in ihren Vielheiten eher als dass ich Komplexe zu entziffern hätte.

Warensammlung heute

Donnerstag, 11. November 2010

1989 bis 1991 hatte ich ein richtiges Einkommen, das die Investition in eine Stereoanlage erlaubte. Der Verkäufer schätzte die Lebensdauer der ausgewählten Geräte, Technics AA, auf mindestens acht bis höchstens zwölf Jahre ein. Vor zehn Jahren musste der CD-Player ausgewechselt werden, vor vier Jahren begannen Kontaktstörungen am Volumenregler, und vor zwei Jahren verabschiedete sich eine interne Batterie des Tuners mit der Folge, dass das Display nur noch äusserst schwach ablesbar war und der Senderspeicher alles löschte, wenn die Stromzufuhr länger als eine Stunde wegfiel (das neu Abspeichern der benutzten elf Sender dauerte jeweils gut eine halbe Stunde). Die Lautsprecher werden seit zehn Jahren nicht mehr eingesetzt, da das Haus im Innern keine Isolation hat und folglich teuflisch ringhörig ist. Der Funkkopfhörer Sennheiser HDR 140 seinerseits verlangt eine eigentümlich präzise Einstellung der Lautstärke – genau diese konnte der Volumenregler einfach nicht mehr finden: immer war das Signal für den Kopfhörer zu laut oder zu leise, so dass ein Scherbentonhaufen entstand, in dem nichts Musikalisches mehr herauszuhören war.

Hat man sich entschieden, dass ein Verstärker und ein Tuner neu angeschafft werden müssen, traut man sich der Wahrnehmung der Warenwelt nicht mehr. Vor dreissig Jahren ist man in irgendein Musikgeschäft oder – billiger – in ein Warenhaus für Unterhaltungselektronik spaziert, hat fast Hunderte von Anlagen entweder direkt ausprobiert oder wenigstens beäugt, diverse Kataloge durchgeblättert und Geräte aussortiert, die in Qualität und Preis kontinuierlich einen Bereich ausfüllten, der von sehr billig und schlecht bis weit ausserhalb des Rahmens der Bezahlbarkeit verlief. Heute kommt mir die Schweiz wie die einstige DDR vor, nur von wenigen Geschäften beglückt, die man besuchen kann, und nicht ein einziges bietet das an, was man sucht, je als Einzelstück einen Verstärker und einen Tuner für eine sogenannte Stereoanlage, nicht für ein – grosse Kotze! – Heimkino. Die Discounter führen nur noch kleine Gesamtanlagen, in kleinem Format und schlechter Qualität (ob sie wirklich schlecht ist, weiss ich nicht: als alter Sack fühlt man sich wie ein Meister der eigenen Erfahrungen (aufs Risiko hin, als Bock seiner Vorurteile dazustehen)). Wird man auf das einzige in Bern auffindbare Geschäft mit Musikanlagen fürs Zuhause hingewiesen und folgt dieser Fährte, wird man von der Einsicht erschlagen, dass der billigste Tuner dort mehr als das Dreifache dessen kostet, was man ausgeben kann. Die Lage ist ernst, der Weg ins Netz der alleinig offenstehende. Siehe da, zwei Geräte finde ich, die meinen Wünschen und dem Kinderportemonnaie zu entsprechen scheinen: X4-Tech TU-1000 (erinnert an den alten Computer im Ircam, 4X) und Pioneer A-109. Wie kommen die Möbel, eines drei und eines vier bis fünf Kilo schwer und sehr gross verpackt beide, ins Haus und in die Wohnung nach oben? Eine Lieferung also per Post, und angekreuzt wird bei der Bestellung für Erstkunden per Nachnahme. Da ich vor fünf Jahren die Erfahrung machte, dass bei einer ähnlichen Bestellung für ein Computerteil die Lieferung bereits am anderen Tag eintraf, blieb ich – das war die letzte Periode mit den leuchtenden Schönwettertagen – zu Hause und passte den Pöstler ab, da er sonst die Ware bei der nächstliegenden Poststelle, zehn Minuten Fussweg entfernt, abholbereit deponieren würde, und das käme aufs Gleiche hinaus wie der Kauf der Geräte direkt in einer Filiale der webzentrierten Vertriebsfirma. Alle die schönen Tage wurden verspielt und am letzten mit einem Brief im Kasten gekrönt, der sich für die Bestellung mit einem Einzahlungsschein bedankte, dessen Bearbeitung meinerseits als Vorauszahlung unverzüglich dann den Versand auslösen werde. No Panik, aus der Fassung bringt uns das nicht. Eine Woche später sind die Pakete im Parterre, ohne Schnur, ohne Haltegriffe. Ich weiss nicht, wie Titanen fuhrwerken, aber ich brachte die unhandlichen Kästen nach oben, sämtliche alten Teile aus dem über zwanzigjährigen, mit Rädchen unterlegten Turm auf den Tisch (nachmittags je einzeln zur nahgelegenen Sonderabfuhr) und die zwei neuen mit dem CD-Player zuunterst flugs wieder dahinein. (Einarmig geht immer flott, wenn man die Arbeitsstelle so zurechtrückt – in diesem Fall auf den Rädchen eben – dass die Zielposition mit einem Knie erreichbar ist und die zweite Hand ohne Armbewegung Unterstützung leisten kann.) Siehe da, was morgens um Neun eintraf, funktionierte wie erwünscht kaum später schon als am Mittag. Der Klang in den Hörern erschien mir gewöhnungsbedürftig, aber nicht skandalös. Doch am selben Abend wurde klar, dass ein Fehler vorliegen muss, weil ich eine Sendung wegen Störgeräuschen nicht zu Ende hören konnte. Anderntags gingen die Tests weiter. Wenn nach einer gewissen Pause die Akkus des Hörers wieder geladen waren, tönte alles gut. Nach einer halben Stunde kamen auf France Music die ersten Knitterstösse, auf Bayern 4 Rauschen. Nach zwei Stunden war auf keinem Sender mehr ein Zuhören möglich, mittags etwas weniger entschieden als abends. Als ich dann einmal nicht mehr weiter radiohören konnte, probierte ich zum ersten Mal eine CD aus: wunderbar der Klang! Kaum zu übertreffen, deutlich und schön in allen Höhen. Ich machte für den schlechten Radioempfang drei Fehlerquellen aus: Störungen aus Nachbarwohnungen mit eigenen Funkkopfhörern, schlechte technische Standards im Kabelnetz, eine schwache Verdrahtung im Tuner – Hypothesen, die weniger kühn sind als verzweifelt. Am Internet suchte ich alle drei Geräte wie Kopfhörer, Verstärker und Tuner ab, fand aber nirgends eine Kritik an einem der Teile, die mich hätte weiter bringen können. Dann merkte ich, dass der Ton wieder besser wird, wenn ich die Antenne bei der Buchse ein wenig herausziehe und drehe. Ich las alles Deutschsprachige über FM-Antennen und fand bei einem Hersteller eine seltsame Angabe, das Schirmungsmass in Dezibel (entspricht möglicherweise dem Leitungswellenwiderstand und der Impedanz in Ohm), mit einem langen deutschen S, das klarstellt, wo ein Produkt herkommt, das in der Schweiz hergestellt sein möchte. Alle FM-Kabel der besuchten Firmenwebsite haben den Wert >75 db oder besser, nur ein Kabel hat den geringen von >50 db. Endlich begann die Hypothesendämmerung: Meine Geräte sind zwar neu, das FM-Antennenkabel aber uralt, über zwanzig Jahre alt. Ein neues behauptet, aus der Schweiz zu kommen, hat aber das verräterische S, mit einem Wert von >90. Wer hätte das gedacht: alle Sender sind nun gut zu hören (France Musique abends zu 90%), die Tonqualität nicht wie die Tage zuvor mit dem alten Kabel sondern fast wie direkt ab CD. – Gestern noch der letzte Kauf in dieser Sache, neue Ohrpolster des Kopfhörers, zu tätigen erst nach einer kleinen Reise durch die Schweiz (an einen Ort mit Blick auf Vrenelis Gärtli (wo Fenek erst gerade runtunterfiel)), da kein einziges anderes Geschäft im Land diese Kleinigkeit noch anbieten würde. (Auf der Rückreise im vollen Zug herabgestürzt wie ein Meteorit aus weit entfernten Zeiträumen kurz vor Abfahrt die allerschönste Frau, noch nie von einem Menschenmann gesehen, direkt vis-à-vis de la bête auf den letzten freien Platz, direkt am Fenster in einem sechsplätzigen Abteil: ja, sie kann es, das Katastrophische all der Monster & Minister aufwiegen, die den freien globalen Markt diktieren, nur um ihn zu zerstören, indem sie alles Geld aus seinen Bahnen abziehen – zur Hälfte allein schon durch ihre lebenslustige, in Neugier weich rundgewölbte Zungenspitze, hellrosa-weiss & leuchtend unter einer Aura in abgedämpftem Gelb-Rot, mit dem sie, ihrer Wirkung gewiss, die Lidschatten noch im Aussergalaktischen tönte.) Uff, geglückt – und ab nun zum Überwintern in die weltweiten Konzertsäle zuhause, nahe immerzu beim Sitzplatz fünfte Reihe Mitte!

Spass muss sein

Donnerstag, 11. November 2010

Gar lustig ist das Mauswandern, von einer Cam zur anderen, noch lustiger, wenn man’s mit der Kunst der Musik bereichert. Aus einem alten Schlager zu Bern tönte es einst:

„Spass muess sii
stellet d’Schneekanone ii.“

Das Frutigland ist diese Saison ganz hurtig und auf der Metsch am Donnern noch vor Mitte November:

(Für die FreundInnen mit beschränkter Einsicht ins Volkssprachige:

„Spass muss sein.
Winterknechte der Aktionäre
im Tourismussektor:
Rohr frei!
(Rausaussengespuckt die weisse Gülle!)“

(So hat Arno Schmidt enddli wieder einen Auftritt haben dürfen.))

Wie zu betrachten

Dienstag, 9. November 2010

Das Zentrum der Musik ist ihr Schöpfer, der komponierende Mensch. Er entäussert seine Werke, damit auch andere in sie Einsicht nehmen können. Macht er es schriftlich, nimmt diese Form der Entäusserung selbst auch Einfluss auf die Musik. Liegt sie erst einmal stumm vor, kann sie von einzelnen gelesen werden; realisiert wird sie erst im Spiel durch weitere, andere. Und doch kann sie in der Aufführung, die ihr notwendig scheint, Schaden nehmen. Eines ihrer Ideale ist die reine Notation, ein anderes die Interpretation, die als ideale bewundert wird (durch kritisches Beschreiben und möglicherweise durch physikalische Archivierung), ein drittes der hörende Mensch, der das Werk im Verlauf des Zuhörens quasi neu nachkomponiert. Und alle diese Ideale sind gewöhnlicher Bestandteil eines historischen und gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs, in dem sie geschehen. Es macht nicht die geringste Mühe, sich mit der Musik auseinanderzusetzen, ohne dass man wüsste, wann man in einem Werk oder in einem Konzert mit improvisierten Anteilen die Musik wahrhaft begriffen hätte. Entscheidend ist nur, dass man sich bemüht, ihr mit Wahrhaftigkeit die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie zu verdienen scheint. Viel Wagnis ist nie dabei.

Mit den Bildern ist es nicht viel anders, auch dann nicht, wenn man sich in der allgemeinen Bilderflut einer besonderen ausgesetzt sieht. Auch wenn es einen objektiven Inhalt gibt, einen Menschen hinter jedem erstellten Fotobild und sowohl einen engen wie einen erweiterten Zusammenhang, in dem das Bild steht, ist die Frage, wo und auf welche Weise das Wesentliche des einzelnen Bildes aufzustöbern sei, unecht, aufgesetzt, überflüssig. Die Spontaneität in der Betrachtung ist schon Kraft und Garantie genug, dass der sehende Mensch nicht irregeführt wird. Der Betrachter ist frei ausser in dem, dass er sich betrachten muss. Ist sein Aufmerksamkeitspotential klein, so sieht er sich als schwacher, der von jedem Inhalt absieht und sich aufs Technische bescheidet; hat er Lust auf Unterhaltung, gibt er sich dem Spiel der Kontraste, Formen und Farben hin, solange sie ihn reizen; er kann auf denjenigen Ebenen vergleichen, wie es ihn gut dünkt, derjenigen des Fotografierens oder der selbst erlebten beziehungsweise noch zu erlebenden Bildinhalte – und er kann, sofern die Zeit ihm gegeben ist, die weiteren und engeren Kontexte in seiner Aufmerksamkeit berücksichtigen, die immer schon objektiv von den Inhalten und subjektiv durch die Form der Präsentation gegeben sind. Wie in der Musik ist es unsinnig, ein Ideal herauszulösen und die anderen Arten und Weisen des Betrachtens dadurch aggressiv in Frage zu stellen.

Fiktionale Destruktivität real

Mittwoch, 3. November 2010

Ich gehe nicht ins Kino und schaue nicht Fernseher, kann keine Sympathien für diese Medien aufbringen. Im Traum lese ich den Buchrücken eines bekanntermassen brutalen Romans mit rotem Buchumschlag. Ein paar Zeilen geht es gut, dann dämmert mir, dass ich in eine Realität hineingezogen werde, aus der es kein Entrinnen geben wird. Ich halte einen Arm vor die Augen und überfliege den Text, der eine Seite nicht überschreitet. Es entsteht eine ungeheure Spannung, die sich entäussert und ausserhalb meiner Existenz zuerst wie ein Wetterleuchten, dann in unmittelbarer Umgebung eine laute Welt der passierenden Zerstörung Wirklichkeit werden lässt. Es geht jetzt ums Entscheidende: was geschieht, wenn ich den nächsten Satz lese? Nochmals, es ist nicht das Buch selbst, in dem ich am Lesen bin, nur seinen Umschlagstext will ich zur Kenntnis nehmen. Ich bin überzeugt, getötet zu werden, wenn ich den nächsten Satz lese, der nicht der letzte des Buchumschlags ist, sondern einer aus der Mitte dieses grauenhaften Werbetextes. Es scheint jemand in der Nähe zu sein, mit dem ich das Problem besprechen will. Es herrscht ein ungeheurer Lärm in einem riesengrossen Bombenhagel. Soll ich lesen? Was für eine Gefahr! Aufwachen ist besser. An mir ist etwas blöd.