Archiv für den Monat August, 2012

Wittener Tage für neue Kammermusik

Donnerstag, 30. August 2012

Soeben live auf SWR2 Konzerte der Wittener Tage für neue Kammermusik vom 27. – 29. April 2012 im Saalbau in der Rudolf Steiner Schule und im Märkischen Museum Witten.

Marko Nikodijevic: gesualdo dub/raum mit gelöschter figur (2012), Musik für Klavier und Ensemble, Pauline Post (Klavier), ASKO-Schönberg-Ensemble, Leitung: Reinbert de Leeuw

Mauro Lanza: Der Kampf zwischen Karneval und Fasten (2012) für 2 Streichquartette, Arditti String Quartet, JACK Quartet

James Clarke: 2012-S (2012) for two string quartets, Arditti String Quartet, JACK Quartet

Stefan Wirth: Enallagai (2012) für Ensemble, Collegium Novum Zürich, Leitung: Titus Engel

Giacinto Scelsi: 4 Incantesimi (um 1973) für Stimmen, Bläser, Schlagzeug, Klavier und Ferninstrumente, WDR Rundfunkchor Köln, WDR Sinfonieorchester Köln, Experimentalstudio des SWR, Leitung: Rupert Huber

Klaus Ospald: Sopra un basso rilievo antico sepolcrale (2008-09/2011) für Chor, Basstuba, Schlagzeug und Live-Elektronik, WDR Rundfunkchor Köln, Hans Nickel (Tuba), Schlagquartett Köln, Experimentalstudio des SWR, Leitung: Rupert Huber

Brave neue Musikstücke ohne Ambition, etwas in den Dingen weiterzutreiben. Am besten angekommen zwischen meinen Ohren ist gesualdo dub von Nikodijevic, am schlechtesten die Moderstücke Scelsis.

Arnulf Herrmann: Wasser

Mittwoch, 29. August 2012

Gestern auf Bayern 4: Arnulf Herrmann, Wasser, Musiktheater in 13 Szenen, Libretto von Nico Bleutge, mit Sarah Maria Sun, Boris Grappe, Sebastian Hübner, Jörg Deutschewitz, Georg Gädker, Tobias Schierf, Schola Heidelberg, Ensemble Modern, Leitung Hartmut Keil, Aufnahme vom Juni 2012 an der Münchner Biennale.

Die Designeroper Wasser zeigt schnell schon ihre problematischen Seiten im thematischen Gehalt und in der musikalischen Sprache. Eine eigentümliche Schönheit verzaubert, indem gruppierte Signaltöne nicht nur als gehörte Zeichen auf eine Deutung pochen, sondern durch mikrotonale Minimalabweichungen als aufgespaltene, nichtsdestotrotz einheitliche Formgebilde wirken, die ihre Plätze sowohl im hohen wie im mittleren und sehr tiefen Tonbereich einnehmen. Neben ihnen existiert nur noch ein einziges weiteres Formgebilde, simple Tonreihen, die wie Luftblasen im Wasser nur aufwärts zum Zuge kommen. Der kompositorische Reduktionismus ist deswegen fragwürdig, weil durch ihn das Hören einfach zu schnell auf eine Metaebene abgleitet, wo es sich in zunehmendem Masse missmutig fragt, was solche exceptionelle Schönheit soll, reine aufsteigende Tonleitern, die zwischen reine Kleingruppen von Tönen gestellt sind. An die Diversität von Rückgriffen auf die Tonalität hat man sich längst gewöhnt und befürwortet tapfer die Meinung, nicht alle gerieten ins Fahrwasser des Neoklassizismus. Das Problem ist anders. Es ist nicht die Schönheit in den einzelnen Klängen, die nervt, weil sie nur durch den Bezug zur Tonalität ermöglicht wird, sondern die Weigerung, in dieser aus dem Archiv reaktivierten Tonsprache Bewegungen und Alterationen zuzulassen. Wie der restringierte Code eines Ungeistes nur immer sagen kann und vom Anderen gesagt hören will, dass etwas gut sei oder schlecht, vermeidet Herrmanns Kompositionstechnik jedes Modulieren oder Abdriften in unvorhergesehene Gebiete, um ja nicht den Anschein zu erwecken, es könnte ein Teil des Werkes oder gar mehrere Momente anders sein als schön. Erst nach dem Verklingen dieses neuesten Stückes aus der Sparte Musiktheater hat man das Gefühl, eine Stunde lang frommen MusikantInnen zugehört zu haben, die erst gerade gelernt haben, diejenigen Noten auf ihren wunderschönen Instrumenten zu spielen, die ausser einem kleinen, mikrotonalen Pfeil nach oben oder unten noch keine Vorzeichen nötig haben. Gleich wie in der Musik fühlt man sich auch beim Erzählgeschehen wie an der Nase herumgeführt, und auch hier missfällt ein eigentümlicher Ästhetizismus. Wegen der genannten zwei Formgebilde sah ich mich ständig verführt, an Selbstmordphantasien zu denken, gegen die ich insbesondere in den Träumen zu kämpfen habe – gerade wie dann auch wieder in der Nacht nach dem Konzert. Doch nichts im Vokabular, dem man lauscht, gibt einem Hinweise, in welche Richtung zu denken wäre, denn es ist von Anfang bis zum Schluss, der nicht musikalisch, sondern mit dem auf der Bühne gesprochenen Wort „ausgezeichnet“ beschlossene Sache ist, eines aus der Welt der Dekoration und der willkürlichen Werbung. Statt das kritische Bewusstsein in Schwung zu setzen und das Nachdenken über existentielle Fragen anzuheizen, schläfert diese Oper ein. Das Leben immer schon nur als vergangenes, seine Geschichten Sedimente in einem Tümpel.

Zimmermann: Die Soldaten

Samstag, 25. August 2012

Soeben live auf Ö1 Bernd Alois Zimmermann, Die Soldaten, Oper in 4 Akten, Ensemble Scala Mailand (?), Wiener Philharmoniker, Dirigent Ingo Metzmacher, aufgenommen am 20. August 2012 in der Felsenreitschule im Rahmen der Salzburger Festspiele.

Wenn andere Leute neuerdings der Meinung sind, dieses Werk sei das beste musiktheatralische Stück, die beste Oper des 20. Jahrhunderts, schliesse ich mich ihr nach dieser unüberbietbaren Interpretation in einer perfekten, unter Kopfhörern und ohne Bild bis ins letzte Detail duchhörbaren Aufnahmetechnik bedingungslos an. Kein Moment, wo man nicht mit höchster Aufmerksamkeit der Musik und den erzählerischen Ereignissen nachspüren wollte.

Das Problem dieses Meisterwerks ist allein der Titel, der eine falsche Fährte legt und einem mit der Welt der bösen Militärsoziologie und des regressiven Kriegsfilms droht. Mit dem Titel Marie, den der Internationale Musikrat IMC rechtskräftig zu beschliessen hätte, wäre die alte und innere Nähe zum Wozzeck wiederhergestellt und sowohl das Missverständnis wie der Missmut in der Erwartungshaltung des allgemeinen, noch nicht informierten Publikums endlich aus dem Weg geräumt.

Postüberfälle

Mittwoch, 22. August 2012

Ich wache auf, weil es sich nicht mehr weiter verheimlichen lässt, dass ich an mindestens einem schweren Postüberfall mit Gewalt mitbeteiligt war, in einer Szene nicht ohne surrealistischen Beigeschmack, wo ich in weiter Ferne einen Vogel ausmache, der sich an einer Hausmauer tarnt und der mir gehört.

Dummes, knechtisches Unbewusstes, das nicht wahrhaben will, dass man einen brennenden Arm haben kann auch ohne Schuldursache!

Schamanismus

Dienstag, 21. August 2012

Es kann vorkommen, dass sich einem ein eigener Körperteil verändert und es einem lange Zeit verborgen bleibt, in was für eine Zielgerade der eigenmächtige Prozess schon eingespurt ist. Und es kann vorkommen, dass einem dabei Titanstäbe zu erscheinen beginnen wie Brennstäbe in Tschernobyl oder Fukushima, nicht mehr als Materialien, die für einen geschaffen wurden und da zur eigenen Energieumsetzung sein sollten, sondern als eigentliche Momente einer Logik des Zerfalls. Gestern betrat ich spontan eine Apotheke und kaufte mir anstelle einer flüssigen Droge aus dem Wallis eine Tube Crème, nach einer guten Beratung Hemeran von Novartis. Schnell nach Hause, der Arm wie seit langem ein Mal mit dem Handgriff am Hosengurt arretiert, ein anderes aufs Einbeinstativ gelegt, das durch die Riemenhalterung gestossen ein Tragen des Rucksacks ohne jede Schulterauflage erlaubt. Nicht nur klappt der Aufstrich auf das monströse, verfärbte Gebilde, das kein uneingeweihter Arzt ohne Schock zu beäugen vermöchte – nein, nach zwei Sekunden ist der Vulkanausstoss ausgebremst. Das Mittel wirkt, und zwar wie ein unverhofftes Zaubermittel, an dessen Existenz keiner je gedacht hätte, ein scheinbar vernünftiges Ich wie meines seit Beginn des Verfallganzen auf dem Säntis vor einem halben Jahr jedenfalls nie. Doch wo liegt der Zauber verborgen? In einer Substanz, in einem exzentrischen, schamanistisch überbegabten Menschen der Forschung oder in der Logik der Forschung insgesamt, die man nur lange genug ihrem Treiben überlassen muss, um alle Erfindungen und Entdeckungen geniessen zu können, die die Menschheit sich wünscht? Der Name Novartis, den man wegen der schieren Grösse dahinter nur in kritischem Sinne auszusprechen gewillt ist, bekommt in einer solchen Situation des Glücks eine eigentümliche Färbung, die auch auf die Gesellschaft im ganzen von ihrem Glanz verschenkt: dem gewöhnlichen Bürger ist es nicht durchschaubar, wie die Finanztransaktionen der grossen Wirtschaftskomplexe funktionieren, aber nur sie schaffen sporadisch und als Zusätze Bedingungen, in denen neue medizinische Materialien aufgespürt werden können, auf die heute viele mit trüber Sehnsucht nur zu schielen wagen.

Zusatz nach vier Tagen: Die Wirkung der Salbe besteht weniger im Dämpfen der Schmerzen als im Erzeugen eines wüsten Ausschlages.

Zusatz vier Wochen später

1. August Gurten

Donnerstag, 2. August 2012

Als ich in der Spätdämmerung gestern zum Fenster hinausschaute, sah ich just über dem Gurten den Vollmond. Gibt es dieses Jahr ein Feuerwerk? Teufel, direkt unter dem Vollmond? Ich machte trotz launigen Widerständen die Kamera bereit, auf dem Einbein, das sich auf den Sims stellen lässt, weil der Gurten nur wenig rechts am Ende des Indermühlewegs steht und also nicht fotografisch aus dem Fenster heraus erreichbar wäre. Viertel vor zehn, zehn Uhr, nichts, ausser dass sich eine fette Wolkenschicht vor dem Mond plaziert. Je nun, gibt es halt ohne Mond als Fingerübung ein paar Feuerwerksbilder. Doch nein, es geschieht nichts, und in den letzten Jahren hatte es auch nicht jedesmal eines gegeben. Als das Fribourger Gewitter Bern erreichte, nicht ohne Windböen, dachte ich, dass bei sochen Verhältnisse sowieso aus keiner Kanone gefeuert würde. Es war zwanzig nach zehn Uhr, und ich erwachte erst um vier Uhr wieder. Dann las ich in der Zeitung, dass ein halbstündiges Feuerwerk zehn Minuten nach meinem Abbruch stattgefunden hätte, ohne mich und ohne Vollmond.

Hier ein Probebild für die manuelle Belichtung und Fokussierung, der Mond ein wenig grösser als das Gurtenlicht unten Mitte und die am linken Rand schon stark abgeschwächten privaten Raketenlichter.

Als wäre 10 = 1

Donnerstag, 2. August 2012

Ich wache in der Meinung und im Gefühl auf, im Traum auf der Flucht gewesen zu sein und mich immerzu versteckt gehabt zu haben oder auf der Suche nach einem Versteck gewesen zu sein, habe aber als letztes Bild einen Kühlschrank, aus dem soeben eine junge Gemse genommen wurde, die in einer Papiertüte steckt, so klein und beschaffen wie sie die Bäckereien für die kleinen Backwaren benutzen. Sogleich aber kommt mir die tatsächliche Flucht in den Sinn und wie ich mich in der eigenen oder in einer fremden Wohnung vor Verfolgern, die mir offenbar bekannt sind, verstecke. Stück für Stück zeigen sich aber die anderen Traumsequenzen, keineswegs in der abgelaufenen Reihenfolge wie sie jetzt hier dargestellt werden. Auf der Flucht muss ich aus der Wohnung, befinde mich auf der Strasse, wo ich auf anderen Strassenstücken mindestens eine böswillige Person aus dem wirklichen Leben sehe, wie sie mich aufsuchen will, wo ich aber alsbald einer Gruppe religiös Gläubiger aus einem anderen Erdteil den nackten Arsch zeige – was ich nicht zuletzt wegen des Schamfluchs, der auf der Beschaffenheit meines Körpers haftet, niemals tun würde, ganz abgesehen von den moralischen Impulsen, die mich nicht zu einer solchen Handlung anzutreiben vermöchten. Die Gruppe von Leuten, knapp zehn Personen beiderlei Geschlechts und Alters, schütteln den Kopf über mein Gebaren, vielleicht sagt jemand unter ihnen, man sollte mich schlagen, das ist aber ungewiss, und ich befinde mich in einem anderen dörflichen Quartier, wo man auf der Strasse fast wie auf dem Markt einkaufen kann. Ich wähle unter verschiedenen Fleischkäsesorten, zum Bezahlen ist niemand da, und doch bin ich plötzlich an einer Kasse, reklamiere, weil andere vor mir bezahlen können, nehme aber sofort meinen Protest zurück, „klar, ich habe mich geirrt“ – „kein Problem, Sie!“, will nun essen gehen und gerate in ein Waldstück, sehr steil, gerade an der oberen Waldgrenze, wo es Gemsen zu fotografieren gibt. Ich gehe in Position, da kommt ein Fuchs, gleich gross wie die jungen Gemsen, packt eine, und es gibt einen wilden Kampf, in dem beide durch die Luft wirbeln. Der Fuchs verbeisst sich ins junge Tier, und sowohl die Kämpfenden wie ich selbst rutschen den Hang runter, als ob in ihn ein Schnitt gezogen worden wäre und der Hang selbst ins Rutschen geraten wäre. Nun sind die Tiere auf meiner Höhe, benommen oder bewusstlos, und ich packe beide in kleine Tüten aus der Bäckerei, öffne einen Kühlschrank und schliesse sie dort ein.

Wenn nicht der Traummechanismus überhaupt itiotisch ist, ist das der Traummechanismus eines Vollidioten, nichts, das man fürderhin in Rücksicht behalten sollte. Man denkt beim Aufwachen und fühlt es intensiv, soeben einem Alptraum entronnen zu sein, doch zwischen dem Alptraum und dem Aufwachen geschehen beliebig viele Episoden, die willkürlich, also dumm, aneinandergereiht sind.