Das Falsche in der Klassik
Freitag, 30. Juli 2010Obwohl von einem Vorwärtsgehen in der Musik heute, soweit sie in den Medien überhaupt verfolgt werden kann – und das deutschschweizer Radio DRS2 verzichtet seit zwanzig Jahren hundertprozentig darauf – nicht die Rede sein kann, ist die Musik gesellschaftlich lebendig wie nie zuvor. Das ist den Interpretationsleistungen zu verdanken, die Werke aus Zeiten wieder aktuell werden lassen, die von unserer ferner nicht sein könnten, ihre Leistung aber in einer Weise vollbringen, die die Momente der unseren uns undringlich erscheinen lassen und die Werke selbst so, als ob sie in unserer Gegenwart erschaffen worden wären. Das Zweite Klavierkonzert von Beethoven Opus 19 mit Paul Lewis und dem Symphonieorchester der Stadt Birmingham unter Andris Nelsons gestern live via BBC auf Radio France Music war genau eine solche Aufführung, in der man jede Sekunde hätte sagen wollen, so etwas Bestes hat es noch nie gegeben wie dieses perfekte Musikstück, und dies in einer perfekten und zu keinen Zeiten mehr zu übertreffenden Interpretation. Im Zusammenhang eines solch absonderlich tief wirkenden Erlebnisses fällt es nicht schwer, die Momente aufzulisten, die objektiv fehlen, wenn die Musik als Zeugnis unserer Gesellschaft – derjenigen meines Lebens – gelten soll, ohne dass in der kritischen Aufzählung Spuren der Ablehnung eines Veralteten wirksam sein müssen. Was Beethoven gesellschaftlich erlebte und als Momente der Gesellschaft zur Erfahrung bringen konnte, musste Dämme überwinden, die wir nicht mehr kennen. Die vermittelten Ereignisse geschahen nie ausserhalb eines geografischen Radius, den wir als eng bezeichnen würden, und trafen zu einem Zeitpunkt ein, da es uns nur noch langweilen würde; die Nachricht war verzerrt und unverlässlich, als ob ein Kind naturwissenschaftliche Sachverhalte erklären würde. Desgleichen im Ungefähren mussten Entscheidungsprozesse reflektiert und diskutiert werden, die im nahen Raum geschahen, durch die gesellschaftliche Hierarchisierung aber dem Einzelnen gänzlich intransparent erschienen. Auch wer mit Widerspruchsgeist gesegnet war, war in den Konventionen, die von der Macht verlangt wurden, gefangen. Nicht zuletzt war jede Tätigkeit, jede wissenschaftliche, wirtschaftliche und künstlerische Praktik mit dem Mangel konfrontiert, der in allen Bereichen eine Reduzierung der Mittel aufs Nötigste voraussetzte. Das kennen wir nur in abgeleiteten Varianten und im ganzen eigentlich nicht. Auch mittellos gibt es Zugänge zu Aktivitäten, in denen von Mangel nicht die Rede sein kann, und sind Arbeiten nur gut genug geplant und geschickt vorbereitet, sind von vielen Seiten Zusatzmittel ins Spiel zu bringen, die auch schwierige Projekte am Laufen halten; desgleichen mögen Konventionen und Regeln sporadisch zwar stören, doch ihre Infragestellung wird von der Gesamtgesellschaft eher gefördert als im Keim schon abgewürgt. Die schlimmsten Mauern, die seit Beethovens Zeiten gefallen sind, waren in die Landschaften gezogen der ganzen Welt, sowohl räumlich wie zeitlich. Wir sind sie ledig, zumindest in der gegenwärtigen Mentalität des wachen Gesellschaftsmenschen unwiderruflich: wir wissen genau, was geschieht, in welcher Weise wo und wann, und wir wissen es jederzeit, sofort, und vermittelter – verlässlicher – nur kurze Zeit später. Und wir kennen sowohl die grossen wie die kleinen Zusammenhänge, weil die Wissenschaften das Wissen in vielen öffentlichen Wiederholungen zugänglich machen. Die Stellung des Einzelnen zur Gesellschaft – das einzelne Leben – ist um vieles anders geworden. Das Falsche, das es nur selten mehr an sich selbst erlebt, erfährt es in einem Zusammenhang, in dem der Einzelne als bewusster, vernünftiger Akteur tätig ist; es ist nichts, das zur Ferne gehörte, sondern bezieht sich direkt auf das Wesentliche der Gesellschaft, die als ganze wie eine einzige Lüge erscheint, die alles daran tut, das Falsche – die Ungerechtigkeit – im Überfluss der Waren jeden Tag neu vergessen zu machen, in einem Überfluss, in dem jede einzelne Stimme verstummt, auch die in der Kunst und in der Musik. Was in dieser aber geschieht, wenn sie sich ernsthaft auf die Gegenwart bezieht, ist, intentionslos, ein unablässiges Aufzeigen und Klarmachen, wie die Dämme, innerhalb derer früher die Dinge passierten und sie kleinwerden liessen, heute keine Hindernisse mehr bieten. Seit fünfzig bis hundert Jahren gibt die Musik ständig Zeugnis davon, dass wir existentiell aus der Enge heraustreten können, dass wir schnell reagieren können, dass wir den Zusammenhang, in dem die Dinge stehen sollen, uns nicht durch Konventionen diktieren lassen müssen, und dass aus dem, was als Ding da zu sein scheint, schnell neue Vielheiten entstehen können, in denen die vermeintlichen Tatsachen verwandelt dastehen. Die bewusste Musik der Gegenwart enthält einen Impuls, der äusserst stark mit den inneren Verhältnissen der neuen Realitäten korrespondiert, auch wenn die Ereignisse, die in ihnen statthaben, nicht zu ihren Gehalten gehören müssen. Das ist fast deprimierend deutlich wahrnehmbar in der Musik von Beethoven, wenn man vom vereinzelten Stück zurücktritt: dass die Bahnen in ihr zu eng gezogen sind, als dass sie mit der Sicht der Einzelmenschen auf die gesellschaftliche Realität noch zu korrespondieren vermöchte. Auch wenn sie als die beste erscheint und als das Beste, erweckt sie keine Sehnsucht danach, in jener Gesellschaft leben zu wollen, auf die sie sich notgedrungen bezieht.