Archiv für den Monat September, 2009

Staubcity

Dienstag, 29. September 2009

Nachdem gestern der erst halbjährige, aber gegen seine BenutzerInnen um so bösartigere Staubsauger von Fust, Primotecq CST 500, der keinem Stäubchen auf dem Boden den Garaus zu machen imstande ist, etwas aktiver als gewöhnlich aus der Hand zu Boden stürzte und von da an keinen Murks mehr von sich geben wollte – und in welcher Lautstärke konnte er doch brüllen! – kam es um 1 Uhr zu einem Traum, wo ich in Begleitung auf einer steilen, geraden Strasse einen Berg hinunter in ein Dorf hinein wanderte, dessen Bauten eher an eine kleine Stadt in der Ebene als an ein Bergdorf denken liessen. Kein Lebewesen zeigte sich, und es war mäuschenstill. Allerdings erschienen in der Abendsonne die Objekte als wie kurz vor dem totalen Verfall, als ob es nur eines Windhauches bedürfte, damit die Gebäude, im Innersten wie von Termiten zerfressen als blosse, mit Sand gefüllte Fassaden dastehend, zu einem homogenen Staubhaufen zusammenfallen würden. Als ich das Ganze als einheitlich grau wahrzunehmen begann, machten sich Leute bemerkbar, nicht Städter, sondern eindeutig BergbewohnerInnen in ihrer typischen Zurückhaltung, wenige Erwachsene mit wenigen Kindern. Es entstand auch ein Kontakt, der weder durch radikales Misstrauen noch durch Angst verhindert worden wäre. Allmählich fanden sich viele Menschen ein, die aber nicht aus den Gebäuden zu kommen schienen, und wir gingen zu einer Art Dorfplatz. F strebte dorthin, wo die Vielen waren; sie wirkte weder entschieden noch gleichgültig, so wie man auf einer Wanderung den eingeschlagenen Weg eben immer weiter geht. Es gab eine obere Hälfte und eine untere, zu der wir gehörten – die obere stand bunt im abendlichen Sonnenlicht, die untere war schwarzweiss oder grau, definiter unbunt als nur durchs Schattenlicht abgetönt. Wir waren dem Grenzbereich ganz nahe, und als F die Grenze des Lichts überschreitet, ertönt eine Stimme aus dem Off, dass solches für mich nicht geschehen dürfe.

Ich gehe in drei Stunden ins Westside, kaufe im M-electronics den billigsten von K-Tipp empfohlenen Staubsauger, doppelt so teuer wie das verbrecherische Gerät von Fust, und lasse ihn von der Post den einen Kilometer Luftlinie herübertransportieren.

Transformerverkehr

Mittwoch, 9. September 2009

Es gibt in der lebendigen Existenz verschiedene unverhoffte Transformationen, von denen die meisten sich seit 50 Jahren in der menschlichen Gesellschaft artikulieren, um aus der Erfahrung der schlechten Notwendigkeit einen Lebensentwurf aus Freiheit und mit anrufbaren Rechten realisieren zu können. Wenn sich die Art und Weise, wie seit Juli 2009 abends vom Wallis nach Bern zurückgereist wird, nicht zum Guten ändert, muss eine immer grösser werdende Gruppe von Fahrgästen der SBB ihren Empfindungen Ausdruck geben und gesellschaftlich darum kämpfen, dass ihre erlebte Existenz als ein Stück Vieh endlich zur nominellen Anerkennung gelangt. Ich fühle mich nicht mehr einer Gesellschaft von Menschen angehörig, wenn ich als Reisender keinen Platz mehr finde zum Sitzen und um nichts besser einen zum Stehen, wo ich mich an etwas Griffigem, das dafür vorgesehen wäre, festhalten könnte. In den nachmittäglichen und abendlichen Zügen von Visp nach Bern wird der Einzelne, ob Junger oder Alter, ob Behinderter oder Kräftiger, beim Einsteigen in irgendeine Richtung abgetrieben, die ihn ohne sein Zutun in einen Winkel schiebt, wo er sich fallen zu lassen hat. Solche Ausgestossene, die sich häufig auf einer steilen, abgedrehten Treppe wiederfinden, mögen sich tunlichst hüten, für irgendwelche körperliche Versehrtheiten Hoffnungen zu hegen – für die zuzeiten noch grössere Masse der Sitzenden sind sie leblose Gegenstände, auf die getreten oder mit Gepäck gezielt werden kann, gerade wie es kommt, wenn man sich in den Zug hinein-, durch ihn hindurch- oder aus ihm wieder hinausbewegt. Es dünkt mich an der Zeit, dass auf uns neuerlich Transformierte gesellschaftlich abgesichert die Tierrechte zur Anwendung kommen, wo von der Geschundenheit gesprochen wird, vor welcher das Tier zu schützen wäre. Solange ich nicht in die Leblosigkeit abgesunken sein werde, will ich es wagen, an die Gesellschaft den Anspruch zu erheben, wenigstens als Tier betrachtet zu werden. – Man könnte meinen, für spezielle Fälle seien doch Behindertensitze vorgesehen. Klar habe ich solche schon ins Auge gefasst, doch beim Einlass der Masse bin ich noch nie an einen solchen gespült worden, und man ist in der aufgehetzten Gesellschaft gut beraten, Ansprüche durch Vorweisung eines IV-Ausweises zu unterlassen (vor wenigen Jahren gab es auf Seilbahnen noch Vergünstigungen gleich denen für AHV-Rentner, heute frage ich nicht einmal mehr danach). Da die Medien der Kulturindustrie den Trieben der Ökonomie mehr gehorchen als denen der Vernunft, lassen sie die kryptofaschistischen Brüller so umfassend zu Wort kommen, dass man gut daran tut, in einer Meute nicht der naiven Meinung nachzugeben, der Nebenmensch im knalligen roten T-Shirt mit weissem Schweizerkreuz sei kein SVP-Sympathisant und den IV-Ausweis im Portemonnaie verborgen zu halten. Will man schädigenden Hieben ausweichen, sei es denen, die man einsteckt, weil man als Rentner enttarnt wird oder denen, die einen kaputt machen, weil auch ein geringster Stoss an den neugebauten Körperstellen Schaden anrichtet, erfährt man sich als Verlassenen auf sich allein gestellt und angewiesen wie auf den obersten Alpflecken – im tobenden Eissturm. Die Schweizerischen Bundesbahnen werden nächstens ein paar Sitze mit der Anschrift auszeichnen müssen: Reserviert für SBB-Versehrte.

Zusatz: Gestern hatte ich in Visp beim Einfahren des Zuges, der ohne Anmeldung im hinteren Teil Zusatzwagen hatte, die Meute zunächst umeilt und dann durch alle Strömungen querend eine Stelle angepeilt, wo man nur einen halben Meter von der mächtigen Lokomotive entfernt und beinahe schon unter ihr fährt, mit idealem Ausblick auf den Bildschirm über einem, der dem Lokführer alles übers Aussen des Zuges berichtet und ihn gleichzeitig von allem im Innern verschont – und wo es einen echten Sitz gibt! Vom Sound allerdings im Tunnel muss man schweigen; ich versuchte vergeblich, ein Konzert von Glenn Branca zu phantasieren, weil alles Erinnerte nur MRI-Aufzeichnungen entstammte.

Umgefallenes Japan-Cliché

Montag, 7. September 2009

Gestern auf dem Oberrothorn bei Zermatt war ich von unten bis oben von einer japanischen Wandergruppe begleitet. Oben erklärte ihr Guide sämtliche Gipfel, Zwischengrate und Untergipfel ohne Fehl und Tadel – ausser dass er in allen Namen, die ein L enthalten, dieses als R aussprach. Ich traute meinen Ohren nicht, aber im kultivierten Japan scheint man die Dent Blanche „Dent Branche“ zu nennen, das Balmhorn „Barmhorn“ (die Barrhörner sieht man nicht), die Schultern „Epaurs“, das Schalihorn „Scharihorn“, das Obergabelhorn „Obergaborhorn“ und das Zinalrothorn „Cinarrothorn“ (er liebte es, die Ortsnamen im Val d’Anniviers aufzuzählen, und „Cinar“ scheint ihm besonders gut zu gefallen – wahrscheinlich sprach er vom uralten Weg von Zermatt übers Triftjoch nach Zinal, dessen östliche Seite man vom Oberrothorn sehr leicht einsehen kann).

Ich stelle mir vor, dass der Guide ein überaus gutes Gedächtnis besitzt und nur noch selten die Karten zur Absicherung heranzieht. Unweigerlich gerät er so in eine Art vorauseilenden Gehorsam in aesteticis: was er im japanischen Gedächtnis vorfindet, die Namen mit L, interpretiert er selbstkritisch als kulturelle Verfälschung und deutet sie nachträglich als R.