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Die Aktualität der Negativen Dialektik

Montag, 8. Mai 2023

Adorno hat sich zeitlebens in Diskussionen und Texten darum bemüht, der materialistischen Dialektik eine verbindliche Gestalt zu geben. Erst im Spätwerk ist ihm ein grosser Wurf gelungen, unter dem abweichenden Titel Negative Dialektik. Die materialistische gehört spätestens seit da nun ganz zu Marx, wo sie, wenn denn eine ausgearbeitete materialistische Dialektik ernst genommen werden soll, als Philosophie zurückgewiesen wird.

Die Geschichte kennt viele Philosophen und Philosophinnen, und es existieren unzählige Texte von ihnen zur Philosophie im allgemeinen und zu speziellen philosophischen Fragen. Aber Philosophien, die alle ihre Fragen in einem durchgehenden Zusammenhang und im Horizont des Allgemeinen darstellen, gibt es erst sehr spät in der Geschichte, weil die Idee der Geschichte, zweifellos das Zentrum jeden Umgangs des menschlichen Bewusstseins mit der Welt, erst sehr spät als Fragestellung in Erscheinung tritt.

Kurz vor der Etablierung der Idee einer allgemeinen Geschichte wird Kants Philosophie veröffentlicht und im deutschsprachigen Raum schnell anerkannt. Wie aus einem Guss steht das Riesenwerk da, eine allgemeine Erkenntnistheorie, die klar die Grenzen beschreibt, bis wohin das Zusammenspiel von Verstand und Vernunft eines Jedesmenschen Erkenntnisse produzieren kann (die Grenzen erscheinen für unsere heutige Erfahrungswelt als sehr eng gezogen), was im allgemeinen für den Menschen gut zu tun ist und was nicht (viel Freiheit ist für die konkreten Einzelnen der politischen Gesellschaft nicht vorgesehen) und welche Fähigkeiten vorausgesetzt werden, wenn das Zusammenspiel zwischen den Erkenntnisprozessen und ihrer Realisierung im Gesellschaftsleben gelingen soll. Der Anerkennungsprozess schafft sehr schnell, gerade weil der Begriff der Geschichte in dieser Philosophie noch erst eine Randerscheinung ist, ihre inneren Unstimmigkeiten zutage. Sie ist ein imponierendes System, aber alles in ihr ist so sehr formalistisches System und also ignorant gegenüber der Flexibilität der substantiellen gesellschaftlichen Sprache, dass im Zuge dieser Kritik eine Philosophie herauswachsen muss, die sich ihr als Ganzes entgegenstemmt.

In Hegels Philosophie, der zweiten totalen erst in der gesamten Geschichte der Philosophie, sind alle Kategorien und formalen Bestimmungen Kants durch einen einzigen Begriff ersetzt: durch den Begriff selbst oder den reinen Begriff. Was erkannt wird, ist immer Begriff und das komplexe Erkannte begrifflich. So rein der Begriff in der Philosophie dasteht, ist er immer auch noch in einen Zusammenhang eingebunden. Dieser Zusammenhang, in dem der Begriff in Hegels Denken verankert ist, hat die Besonderheit, dass man mehr versteht von dieser Philosophie, wenn man sie weniger wie bei Kant als Erkenntnistheorie denn, erweitert, als Wissenschaftstheorie betrachtet. Die Philosophie breitet nichts weniger aus als eine Theorie, die beschreibt und begründet, wie das wissenschaftliche Wissen in der Geschichte der Menschheit entstehen, sich entwickeln und in materiellen oder immateriellen Technologien und Techniken gesellschaftlich realisieren konnte.

Erkenntnis geschieht nur durch das vernünftige Subjekt. Der Akt der Erkenntnis ist die Identifikation. Was erkannt wird, ist die Identität eines Objekts oder ein identisches Objekt in einem Zusammenhang, der aus unendlichen Massen von Nichtidentitäten besteht. Der Zusammenhang ist äusserst zentral, auch wenn er zunächst immer abstrakt und unzugänglich erscheint: als reiner Gegensatz zum Erkannten. Ist die Erkenntnis vollzogen und gelungen, hat man es mit einer dialektischen Identität zu tun: mit einer Identität der Identität und Nichtidentität (die hier eben der Zusammenhang selbst ist). Ein solches Objekt steht immer schon in der Geschichte und ist nicht wirklich stabil, sondern Moment einer vorerst abstrakten Dynamik. Als nicht mit absoluter Gewissheit Gewusstes hat es den Drang, über sich hinauszuweisen. An dieser Stelle ist Hegels spekulative Dialektik besessen und kennt nur eine Lösung: das, was weiter treibt und zur Korrektur der mengelbehafteten „Erkenntnis“ führt, ist immer nur wieder der identifizierende Akt des vernünftigen Subjekts.

Wie aber, wenn das mangelhaft Erkannte und nur schlecht Begriffene, das zu einem wirklichen Moment in der wirklichen Gesellschaft geworden ist, sich zwar weiter entwickelt, in dieser Entwicklung aber entschiedener Massen, also zweifelsfrei, zu einem solcherart neuen Objekt wird, das noch schlechter als das vorangegangene beurteilt werden muss? Woher kommt das Schlechte auch in denjenigen Objekten, die doch in einem wissenschaftlichen Umfeld geschaffen wurden?

Hegel war in seinen Ansprüchen gefangen. Wenn der Geist in den Formen des Wissens zu sich selbst kommen soll, muss der Philosoph, der ihn beschreiben will, diesem eigentümlichen Logizismus nachgeben und die Wirkungsweise des Nichtidentischen in der Geschichte der Welt, das Nichterkannte, Diffuse, Irrationale, letztlich überhaupt den beschreibbaren Zusammenhang, in dem ein Objekt steht, verleugnen. Eine dialektische Philosophie ohne Totalität, in der das Ganze als das Wahre erscheinen kann, ist für Hegel nicht denkbar. Die Philosophie zeigt ungehemmt den Werdegang zum Ganzen oder zum absoluten Wissen auf, auch wenn es im System nichts Weiteres ist als eine Annahme.

Diese Idee, dass Dialektik einen Begriff der geschichtlichen Totalität immer schon mit sich bringt, sieht Adorno auch bei Marx. Er weist die Marxsche Lösung deswegen von sich, weil seine Analysen ohne Programm der Planwirtschaft unstimmig würden. Aber die Planwirtschaft hinter dem Eisernen Vorhang nach der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts sieht klarerweise nicht so aus, als könne man sie als Alternative zur kapitalistischen Produktionsweise ins Auge fassen. (Steht die Frage nach der Möglichkeit einer eigentlichen Philosophie heute nicht im Zentrum, ist die Kritik an Marx auch weniger rigide. – Sartres Dialektikverständnis ist auch in seiner ausufernden Darstellung zu sehr auf Gruppenprozesse fixiert und ohne gesamtgesellschaftliche Grundierung, als dass man seine Kritik der dialektischen Vernunft anders als einen unter den vielen anderen Texten in der Philosophie begreifen könnte.)

Wenn einer ein Leben lang ausgefeilte Texte zu philosophischen sowie gesellschafts- wie musikphilosophischen Fragen publiziert hat und sich dann fragt, ob eine Philosophie heute noch möglich sei, ist das Werk, das er als Antwort darauf verfasst, eine Besonderheit. Man darf mit Fug also die Negative Dialektik als Philosophie ablösen von der Art und Weise, wie Adorno seine intensiven, nur schwer zu referierenden Texte verfasst hat. Auf diese Weise fällt einem das Leichte und Schlagende zu, also das, was in ihr als Philosophie mit der heutigen Wirklichkeit in Korrespondenz steht. Man darf vielleicht staunen, wie sehr die erlebte Wirklichkeit Gehalte der Philosophie eines der sperrigsten Philosophen widerspiegelt, die in ihr noch quasi als anmassende, chancenlose Forderungen angelegt wurden.

Adorno stellt Hegels Dialektik nicht vom Kopf auf die Füsse, sondern sprengt den Mechanismus, der ihre Entwicklung zu garantieren scheint. Hegels Behauptung ist leer, es wäre objektiv in der Geschichte immer das Subjekt, das die Entwicklung vorantreibt. Dieser Vorrang des Subjekts, der in der kantischen Philosophie so immens progressiv war und aus dem blinden Rationalismus hinausführte, ist erschütterbar, sobald die Geschichte (aber natürlich immer auch schon: die Gesellschaft) in den Blick genommen wird. Es erfolgt eine subtile, aber äusserst folgenreiche Drehung im Verhältnis von Identität und Nichtidentität.

Erkenntnistheoretische und ontologische Philosophien lassen sich nicht miteinander vergleichen. Trotzdem darf man an dieser Stelle die Fundamentalontologie Heideggers zur Seite nehmen. Adornos Akt der leichten Drehung in der Dialektik heisst bei ihm Kehre, und sie ist nichts anderes als die Forderung, die Beschreibung des Seins aus der Anspruchssphäre des Subjekts zu lösen und das Sein ohne die Übergriffigkeiten des Subjekts aufscheinen zu lassen, letztlich das im Denken Sprache oder Wirklichkeit werden zu lassen, was nicht Sprache sein kann. Aber man ist da in einem Bereich des Ungefähren, der der negativen Dialektik mitnichten eigentümlich sein soll.

Das Nichtidentische ist alles, was noch nicht identifiziert ist, zu dem auch das gehört, was möglicherweise gar nicht identifizierbar ist. In einer reinen Erkenntnistheorie kann es einem unwohl werden mit so viel Irrationalem, Unbekanntem, Unendlichem. Situiert man den Erkenntnisprozess aber in der Gesellschaft mit ihren pädagogischen Institutionen und den Systemen der Transformation und Verwertung von Erkenntnissen, wird das Nichtidentische griffig. Wissenschaftstheoretisch bildet der Begriff des Nichtidentischen nichts anderes als den ganzen Komplex der Randbedingungen ab, die einer Theorie und allen Technologien zugeordnet werden können. Aus dem progressiven Vorrang des Subjekts in Kants kritischem Rationalismus wird die Ideologie des Logizismus bei Hegel und als Antwort darauf endlich der Vorrang des Objekts in der Negativen Dialektik, die in ihrer Besonderheit nichts anderes tut als hinter jeder Theorie herzurufen: Vorsicht in der Anwendung!

Wikipedia zeigt unter „Deepwater Horizon“ die Katastrophe im Golf von Mexico mit Start am 20. April 2010. Die Besitzerin der Plattform, die in Zug domizilierte Transocean, (sie vermietet bis 2013 die Bohrinsel für eine halbe Million Dollar pro Tag an BP), schreibt dazu nur kurz auf ihrer Website (3. 5. 2023): „A reminder of the over-arching importance of safety: the Macondo tragedy brought the loss of 11 crewmembers on the Deepwater Horizon on April 20 in the U.S. Gulf of Mexico. We will never forget our lost colleagues.“ Dank dieser Schweiz-Verbundenheit kam es zu einem aufschlussreichen Interview in der Wochensendung Samstagsrundschau des Schweizer Radios. Gesprochen wurde mit einem Professor der Eidgenössischen Technischen Hochschule von Zürich (ETH).

Das Statement des ETH-Vertreters kam wie aus dem Zentrum der spekulativen Dialektik geschossen: Alle Anlageteile des Bohrlochs und der Ventile würden dem aktuellen Stand der Technik entsprechen und gelten als State of the Art; keiner Bau- oder Konstruktionsfirma wäre etwas vorzuwerfen. Die materiellen Stücke am Bohrloch, im Loch selbst, auch die des Bohrers und natürlich der Plattform wären zu keiner Zeit in Frage zu stellen gewesen. Das ist es, was einem negativen Dialektiker den Magen umdreht und ihn an der Vernünftigkeit der Welt zweifeln lässt. Die ETH funktionierte im Jahre 2010 wie ein Verein selbstgenügsamer Hegelianer: Wir vermitteln die Theorien der Grundlagen der Wissenschaften, die Einzeldisziplinen selbst, die Verfahren ihrer Umsetzung in Techniken und Technologie, dazu auch ganze Lehrgänge für die Tricks der Kontrolle. Wenn dann noch etwas schief geht, hat man es mit höherer Gewalt oder schlechtem Willen zu tun. Aber das Wissen, das vermittelt wird, ist institutionell garantiert und könnte nur in Akten der Irrationalität infrage gestellt werden.

Die Frage ist, ob das skandalöse Statement des Professors auch tatsächlich der Wirklichkeit entspricht. Ist es wirklich so, dass die Umwandlungsprozesse des Wissens in isolierten Abteilungen geschehen, und ist es wirklich so, dass die Kontrolle erst am Schluss der ganzen Kette in Eigenregie organisiert wird? Mathematisch-metrische Grundlagen, Physik, Chemie, Biologie, Erdwissenschaften, Computerwissenschaften, technische Wissenschaften, Ökonomie und Politik: Werden die Kontrollprozesse erst auf den Feldern der Ökonomie und der Politik organisiert? Oder haben die Technischen Hochschulen wie die ETH nicht längst schon eingesehen und sich dahingehend organisiert, dass die Notwendigkeit von Kontrollwissen schon auf den ersten, abstrakten Ebenen des Wissens gegeben ist?

Mitte der 1960er Jahre erschienen die normativen Implikationen der Negativen Dialektik neu und dunkel, vielleicht sogar wissenschaftsfeindlich. Aber sie korrespondierten mit gesellschaftlichen Impulsen, die langsam, aber stetig von einer grösseren Allgemeinheit wahrgenommen wurden: Warnungen vor dem autoritären Staat, vor der ökologischen Katastrophe (oder, besser: vor den verschiedenen ökologischen Katastrophen) und vor dem militärischen Aufrüstungswahn wurden allenthalben in verschiedenen Gruppen immer lauter. Nun explodiert das in allen Winkeln der Weltgesellschaft, und man erkennt die Negative Dialektik als nichts anderes denn die Philosophie, die ihre Zeit in Gedanken fasst; ihre Aussergewöhnlichkeit besteht einzig darin, dass sie ungleich der Eule der Minerva so früh erschienen war.

Pflicht

Dienstag, 6. Oktober 2020

Es gibt nur zwei Pflichten, die man auf absolute Weise befolgen muss: a) die eigene Regression unter Beobachtung halten und b) niemals der Warenform verfallen.

Alle Devisen für weitergehendes Handeln lassen sich aus ihnen ableiten, sei es auf dem Feld der Politik oder in den ästhetischen Produktionen.

Für die Bilder, gegen den Film

Samstag, 4. Mai 2019

Der allgegenwärtige Dunst durch die Feuchtigkeit in der Luft zwingt dazu, einen Ausweg aus dem Fotografieren zu suchen. GoPro ist eine gute Lösung: der hurtige Spaziergang verlangt keine detaillierte Landschaft. Beim Erproben kam ich auch auf den Geschmack, die Videomöglichkeiten der Olympus Kamera zu nutzen. Schliesslich nahm ich auch Videos aus dem Archiv hervor, die vor zwanzig Jahren hergestellt wurden. Nach einer gewissen Euphorie machte sich indes schnell eine Katerstimmung breit. Die Domäne des Films wird zu einem Platz, der Unwohlsein hervorruft. Natürlich sind meine eigenen Videos dilettantisch und schlecht. Aber die Wahrnehmung stützt sich auf die konsumierten Filme allgemein, die Masse der Videos auf Facebook, die Unmengen an klassischen Kinofilmen, die ich auf Youtube zu gaffen nachholte. Die Einsicht nun scheint mir eindeutig. Das Bild kommt nicht mit einem Versprechen auf einen los, sondern sagt als erstes distanziert: ich bin etwas Anderes. Willst du etwas in mir sehen, musst du dich anstrengen. In der Anstrengung, die dem Oberflächenreiz nachspürt und seinen Rand, das Allgemeine, sehnsüchtig beäugt, ist nicht nur Genuss, sondern entschlüsselt und öffnet auch sich erst das Bild. Umgekehrt die bewegte Bilderreihe, das Video, der Film. Der Film biedert sich an und sagt einem ständig, wie lebendig das Gezeigte ist. Er lässt einen kaum frei aus seinem Konkretismus und wird schnell persönlich, auf die aufdringliche Weise. Und er flüstert einem vom Lebendigen auch dann, wenn er Tote porträtiert. Mit ihm wird die Erinnerung schlecht, die das Allgemeine nötig hat. In ihm wird es mir schlecht. Der Film macht das Gezeigte schlecht. Man muss Filme machen wie Bilder, wenn man die Bilder über die Dunstkrise hinweg retten will.

Transzendentale Digitalwelt, ersehnt

Dienstag, 30. Oktober 2018

Unsere Zeit hat etwas von derjenigen in der Geschichte der Philosophie, die Kant vorausgeht. Sie ähnelt dem absoluten Rationalismus. Wie in diesem alles, was sich in sprachlicher Form denken lässt, auch ernstzunehmender, begrifflicher Bestandteil eines Argumentationszusammenhangs und also tel quel Moment der Theorie ist, befeuert jedes Statement heute – selbst der allerschlimmsten Dummköpfe – die öffentlichen, politischen Diskurse, letztlich die Art und Weise jedes sprachlich verfassten Artikels; die Entäusserungen der Wirren sind materieller Bestandteil des globalisierten Alltags. Kants Kritik oder Reduktion des Rationalismus fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis- oder Theoriemomente und wie dieselben auch zur Voraussetzung ihrer Wirklichkeit gehören. Wir sehnen uns vergeblich heute nach solchen transzendentalen Wegweisern und phantasieren sie uns am liebsten allsogleich materiell eingepflockt in die digitalen Kommunikationswelten. Wir scheitern und werden uns weiterhin gegen die Windmühlen in schlechten Lüften wehren müssen.

Wahrheit

Mittwoch, 22. August 2018

[Weil Quora noch nicht bekannt ist, poste ich hier einen frischen eigenen Text. Die Frage steht anonym im „Forum“, die Antworten werden mit Autorennamen daruntergestellt. Die Frage hier lautete (und stammt also nicht von mir): „Existiert so etwas wie die absolute Wahrheit, und falls es so etwas wie die absolute Wahrheit nicht gibt, was ist dann die „Wahrheit“?“]

Von der Wahrheit sagen, dass es sie gibt, heisst die menschliche Vernunft rechtfertigen. Bevor man die Rechtfertigung durchführt und also Philosophie betreibt, innerhalb der Institution der Universität, in der Obhut einer Gruppe oder allein, muss man sich klarmachen, dass die Vernunft, die zur Wahrheit fähig ist und Wahrheit garantiert, jedem Menschen an jedem Ort und jederzeit zugeschrieben werden muss. Die philosophische Wahrheit, die Wahrheit in der Vernunft oder die Vernunft selbst kann nur als universelle begriffen werden – oder sie wäre nichts. Auch wenn Kulturen an verschiedenen Orten und zu verschiedenen historischen Zeiten sich völlig unterschiedlich entfalten und nicht auf ein einziges Modell der menschlichen Vergesellschaftung zurückgeführt werden können, ist die Vernunft in jedem weiblichen oder männlichen Neugeborenen, Varianten inklusive, auf identische Weise angelegt. Die Identität der Vernunft betrifft nicht nur die Verschiedenheit von Gesellschaften, sondern selbst der Individuen in ihren Vielfältigkeiten. Die Geschichte der Philosophie hat schon früh das Wahre mit dem Guten zusammengedacht; trotzdem ist ohne Umstand den Bösen und Asozialen Vernünftigkeit zuzusprechen. Auch Menschen, die nicht fähig sind, sich selbst ohne Beistand am Leben zu erhalten, verkörpern die Vernunft. Am schwierigsten ist vielleicht die Frage nach dem Wahnsinn, den man spontan immer noch als das Andere der Vernunft versteht: ist es nicht schon ein befriedigender Fortschritt einer Gesellschaft, wenn sie die Wahnsinnigen fürsorglich behandelt statt vom Gesellschaftsleben auszuschliessen? Nein. Selbst der Wahnsinn muss als Moment der Vernunft gerechtfertigt werden, wenn Vernunft tel quel und also überhaupt gerechtfertigt werden soll. Sein Einschluss muss deswegen im Auge behalten werden, damit das philosophische Subjekt, das die Rechtfertigung durchführt, den eigenen Wahrheitsanspruch nicht verabsolutiert. Wenn der Wahnsinn ausgeschlossen bliebe, wie in aller traditioneller Philosophie, würde die philosophische Vernunft, die sich rechtfertigen soll, eine Art Selbstermächtigung durchführen: sie wäre die alleinige Instanz zur Beurteilung der Gültigkeit ihrer Behauptungen, weder durch Tatsachen noch durch Argumentationszusammenhänge in Frage zu stellen.

Man sieht leicht, dass die Anforderungen an die Theorie durch die Erfahrungen der Geschichte heute heikler sind als vor 2500 Jahren. Trotzdem muss man sich auch auf die alte Philosophie beziehen, wenn man nicht triviale Fehler wiederholen will. So bewegt man sich also, wenn die Wahrheit das Ziel ist, in einer Art Flickwerk, in dem kein glatter Optimismus zu erwarten wäre und keine Lehre in der Theorie, die die Praxis erlösen würde. Aber es ist nichts anderes als ein Zeichen der Lebendigkeit der Vernunft, wenn sie nicht perfekt ist oder sich nicht perfekt darstellen lässt. Denn schlimmer als die blosse Vorläufigkeit oder Unvollkommenheit in der Darstellung ist die explizite Verleugnung der Wahrheit im scheinbar so offenherzigen, quasi bescheidenen Skeptizismus. Er ist schlaff da, wo Menschen es nicht mehr sein dürften: wenn Scharlatane sich formieren und ein Gaukelspiel vom Zaun brechen, das ohne Scham die Wahrheit, und damit die Menschen, mit Füssen tritt.

Das Verhältnis zur Idee der Wahrheit ist weniger das eines Wissens als das des Vertrauens: in die Natur, in den Gesellschaftsprozess, in sich selbst. Vertrauen ist nicht Glauben und stellt sich gegen die Verführung, Wahrheit absolut zu denken; solche Wahrheit war schon in der traditionellen Philosophie eine blosse Unterkategorie, ein Eindringling aus der Domäne der Theologie, der in der Theorie zu Fehlschlüssen führte.

Dialektisches Drumrum zum Plumps

Donnerstag, 8. Februar 2018

1970 erschien in den Akzenten 5 das Gedicht von Günter Kunert über Alexander Cumming, das ich zehn Jahre gewöhnlicherweise, weil abgeschrieben an der Wand angeheftet, jeden Tag vor Augen hatte: Cumming hatte das WC mit dem doppelt gekrümmten Abflussrohr zwar nicht erfunden, aber 1775 patentiert und dem modernen Abtritt so realiter den Zutritt zum gesellschaftlichen Alltag verschafft. Des Dichters Lob ist nicht frei von Resignation, denn er bezeichnet den „Erfinder“ als ein Beispiel der Geschichte, woran keiner eines sich nimmt; die reale Welt, wie sie ist und wie sie im Detail von einzelnen so geschaffen wurde, wird die Menschheit nie zu würdigen verstehen.

Zwanzig Jahre nach der Einführung des WCs in die Gesellschaft dachte auch Kant seiner, auf seine Weise. Bekanntlich forcierte er den Glauben an das Gute im Menschen und fesselte ihn im System mit dem Willen zur Pflicht („…, d. i. wornach sie von selbst freiwillig handeln würden, wenn sie sich selbst gehörig prüften“). Doch als Siebzigjähriger liebäugelte er in den Gedanken vom Ende aller Dinge nicht wenig mit dem Gegenteil. In einer langen Fussnote, die nur zum Schein dem eigentlichen Text an den Rand gestellt ist, gibt er den Erzählungen Raum, die teils den Menschen tel quel, teils seinen Lebensort als die schlechteste aller theologischen Denkbarkeiten favorisieren. Unter ihnen die Geschichte eines persischen Witzlings, der das Paradies in den Himmel verlegt gehabt hätte. Das Paar verdaute alle Esswaren optimal, mit Ausnahme der Äpfel des verbotenen Baumes. Ein Engel kam zu den Leidenden und zeigte mit dem Finger durchs Universum zum Planeten Erde: auf jenem Abort aller Welten hätten von nun an sie sich, als Menschen, der Reste des Verdauten zu entledigen.

Der laute, expressionistische Brecht, dessen Optimismus durch Erinnerung der kleinen Leute („Wer war Caesars und wer Alexanders Koch?“) Kunert in Frage stellt, weil wir die Antworten ignorieren, die uns der Alltag immer schon vorführt, lässt Baals Orge fragen: „Was ist der schönste Ort auf Erden? – Der Abort!“ Das Leben und der Lebensort im Ganzen hin oder her – grad was als Übelstrüchiges gilt, gilt’s zu erobern und die Souveränität darauf zu zelebrieren. Das tut ein jedermensch auch in der globalisierten Welt von heute. Passt man nicht auf und gerät auf Facebooks Seiten ins Abseits aller Spuren der Friends, steht man unverhofft ohne Schutz im Durchfluss der Zerstreuung, im Hemmungslosen gänzlich jenseits der Kategorien von Gut und Böse, Schön und Schlecht, Interessant und Überdrüssig. Von Gesellschaft, Geschichte und einer Idee der Menschheit ist da nichts mehr zu erkennen. Das Theatrale an den Geschichten, die kein Ende in Aussicht stellen und Kant so stark herausforderten, verwandelt sich zur einzigen, empirischen Freakshow der Trump- und Blocherfans. Auch diejenigen, die sich explizit dagegenstellen, also so, dass jeder es sieht, müssen auf ihren Bahnen fahren. Man kann solches nicht untersuchen, im Ganzen, in ihm Strukturverhältnisse unterscheiden und es selbst oder Einzelheiten kritisieren. Aber man kann Objekte von aussen ins Scheisshaus schmuggeln, die die Freaks in ihrer infantilen Destruktivität verleugnen müssen. Diese Objekte stehen herum wie Kinder, die kein anderes zum Mitspielen finden. Aber sie werden nicht wegzuleugnen sein.

Nichtprofanbauten und ihre Zusätze in der Landschaft

Freitag, 7. Juli 2017

Die Aufzeichnung rechtfertigt den Gegenstand. Auch bei einem rein bildgebenden Aufzeichnungsverfahren sind sowohl der Anstoss wie das Deutungsziel begrifflich motiviert: man fotografiert einen Gegenstand oder einen Ausschnitt in der Landschaft, weil etwas Bestimmtes zu sehen ist und weil es auf eine bestimmte Weise gesehen werden soll. Der einzelne, im konkreten Bild bestimmende Begriff ist aber kein eindeutiges Einzelnes, sondern bildet einen Zusammenhang, dessen Teile in dem Masse wahr oder falsch sind, wie sie vom individuellen Meinen und Glauben und der gesellschaftlichen Ideologie abhängen.

Eisten-Stellinu (Saastal)

Wenn es der Menschheit gelingt, das globale Strohfeuer der religiösen Unvernunft zu bewältigen, werden die materiellen und immateriellen Gebilde der Religionen ausserhalb des Glaubens und des theologischen Gezänks deutbar sein. Sobald die nötigen Bedingungen explizit gemacht werden, sind sie es auch heute schon (wie sie es im übrigen vor der unverhofften Explosion des Religiösen schon einmal waren). Sie hören auf, Zeugnis abzulegen und werden zu gewöhnlichen Zeichen, die wie alles andere im Wirklichen wahrzunehmen sind, zuweilen mit grossem Interesse, zuweilen mit nur kleinem.

Die dörflichen Kirchenbauten beherbergen eine Stätte des Opferns, also einen Platz des Opfers als Gegenstand, und sie sind selbst eines, genaugleich wie die Kapellen und die Bild- und Opferstöcke. Die Wege, die diese Bauten miteinander verbinden, ruhen für denjenigen, der sie als Einzelner täglich geht, auf dem Urbild, dass die Gemeinschaft als Ganzes, in der Form der Prozession, auf ihnen steht und ständig wacht. Die Wege sind wie die Bauten Zeugnis einer gelebten Einheitlichkeit und zugleich Drohung einer Autorität, die sich darüber hinaus weder zu zeigen noch zu rechtfertigen braucht.

Das bewusste, strategische Opfer weiss, dass es nichts erreicht und aus anderer Einsicht getan wird als der, etwas im Anspruch der Verbindlichkeit erreichen zu wollen. Es ist kein Symbol im Opfer, und es selbst ist an keines gebunden, auf das es sich beziehen und das sich benennen liesse. Weil sie eine Beiläufigkeit und einen Zusatz der Verstandestätigkeit darstellt, bezeugt die allgemeine Opfertat nichts – im Gegensatz zum Glauben ist sie keine Konkurrenz zur Verstandestätigkeit. Sie ist dieselbe, die weiss, dass sie ihrem eigenen Argwohn untersteht.

Die Opfertat folgt zwei Tendenzen. Ihr Tun begnügt sich nicht mit dem Gefühl desjenigen, der die Tat ausführt und der Welt im Ganzen, in der sie geschieht. Sie umgarnt anderes, das in dem empirischen Verhältnis nicht aufgeht, weder in ihm wirklich ist noch einen einzigen, unwidersprochenen Namen hätte. Kein Tun gibt ihm so viel Realität wie das Opfer, obwohl es auch ausserhalb desselben ist. Zugleich ist diese Realität im Opfer indes wertlos. Das allgemeine Opfer bringt einen Gegenstand zum Scheinen, der keinen weiteren Wert haben darf als den, zu erscheinen und für die anderen im Ganzen dazustehen.

Weil er das Allgemeine übersieht und das Opfer konkretistisch und speziell deutet, sieht der religiöse Verstand die Bauten in der Landschaft nicht als Zeichen, sondern als Zeugnis – als gebe es nur diese Art des Opferns. Aber das allgemeine Andere im Opfer ist nicht das ganz Andere der Religionen; das Göttliche ist blosser Zusatz und dem Opfer nicht wesentlich. Zudem kann die religiöse Deutung der Fotoobjekte als Zeugnisse des Glaubens nicht sagen, ob dieser Glaube aus freien Stücken praktiziert wurde oder im Rahmen von Einschüchterungen und der Androhung von diesseitigen und jenseitigen Strafen durch diejenigen Instanzen, die den Glauben repräsentieren.

Das Opfer ist kein Opfer, sondern alter Teil der Verstandestätigkeit. Als sein allgemeines Resultat gibt es das Besondere, dass das Opferzeichen ein Vermögen darstellt, den Positivismus, den der Verstand inszeniert, zurückzudrängen. Das selbstgepflückte Blümchen in der Vase korrespondiert mehr mit dem Opfer als der Pomp in der Kathedrale, denn das Opfer ist nichts anderes als die geschenkte Zeit zur Wahrnehmung und Würdigung des Unscheinbaren, dessen, was ohne Glanz erscheint und da ist, um das, was als das Ganze erscheint und doch im Tod sein Ziel hat, erträglich zu stimmen.

Dem Positivismus kann dann nichts mehr entgegengestellt werden, wenn die Bereitschaft zur Opfertat nur noch darin besteht, sich zu schminken, bevor man sich in die Disco aufmacht, den Hort der Regression und des kalkulierten Glücks, um die vorzivilisatorische Befriedigung der Primärbedürfnisse so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Doch der allgemeine Positivismus ist kein Spielzeug. In ihm müssen sich die Waffen messen, weil sich in ihm alles darin realisiert, wofür es geschaffen wurde.

Der allgemeine Zerfall nach der individuellen Selbstaufgabe

Donnerstag, 4. Mai 2017

(Druckfassung: http://www.ueliraz.ch/blogarchiv-ueli-raz-2016-17.pdf)

Es gibt eine unendlich fein abgestufte Skala von Arten und Weisen, in denen der Einzelne „scheitert“, in denen er sich zu einem anderen Fortgang des Geschehens „entscheidet“ als anfänglich geplant: man zieht eine andere Jacke und andere Schuhe an als gewohnt, man geht nicht wie die letzten Wochen auf der rechten sondern auf der linken Strassenseite, man gönnt sich zur Erledigung einer Sache mehr Zeit als gewöhnlich oder hat umgekehrt zu wenig davon, man spricht mit erhobener Stimme statt wie üblicherweise ruhig, man entnimmt dem Bankkonto weniger Bargeld als gewöhnlich etc. In diesem alltäglichen, unüberblickbaren Haufen von Momenten des Nichtgeplanten oder Unvorhergesehenen nehmen nur die wenigsten den Charakter eines spürbaren Misslingens oder Scheiterns an. Man hat es normalerweise mit gewöhnlichen Besonderheiten zu tun, die sich als kleine Einbrüche ins Gewohnte einzeln oder in Gruppen ereignen, und sie können des weiteren gleichwie unbemerkt quasi auch als System erscheinen. Die Ereignisse können dem Einzelnen in seiner Isoliertheit zustossen oder in einem kleineren oder grösseren gesellschaftlichen Kontext passieren, als Momente des Nichtgenügens gegenüber den Anforderungen des Ich-Ideals, als nicht erreichte Zeugnisse pädagogischer Art oder einer sonstigen Art der Befähigung oder als nicht erfüllte Erwartungen sei es in sexuellen oder anderen persönlichen Beziehungen, in denen einen als Zusatz zum Missgeschick die Frage beunruhigt – eine Schicht tiefer – was denn zuerst gewesen sei, das Scheitern des Beziehungsverhältnisses oder der Verlust des Vertrauens und ob man nicht doch von einem immer schon drohenden ursprünglichen Vertrauensverlust in die Existenz zu sprechen hätte – denn wäre dem so, wäre ein Scheitern in allen Beziehungsverhältnissen vorherzusehen. Und auf lapidare Weise kann es geschehen, dass einem bloss etwas Unbestimmtes in die Quere kommt, möglicherweise sogar nur die selbstverschuldete schlechte Laune. Die manifesten Verhältnisse, in denen die Ereignisse geschehen, können demokratisch und frei sein oder autoritär, aber auch prekär, in einem Zustand also, wo das Leben als nacktes Überleben bewältigt werden muss. Man hat das Ganze, das in Frage steht, als ein weltweites Big Data-Phänomen zu sehen, das allerorts erscheint, in jeder Häufung und zu jeder möglichen Zeit – ein Phänomen, das sich zwar vorhersagen und also erkennen lässt, aber nur, wenn ungeheuer viele, bis ins Kleinste ausgebreitete Fakten zusammengezogen werden.

Eine Ansammlung von unendlich vielen Enttäuschungsmomenten, die für sich allein neutral und ohne weitere Wirkung sind, kann in einen Erlebniszustand hineinführen, in dem das Subjekt unmerklich abgleitet und ein nunmehr verwandeltes Scheitern erfährt; dieses Scheitern drängt es in eine düstere Passivität ab, wo sich keine Ruhe breitmacht, sondern in unverhoffter, wilder Verzweiflung ein zerstörerischen Verhalten – als stünde man allein auf einer Plattform, und die Leiter mit den fein justierten Stufen hinab zum Realen, das man gleichwie immer noch im Auge hat, wäre weggestossen, man selbst in der Überzeugung, dass ein wirklicher, benenn- und adressierbarer Anderer dies getätigt habe. Das Misslingen oder Ausbleiben der Anerkennung in den Instanzen sowohl der Pädagogik wie der Arbeit führt nicht mit Notwendigkeit zum Gefühl oder Eindruck des Scheiterns, auch dann nicht, wenn dieses Selbstgefühl den Charakter einer ganzen Serie von Momenten der schlechten Erwartung einheitlich und systematisch prägt (das schlechte Selbstgefühl und die schlechte Erwartung sind nur beinahe identisch). Dennoch kennt man das Phänomen am ehesten aus der Grundschule, dann aus den späteren, auch aus den sogenannt höheren Schulen: die stetig kassierten schlechten Noten führen die Einzelnen in eine Bedrängnis, in der sie aufhören, weiterhin die Alltagsanforderungen bewältigen zu wollen, selbst dann, wenn sie klein sind und der Einzelne von seinen Fähigkeiten her keine Probleme hätte, ihnen nachzukommen. Nach einer gewissen Zeit spricht er in einer Sprache, die seine Umgebung befremdet, weil er auch diejenigen Geschehnisse schlechtredet, in denen nichts Negatives auszumachen wäre und die ihm früher ohne weitere Überlegung gleichgültig oder positiv erschienen wären. Nach einer weiteren Anhäufung von Scheiterungsmomenten erodiert das Vertrauen, und noch später, nach einer ebenso unbestimmten, nicht vorhersehbaren Umwandlung reduziert sich das Selbstvertrauen auf das Minimum, wie es der Alltag zu seiner physischen Bewältigung noch voraussetzt, um letzten Endes auf einer räumlichen Winzigkeit und einem Verhaltenstypus, der die Selbstaufgabe mit Notwendigkeit Wirklichkeit werden lässt, wie ein Karren im Schlamm festzufahren. Man tut gut daran, diesem Umwandlungsprozess in zwei Stadien gegenüber die Erkenntnisansprüche gering zu halten, zum einen im Sprachverfall, zum anderen im Zerfall des Selbstvertrauens; schon der Begriff des Prozesses ist zu rationalistisch, in der Intention, den Ablauf als allgemeines Modell rekonstruierbar zu machen – grossmäulig. Man muss diese Zone der Vorhölle, in der alle Kontakte zur guten Wirklichkeit noch vorhanden sind, im Ungefähren und Nebulösen ruhen lassen. Sowohl im Alltag der Ereignisse wie in der Anstrengung der Erkenntnis schaut die Vernunft hin, aber regt sich im dumpfen Staunen schon nicht mehr wirklich. Nicht nur auf der umgangssprachlichen, sondern auch auf der abstrakt begrifflichen Ebene wäre es falsch, dem gesellschaftlichen Erscheinungstypus einen Namen geben zu wollen.

Obwohl das Scheitern auf Schritt und Tritt dem Leben folgt und zum guten Leben notwendigerweise gehört, führt es zuweilen zur Selbstaufgabe und in diesem engen Rahmen dann zur Katastrophe des Einzelnen: zu einem regelrechten Zerfall nach der Erschöpfung. Wo die Selbstaufgabe einmal zum Programm geworden ist, verändert sie den Einzelnen radikal – kaum je schnell, auf einen Schlag und unumkehrbar, aber stetig und desto definitiver, als ob alles, was von nun an um den Einzelnen herum geschieht, von diesem Programm bestimmt ist und von ihm immer wieder neu gefordert wird. Man ist geneigt, den alten Leibniz gegen den Strich zu bürsten und vom ontologischen Ereignis einer negativen Monade zu sprechen, die die Vorstellungen des Subjekts künftig prägt und sie mit einer Wirklichkeit in Korrespondenz setzt, die in bedrohlicher Weise am Horizont heraufdämmert. Das Bild der Erschöpfung, in dem sich der Einzelne aufgegeben zeigt, ist alles andere als eindeutig konturiert, ja eigentlich verschwommen und vernebelt, weil die Selbstaufgabe als eine Verwandlung gesehen werden muss, der kein Ende eingeschrieben ist. Wer auf die Spur der Selbstaufgabe geraten ist, ist immer auch schon wieder potentiell unterwegs zurück zu sich nach Hause, und niemals darf dieser Einzelmensch, von dem die Rede ist, mit dem Typus des ideologisch Fixierten oder mit dem des autoritären Charakters verwechselt werden (wenn er auch nicht in einem entscheidenden Masse harmloser ist als sie). Im Moment des Nachlassens ist der Wille nicht mehr von Bedeutung, auch nicht der, sich aufgeben zu wollen, sondern blosser Zusatz: was der Einzelne von da an will, gehört nicht wirklich zu seinem ursprünglichen Horizont und kann ihm nicht vorgehalten werden.

Der Zerfall nach der Erschöpfung ist erster und stets erneuerter Impuls zur Mimikry an die Umwelt, zur Lust in der Zusammenrottung in Horden, die der positiven, kritischen Konstruktion abgeschworen haben. In diesem Soziotop wird die Idee geopfert, dass die Welt besser sein könnte – nur die eigene Existenz, nicht einmal das eigene Leben ist es, was besser sein soll, unter Eliminierung des Horizonts der Anderen im engen und weiten Lebenszusammenhang. Die Reflexe zur guten Kritik, die einen auf die Unbill des Lebens positiv reagieren lassen, sind gleichwie ausgelöscht wie die Impulse zum guten Willen, die einen ständigen Antrieb garantieren. Ein allgemeiner Communication Breakdown wird zum Nährboden, auf dem die Leerformeln der Hordenführer Wirkung zeugen. In der Winzigkeit und Unscheinbarkeit der Selbstaufgabe im Alltag geschieht nichts anderes als der Übergang immer schon von einer progressiven, vorwärtsschauenden Weltanschauung hin zu einer rechten mit dem trüben Blick in eine einheitliche Vergangenheit, weg von der Welt, in der die Stimme jedes Einzelnen gleich ernst genommen wird in die höllische, wo nur einzelne Erhabene zu wissen meinen, was die Anderen denken sollen. Weit davon entfernt, etwas mit überlieferten Werten zu tun zu haben, genügt sich der Konservativismus der politischen Rechten in der egoistischen Weigerung, etwas von dem Güterreichtum, den man keinesfalls jemals erarbeitet, sondern „sonstwie“ sich angeeignet hat, an Andere abzugeben. In einem melancholischen Witz liesse sich sagen, dass man es umgekehrt im Scheitern auch bis zur Meisterschaft bringen kann, ohne dem Hang zur Abdrift zu den Autoritären, Zerstörerischen nachgeben zu müssen. So wie der Führer eher in Kauf nimmt, auch sich selbst zu zerstören und also seine Gefolgschaft zu ignorieren als von seiner Macht abzugeben, gibt es die KünstlerInnen im Scheitern, die frei bleiben von der Neigung, ihre Seele einem Teufel zu verkaufen.

Gleich einem Ring um den Planeten Saturn gibt es eine Kette der Unvernunft rund um die Erde, angefangen in nächster Nähe bei den Schweizern Blocher im Osten und Freysinger im Walliser Westen über Erdogan und Orban bis zu Le Pen- und Trumputin. Das statistische globale Ereignis des Faschismus der heutigen Tage wird kaum zurückgehen, auch wenn die Namen der Schamlosen wechseln. Sich selbst aufgeben heisst noch nicht, der Schamlosigkeit zu verfallen, aber, und das ist nicht viel weniger, mit ihr zu spielen. Es dreht sich ständig ums Spiel der Verführung, zu verführen und mit Lust verführt zu werden. Im Alltag benehmen sich einzelne Exponenten von rechts immer noch wie vernünftige Menschen und lassen sich kaum je gehen – aber ihre Statements sagen allesamt, sie wären gerne ein Hirt und eine Hirtin derjenigen, die die Scham verloren haben. Mit ihren Zielen wollen sie das Gegenteil der Befreiung, namentlich eine Enthemmung, die der Zerstörung dient. Die rechten Führer halten ihre Reden vor den ideologisch Verbündeten und vor dem Haufen der autoritären Charakter. Sie vermögen nicht wirklich viel, um die Erfolglosen zu verführen. Aber wenn man die Leute nur genügend stark kränkt, am besten indirekt, indem man die Behauptung in die Luft setzt, sie müssten doch gekränkt sein, ist es leicht, aus ihnen Mitläufer von autoritären Gruppierungen zu machen, ohne dass ihnen ein autoritärer Charakter zugeschrieben oder ihrem Verhalten eine pathologische Regression unterstellt werden müsste.

Man könnte meinen, dass sich dagegen nichts machen liesse, dass man es hinnehmen muss, wenn weltweit in den Gesellschaften 25% akut und weitere 25% im Modus der Latenz, und nur davon ist hier die Rede, destruktiven Führern huldigen – entweder weil die Massenphänomene mit einer stochastischen Folgerichtigkeit ihren Lauf nehmen oder weil das Ganze sich sowieso am Ende der Epoche der Aufklärung befindet, am Ende der diskursiven Vernunft, wo man darauf zu warten hätte, dass ein äusseres Ereignis die objektiven Verhältnisse verändere. Im Gegenteil! Es drängt sich die Einsicht auf, dass man niemals aufhören darf zu reden, auch dann nicht, wenn kein historisches Subjekt mehr dasteht, an das eine Rede sich wenden könnte. Die zwanglose Nötigung zum solidarischen Handeln im Gegenüber der Kumpels an den Arbeitsstätten ist seit langem schon verschwunden, und wer zum Broterwerb vor dem Bildschirm sitzt, kennt nur noch Systemfragen, die immer letztlich durch ihn oder sie selbst, also im Alleingang, eine Lösung finden. In einer solchen Welt zählt die grosse Rede nichts – um nichts weniger hat das unaufhörliche Reden einen wichtigen Platz. Das Ansprechen und Reden, auch in den entgrenzten Formen der Bilder, bilden einen Weg, die Einzelnen vor der Regression in die Zerstörungsphantasie zu bewahren. Allerdings muss die angetönte Norm und Idee im Auge behalten werden, dass der Text- oder Redefluss nicht von einer isolierten, allgemeingültigen Norm getragen werden darf, von keiner Lehre: wie das herkömmliche aufklärerische Reden, das im Kern zum Tätigwerden der grossen Gruppen anspornt, sich davor hüten muss, eine Lehre übertragen zu wollen, muss auch das Sprechen zu den Einzelnen frei sein von jeder Lehre, namentlich jeder moralisch-politischen. Anders gesagt: Sowenig sich die Theorie noch an ein allgemeines Subjekt richten kann und – wegen den historischen Erfahrungen – in keiner Lehre gipfeln darf, sowenig darf das Reden zum destruktiven Einzelnen unvermittelte Forderungen enthalten. Trotzdem kann man in einer naiven Volte den Einzelnen immer wieder zur Frage bringen, ob er wirklich all den Unsinn, den die Verführer und Verführerinnen auf der Weltbühne der Bildschirmmedien verbreiten, glaubt, oder ob er sich nur in dieser Brühe suhlt, weil er zu faul geworden ist, über den Rand hinaus zur Wirklichkeit hinüberzuschauen: steht dein Führer auf deiner Seite und vertritt er dich, wenn er behauptet, es hätte zu wenig Geld in der Staatskasse für das, was jetzt gerade gesellschaftlich gefordert wird, er aber zu den reichsten 2% des Landes gehört und es in seiner Sache, neben den folkloristischen Hobbythemen, doch immer nur um sein angerafftes Geld geht? – Man sieht, dass zwei gesellschaftliche Charaktertypen gleichgestellt und miteinander identifiziert werden, die empirisch verschieden sind, derjenige, der durch existentielle Erfahrungen verleitet sich selbst aufgibt und derjenige, der peu à peu sich nur noch an der Warenform der Güter der Kulturindustrie orientiert, so dass ihm sein Selbst wie beim ersten Typus so erscheint, als hätte er es in einem eigenständigen Akt aufgegeben (solange beim Konsumieren jemand etwas empfindet und zwischen den angebotenen Waren mit Lust unterscheidet, ist das nicht der Fall).

Das alles sind zweifellos leerlaufende Sätze eines Delirierenden, der sich verstandesmässig selbst im Wege steht. Auf einer bestimmten, bedrohlichen Ebene verstand man das Ungeheuerliche des Balkankriegs und versteht man den sogenannten Islamischen Staat, nicht weil es eine Ideologie gebe, die man in Zweifel ziehen und also diskutieren könnte, sondern weil die allgemeine Geschichte so lange noch nicht die der Menschen ist, als die Waffenproduktion zur systematischen Ökonomie gezählt und geduldet wird und in dieser fahrlässigen Duldsamkeit der Zivilgesellschaft die rohe Gewalt quasi mit Not immer wieder ausbrechen muss; nicht mehr zu verstehen ist aber, dass so viele Menschen an den Lippen ruinöser Charaktertypen hängen, die, wie sie in ihrer eigenen Erscheinung zeigen, nie jemals in ihrem Leben eine gute Sache in die Welt gesetzt haben. Man versteht es nicht – vermag aber im gleichen Zug nachzuvollziehen, dass es materielle Zusammenhänge gibt, die in kleinen, unscheinbaren Partikeln dastehen und alle Menschen weltweit betreffen. Und aus diesen Winzigkeiten im gewöhnlichen Alltag erwächst das Erschütterliche, immer weiter, die Wahlen von Grüseln, wenn man den kleinen Gebilden lässig gegenübersteht, nur weil man in einem Erschöpfungsmoment einmal meinte, man hätte sich selbst aufzugeben.

Gut möglich, dass man einem unausgesprochenen Moratorium ein Ende setzen und es also wieder sagen muss, dass der grössere Teil des Riesenhaufens an Produkten der Kulturindustrie nichts wäre ausser schlecht, dass man verzichten könnte auf die meisten Verlage, Konzertlokale, Fernseh- und Radiostationen. Bei der weltweiten Fehleinschätzung des Internets scheint es indes nur wenig realistisch, dass der andere, kleinere Teil öffentlich zu respektieren und zu diskutieren wäre – zu wenige zeigen sich bereit, ausserhalb des kommerziellen Verwertungszusammenhangs der angesprochenen Produkte diskursiv tätig sein zu wollen. Wenn man nur die Bande, die Verbündeten im Neuen Bund der Söldner gegen die Verwüstungen der Kulturindustrie aktivieren könnte und ihnen die Angst vor dem Internet abzunehmen vermöchte! Klarerweise müsste man sich auf die Kulturindustrie ausrichten, aber man darf es nicht, weil nach wie vor zu gelten scheint, dass sie nicht wissen, was sie tun, sowohl die Akteure und Produzentinnen wie die KonsumentInnen im umfassenden, alltäglichen Zusammenhang der Kulturindustrie. Aber nur so lange handelt es sich um einen Kampf gegen Windmühlen, als die Stösse sich gegen die Kulturindustrie als ein Ganzes richten; im Ernst der Einzelgebilde verankert sich die gewöhnliche diskursive Auseinandersetzung, beschränkt einzig durch die Dürftigkeit der Gehalte, die darauf aus ist, statt den Gedanken das Falsche abzusaugen, den deutenden Worten die Kraft zu nehmen (die adäquate Form eines Gebildes kanalisiert das Falsche und führt es ab). Wegen der Einförmigkeit der Produkte der Kulturindustrie, ihrer Warenform, müssen ihre „Analyseverfahren“ der statistischen Analyse der Big Data-Phänome ähneln: man biedert sich der Journalistik an und macht Ranglisten der Einzelstücke – und spricht aufmunternde Worte: in den siebziger Jahren sass ein jüngerer Nachbar nächtens vor Beizenschluss an meinem Säufertisch und fragte allen Ernstes, ob es okay sei, dass er die Tanzkapelle Nazareth gut finde, das ginge doch, oder – natürlich geht das, hier und jetzt gefragt, auch wenn in einem anderen, ernsteren Zusammenhang das Werturteil anders hätte ausfallen müssen. Man darf immer damit rechnen, dass mehr Verstand den Alltagsmenschen antreibt als er sich selbst zugesteht und als er gegen aussen zeigen will. Wenn die KonsumentInnen sich auch nur geringfügig bewegen liessen, hätten die Nationalisten mehr Mühe, ihre Unseligkeiten im Namen einer Klientel durchzusetzen, deren Willen sie nicht ausführen, umso lautstarker auszuführen vorgeben. Und dennoch. Das unglückliche Bewusstsein, das seine eigenen Vorstellungen nicht mit den Gegebenheiten der Realität zur Deckung bringt, kann mit Bildern, die das Reale mehr verklären als repräsentieren, geködert werden. Nicht vor ein Tribunal sollen die Unglücklichen geschleppt werden und nicht in ein Verliess verschleppt dem Geständniszwang ausgesetzt, sondern selbsttätig sollen sie dank der Verführung erste Schritte ins Reich des Rechts auf Einsicht wagen. Die ersten zögerlichen Schritte zum Willen der Selbstverständigung werden schon Garantie dafür sein, dass der Blick auf die Welt, sei es der auf verbindliche Gebilde oder solche der Kulturindustrie, auch ohne allen wilden Drang zum Zerstörerischen gelingen und Bestand haben kann.

Ursprung von GOT

Samstag, 22. April 2017

Der Autor von Game of Thrones hat möglicherweise Walliserblut in den Adern. Nicht nur platziert er die Herkunft des bewunderten Stahls mitten in der Walliser Hauptstadt, auf Valeria, sondern entleiht selbst den Thron, um den sich in der opulenten Oper alles dreht, dem Zentrum der Walliser Landschaft, dem radförmigen, gezackten Teil der Aiguilles Rouges d’Arolla.

Dent Blanche, Nordend, Matterhorn, Dent d’Hérens
Aiguilles Rouges d’Arolla
(Mont Fort, 7. Juli 2010)

Tiefensoziologie

Mittwoch, 7. September 2016

Soeben in der Berner Tageszeitung Bund ein Interview mit treffsicheren Bemerkungen, Fragen: Alexandra Kedves, Antworten: Feridun Zaimoglu.

http://www.derbund.ch/kultur/theater/ich-sehe-blutige-kaempfe-auf-uns-zukommen/story/21752470

„Die Burka-Frage: Das ist doch vor allem ein Instrument im Überbietungswettbewerb von rechts. Die Manipulation und Volksverdummung feiert bei uns fröhliche Urständ. Gern schimpft ­­man über exotische Schurkenstaaten oder Fremde. Oder stilisiert das Minarett zum Zeichen der Militanz einer Religion wie in der Schweiz – da bin ich ­fassungslos. Ich glaube: Die wahre Gefahr heute ist der ungehemmte Finanzkapitalismus. Man schaue auf die konservativen Nebelredner, sie beherrschen das Handwerk der Lüge perfekt und lenken von der eigenen Schäbigkeit ab. Die Wahrheit von der sich öffnenden Schere, vom fest zementierten oben und unten wird verbrämt. Grosse Gesellschaftsschichten erodieren und werden angesteckt von einer tödlichen Melancholie. Und das Drücken von Empörungstriggern, das Auslösen lumpenvaterländischer Gefühle funktioniert wie Valium fürs Volk; dieses sucht Trost in der Wahl von AfD oder Front national.“

Es lohnt sich, das ganze Interview zu lesen.

„Der Bund“ Essaypreis

Mittwoch, 6. April 2016

Soeben direkt live auf der Website der Zeitung Der Bund die Veranstaltung der Verleihung des Essaypreises.

Anna Sutter aus einer verborgenen Ecke Argentiniens: Herzliche Gratulation zum Text, zur Präsentation – und zum Preis!

Zusatz nach der eigentlichen Lektüre des Textes anderntags: Die Kurven und Wendungen sind vorzüglich und treffsicher genommen, stossend möglicherweise die Pirouette mit der Geburtstagsparty (indes unvermeidlich bei der gehorsamen Befolgung der gegebenen Fragestellung). Man könnte das Terrain der Subjektivität jetzt etwas verschieben und nach dem Rätselhaften fragen, das im Innersten des Systems seine Kräfte so mächtig entfaltet, dass offenbar buchstäblich alle von ihm in Beschlag genommen werden, ausser in vorübergehenden Momenten diejenigen, die dem blossen Willen folgen, sich anzustrengen, um überhaupt zu einem ersten schüchternen Blick dagegen anzusetzen. Ist der Name der Warenform endlich ins Spiel gebracht, wird es leicht, darüber zu sprechen, ob es heute noch möglich ist, Gebilde in die Welt zu setzen, die ihr nicht gehorchen (wenn es auch weit weniger schnell einsichtig wird, welche es denn sind). Es gibt sie immer noch, als förmliche Ausnahmen (es sind dieselben Gebilde, die die Künste vorantreiben und sowohl die Gewalt in den Gesellschaften abbauen wie die Voraussetzungen der Freiheit in ihnen absichern), und wer sie aufstöbern will, mit der genannten auf sich genommenen Anstrengung, ist nicht mehr blosse Funktion des mystifizierten Ganzen. Dass aber in einem solchen Verhalten in peinlicher Weise immer noch von einer besonderen Persönlichkeit gesprochen werden müsste, die sich gegenüber phantasierten Anderen absetzt, wird durch die veränderte Formanlage in der Fragestellung, wo die gegebenen Objekte im Zentrum stehen, mit Fug überflüssig.

Schweizer Moralphilosophie

Sonntag, 5. Juli 2015

Von einem wird gesagt, er sei daran, vom rechten Weg der Moral abzukommen. Eine wird angewiesen, sich um die Sache zu kümmern. Sie zögert. Im Vorbeikutschieren sieht sie, in Ursellen, wo ich selbst zwei Wochen einstens hauste, wie der Erwähnte am Rand einer Gruppe den Arm um die Taille eines Mädchens gelegt hat und ein Ende ihrer beiden Zöpfe in den Fingern drückt. Das unverhofft Gesehene treibt sie an, ihrer Aufgabe nachzugehen: „So faht’s äben a, am Züpfenändi, prezis!“ – Rudolf von Tavel, Der Frondeur Seite 217, Bern 1929.

Der ästhetische Individualismus des Berner Literaturprinzen erscheint als eine Sache der Bigotterie, gänzlich frei sowohl von der Idee der Gesellschaft wie der einer künstlerischen Moderne, und Rudolf von Tavel war nur 16 Jahre älter als James Joyce…

Die Alp hier heute

Freitag, 26. Juni 2015

Soeben auf srf2 von Alexander Grass: Melkstand vollgeschissen, Hütte kalt – und der Senn ist glücklich.

Eine Sendung so faszinierend wie eine Oper von Boulez zu hören gewesen wäre. Bravo bravissimo! Ma merde: wie sind wir Dummköpfe hilflos gegenüber der harten Realität, erscheint sie uns doch nur noch als schön oder nicht schön. (Ein gutes Spässchen beiseit: dass die Nomaden vor tausend Jahren auch auf der Suche von Quarzen gewesen sein wollten…) Aber die Sendung selbst war unbeschadet. Selten habe ich so viel über ein Gebiet gelernt, in einer Stunde, das ich seit fast dreissig Jahren im Augenschein habe.

Maurice Chappaz Lesebuch 2012

Montag, 28. April 2014

Maurice Chappaz, In Wahrheit erleben wir das Ende der Welt, Herausgeber Charles Linsmayer, Verlag Huber 2012.

Das biographische Nachwort ist nicht besonders diskussionslustig abgefasst und weicht der entscheidenden Frage aus, was denn eine Lektüre nach 2012 in den Werken von Chappaz zu suchen hätte. Die buchhalterische Kargheit lässt einen allein, auch wenn man sich über die ermöglichte Einsicht ins Empirische des Dichterlebens freut, wie es sich der Reihe nach zeigt. Doch obwohl Linsmayers Beilage trocken und immerzu korrekt erscheint, ist sie zum Nachschlagen letztlich unbrauchbar, da eine Bibliographie fehlt und man zu den Publikationsdaten doch wieder nur via Wikipedia findet.

Die kritische Deutung ist keine psychiatrische Sitzung, in der verständnisvoll die familiären Konstellationen abgefragt würden. Sie spürt den realisierten Gebilden nach und klopft sie zähen Blickes ab, um die Defizite, die sie heute verdunkeln, freizulegen. Die affirmative Rezeption hatte den freien Geist von Maurice Chappaz hervorgehoben, der sporadisch zu einem Hippyleben im Wallis avant la lettre geführt hatte, von Sierre bis Raron. Dieses Bild war in den Siebzigerjahren, als die entscheidenden Werke am Erscheinen waren und 1976 in Les maquereaux des cimes blanches gipfelten, nötig, um den Dichter vor der ungeheuer primitiv geführten Kampagne gegen das letzte und gegen ihn selbst zu schützen. Wie ein verschlafenes Nest aufscheuchend erscheinen die Zuhälter der hohen Zinnen in eine Reihe von Publikationen hinein, die man ausnahmslos als Hymnen aufs Wallis zu qualifizieren hat, von den munteren Texten über die Walliser Lebenstypen und die Arbeiter der Grande Dixence bis zum Naturgesang auf die Haute Route, wenn man denn überhaupt damit rechnen darf, dass die Walliser Bevölkerung diese Kunstwerke zur Kenntnis genommen hatte. Nur Grossvater war vorbereitet, denn auf wen wenn nicht auf ihn selbst münzte der Neffe seines Chefs die Zeilen schon 1960: „Mich ekelte an / dieser Wanst von Stall als er Grand Hotel wurde“? Doch er und Grossmutter hielten zu Chappaz und Corinne Bille und zeigten mit dem Daumen, wo ich sie gerade jetzt und heute auf der Strasse treffen könnte.

Ein Nestbeschmutzer sieht in den Augen der scheinbar Angegriffenen zuviel. Chappaz aber muss man umgekehrt vorwerfen, von Anfang an und immer wieder, zu wenig zu sehen: dass er vom konkreten Zusammenhang, in dem die Dinge geschehen, zu früh abstrahiert und folglich nur quasi kulturkonservativ jammert statt eine substantielle Kritik anzureissen und diskursiv durchzuführen. (Man kann nur hoffen, dass die Filiation durch die Nähe zum gefährlich tief in den Körper der Walliser Bevölkerung eingegrabenen Bisse Brun de Savièse bei den Chappaz letztenendes nicht derjenigen ähnelt der Strawinskys; Chappaz Schwiegervater war in der Tagespolitik aktiver Sozialist und sein Onkel-Vater Maurice Troillet lange Zeit eine Lokomotive des Walliser Wandels im Dienste der Gewöhnlichen, auf dubiosen antiaufklärerischen Pfaden keiner der Vorgänger.) Im Krieg führte er als Leutnant die Truppe der einheimischen Bauernkollegen als Grenzwächter im oberen Val de Bagnes, auf dem Terrain derjenigen Alpen, deren Hauptställe ganz ohne Holzzusätze aus Trockensteinen gebaut sind. Den See gab es noch nicht, und dennoch gingen die Wege auf beiden Seiten des obersten Tales auch bei den sonderbaren Kuhställen vorbei; zumindest Giétroz musste er gesehen haben, und als er von Fionnay aus, einem Nest abgetrennt vom ganzjährig belebten Tal durch einen Urwald, den die Touristen nur deswegen nicht aus dem Postauto zu bewundern verstehen, weil sie nach Lourtier an ihren iThumps nuckeln, zum Col de Cleuson ging, um mögliche Wüsteneindringlinge auf dem Gletscher abzufangen, ging es auch an den Ställen von Sovereu vorbei. Das nenne ich schlechtes Hinsehen, wenn einer mehrere Jahre lang als Jäger ein kleines Gebiet behaust und nichts von den Alltagsbesonderheiten – dem Älplerleben – zu berichten weiss.

Der Vorwurf des Zuwenig ist immer auch auf den Abbruch des Jurastudiums bereits nach zwei Jahren gerichtet. Der Abbruch selbst wäre nicht zu kritisieren, wohl aber der Umstand, dass sich Chappaz gegenüber den Gehalten des Fachs komplett ignorant verhalten hat. Es spielt keine Rolle, ob man sich in den Domänen der Geistes-, Sozial-, Rechts- oder Wirtschaftswissenschaften bewegt, denn alle sind sie auf dieselbe Realität ausgerichtet, von der sie sei es historisch oder strukturell grosse Stücke zu berichten wissen, auch dann, wenn das reguläre Studium auf ein eingeschränktes Hantieren hin ausgerichtet ist. Chappaz ignorierte diese Gegebenheit radikal, und mir scheint, er missachtete in der Kritik am Wallis viele Vorgänge des gesellschaftlichen Fortschritts, die man eben im Augenschein zu halten hätte. Sein dürftiges Gebaren diente häufig nur dem einen: so schreiben zu können, dass man immer über der Sache steht und immer recht hat. Seine Tochter rettet die eingetrübte Ehre durch den Beruf der Philosophielehrerin, wie er in der Deutschschweiz seit langem verboten scheint. Die intellektuelle Korrespondenz zwischen Maurice und Marie-Noëlle würde mich nicht wenig interessieren: vermochte er überhaupt historisch situierten systematischen Begriffszusammenhängen, also philosophischen Fragen im eigentlichen Sinne, zu folgen oder warf er sie unbesehen in seinen berüchtigten Topf der Forderungen des Zweiten Konzils, die ihn nur zu Polemik, zu Ironie und ewig repetiertem Sarkasmus verleiteten?

Auch sein Verhältnis zur Musik ist eiseskalt und geht kaum je weiter als bis zum Gregorianischen Choral, dessen Entstehungs- oder Schöpfungsweise er ohne viel Verständnis, ohne vieles Nachfragen mystifizierte. Er dünkt einen deswegen möglicherweise borniert, weil er einerseits nicht zur Kenntnis nahm, in welcher Weise die Mönche vom Saint Bernard künstlerisch scharf gewesen sein mussten, wenn sie den Zappa des 15. Jahrhunderts, Dufay, dazu aufforderten, extra für sie neue Stücke zu schreiben, andererseits ausgerechnet einen von ihnen 1979 eingeladen hat, für Mamma Chappaz die Totenmesse zu lesen, aus der Eiswüste heruntergepilgert und von Siders dann wieder nach Veyras hinauf.

Mindestens einmal aber erscheint uns seine theoretische Phantastik realitätsgerecht und bedenkenswert, im Pamphlet „Ich wünsche mir s i c h t b a r e Tschernobyls“, unterzeichnet Weihnachten 1987. Der Gedanke, der nicht ganz frei von der Katastrophenparanoia ist, dem bösen Wunsch also, dass bei meinem Sterben gefälligst alles andere auch unterzugehen hat, läuft darauf hinaus, dass nur dann, wenn sichtbare ökologische Unfälle passieren, gesellschaftlich der nötige Druck zu entstehen imstande ist, unter dem die entscheidenden Regulierungen auch geschaffen werden. Sind wir heute nicht wieder Zuschauer in einem Prozess der Weltpolitik, wo die Entscheidungsträger allenthalben zu Boden blicken, wenn sie Regulierungen beschliessen sollten, die das abzuwehren vermöchten, was in den objektiven Wissenschaften ohne Eingriffe um den ganzen Globus herum vorausgesagt wird?

Das Lesebuch ist eine verdankenswerte Hilfe; es präsentiert einem aber nur in Ausnahmen denjenigen Chappaz, der noch heute lesenswert ist. Das wäre nach wie vor derjenige, der sich in den Einzelwerken eingegraben hat und den man in der Weise aufspüren muss, dass man sie als isolierte abtastet (es handelt sich immer um Stücke von Poesie, die bekanntlich nicht linear durchzulesen ist). Es besteht keine Notwendigkeit, die eigene Lektüre als Lobgesang und den Autor als Ausnahmekünstler zu begreifen. Gerade in Momenten, wo man nicht einverstanden ist und sich gegen ihn wehrt, wirft das aufmerksame und wache Lesen einen Nutzen ab, sei es künstlerisch poetisch als Wundersamkeit aus einer vordergründig kunstarmen Region, sei es als Einsicht ins widersprüchliche Funktionieren einer Gesellschaft, die vor nicht gar langer Zeit im Abseits stand und von einem erst dadurch in die halbwegs vernünftige Diskursgemeinschaft hineingeschmuggelt werden konnte, indem er es noch verstanden hatte, ihr einen Kinnhaken zu verpassen.

Identische Version mit Bildern und Links: http://www.ueliraz.ch/rezensionen/chappaz.htm

Adorno in der Kioskauslage

Montag, 27. Januar 2014

Letzte Woche erhielt ich den neuesten Germanistenadorno zugespielt: Martin Mittelmeier, Adorno in Neapel – Wie sich eine Sehnsuchtslandschaft in Philosophie verwandelt, Diss. 2012, München 2013. Unter Umgehung aller Anstrengung der Theorie und in Verschwiegenheit, trotz des Untertitels, gegenüber dem geschichtlichen Ort der Philosophie wird einem Schriftsteller der deutschen Hochkultur in die Heimarbeit hineingeleuchtet, wie es das deutsche Volksblatt Stern jede Woche auf gleiche Weise neu nicht besser oder schlechter macht (in der letzten Ausgabe blätterte ich vor vierzig Jahren). Fintenreich werden von Anfang bis zum Schluss mögliche Einwände gegen die Kryptohypothese ironisiert, Ferienreisen könnten auch in einem so komplexen Werk wie dem Adornos eine entscheidende Bedeutung haben, sodass man sie gar als den Kern ihres Aufbaus verstehen müsste. Dabei wird der Begriff der Konstellation aus den Feldern seines gewöhnlichen und vielfältigen Gebrauchs herausgenommen und in die neapolitanische Ferienlandschaft der 1920er Jahre eingelassen, als hätte der Seilbahnfahrer Wiesengrund-Adorno ihn sich auf der untersten Decke des Vesuv-Kraters höchstpersönlich angeeignet.

Wird den Gehalten der Theorie Adornos durch paradigmatische Privatgeschichten ausgewichen, folgt der Aufriss der akademischen Dissertation einem Verfahren, das erst seit kurzem technisch möglich ist und dem Ausweichen einen zusätzlichen Schub verpasst: Mittelmeier verzichtet darauf, die wenigen ausgewählten Werke Adornos an isolierten, einheitlichen Stellen zu explizieren, zu diskutieren und zu deuten. Vielmehr folgt er dem seitengemässen Output, den ihm der Algorithmus der digitalen gesammelten Werke Adornos aufs gewählte Suchwort der Konstellation hin anbietet und verknüpft die Stellen mit den Erlebnissen, bis erst nach der umständlichen Reihung der Bruchstücke, die als vereinzelte Adornos Intentionen nur noch schwach erahnen lassen, ein Ganzes dasteht, das Mittelmeiers These rechtfertigt. Von einer Notwendigkeit, die die Theorie mit der geschichtlichen Wirklichkeit verbindet, kann dann nicht mehr die Rede sein, und Adorno wird peu à peu zu einem jener gehobenen und vornehmen Gesellschaftsautoren, aus deren Leben die Kioskliteratur parallel zur astrologischen einmal diese Facette beleuchtet wie ein anderes Mal eine andere.

Der Distel Rache

Sonntag, 10. November 2013

Hier die billige Empfehlung auf einen dieser seltenen Artikel, die einen wie frisch geduscht in die Welt blicken lassen, indem endlich wieder einmal klar gemacht wird, dass man die Bretter der Religion tel quel aus dem Weg räumen muss, wenn man die effektiven Probleme der Gewalt begrifflich zugänglich machen will:

http://www.journal21.ch/terror-aus-zerschlagenen-staemmen

Arnold Hottinger bespricht im jungen, aber jetzt schon ehrwürdigen Journal 21 unter dem Titel „Terror aus zerschlagenen Stämmen“ extensiv, ja leidenschaftlich das neue Buch von Akbar Ahmed «The Thistle and the Drone. How America’s War on Terror became a Global War on Tribal Islam» (Brookings Institution Press, Washington D.C., 2013). Man bereut es nicht, sich zur Lektüre des Artikels etwas Zeit reserviert zu haben.

Ruinenhaftung

Samstag, 24. August 2013

Immer mehr Menschen machen die Erfahrung, dass sie in der Welt auf Gebilde stossen, gezielt oder unverhofft, die von einem Mitglied der eigenen Familie herrühren, indes frei von allem Privaten sind. Sie können singulär und abgesetzt in der natürlichen Landschaft oder in einem Vermittlungszusammenhang in einer dörflichen oder städtischen stehen – allen ist gemein, dass unweigerlich die Zähne der Zeit an ihnen nagen, die der Kultur wie der Natur, und sie früher oder später als Zerfallsprodukte erscheinen. Im Erlebnis der Begegnung dämmert dann die Erfahrung, dass man in der Verantwortung stünde wie die Mutter, die auf dem Spielplatz abends die Gerätschaften wegräumt, die ihr eigenes Kind tagsüber benutzte. Man sieht plötzlich den Nutzen der Dinge nicht mehr in der Gesellschaft, für die sie in harter und aufopfernder Arbeit geschaffen wurden, sondern im individuellen Arbeiter, der seine Lebenszeit quasi egoistisch in ihnen realisierte. Die Ruinen schauen einen an, als gäbe es für einen selbst nun die familiäre Verpflichtung, das Störende an ihnen, das auch die beeindruckendsten Exemplare haben, wegzuräumen.

Derrida Biographie

Montag, 18. März 2013

Soeben gelesen Benoît Peeters, Derrida, Eine Biographie, Berlin 2013, ein valables Pendant zu Stefan Müller-Dohm, Adorno, Eine Biographie, Frankfurt 2003 (beide Suhrkamp), frei von nicht erwünschten Tendenzen zur Interpretation und hürdenlos wie rasant zu lesen (und via Register wiederzulesen). Wer Derrida hinter sich hat ohne grosse Resten, ist von Haus aus bedient mit Fragen, und er wird hier noch einmal aufgemuntert, wie es sein soll, zu den Texten zurückzugehen. Der allgemeinste Eindruck, den es zu nennen gilt und im Auge zu behalten gälte, ist aber doch der, und auch das ist ein Vorzug, dass die negativen Tendenzen gleichwie die positiven in ihren Richtungen verstärkt werden – das Buch verändert die eigene Sichtweise auf das Werk des Philosophen nicht, und es korrigiert nichts an der Meinung, dass sein Fehler nur der ist, im Verhältnis von Literatur und Philosophie die falsche Wegrichtung gewählt zu haben. Besser verständlich ist nun Derridas politische Einstellung, detailliert aufgezeigt von Algerien an, ohne dass man weiterhin munkeln dürfte, er hätte sich in Fragen der politischen Haltung zweifelhaft verhalten. Erstaunlich, wie gefestigt das Verhältnis zu Althusser war, von Anfang bis zum Schluss. Leicht schlechter verständlich dünkt mich nach der Lektüre Derridas Verhältnis zu Heidegger, weil seine unangenehmen Rettungsversuche übergangen werden und man also nichts Zusätzliches, eben Biographisches, Privates oder Untheoretisches über diese seltsame und also dunkel bleibende philosophische Motivierungen erfährt.

Paradies

Dienstag, 11. Dezember 2012

Nun auch das Paradies gesehen und Dante dann hurtig wieder verlassen (ein Titel italienisch, einer lateinisch, einer deutsch…).

Die Commedia ist nichts weiteres als ein Widerschein dessen, was die Gesellschaft 650 Jahre später in einem langen Epochenübergang entscheidend zu prägen beginnt, Lehrstückwissen aus Fantasyspielereien. Der stärkste Impuls zur Produktion des Werks war die Paranoia des Autors; seine grenzenlose Selbstüberschätzung machte es ihm leicht, 100 Gesänge lang die Welt im ganzen auf sich selbst zurückzubinden.

Ich habe jede Zeile abgegrast, weil ich die Stelle suchte, auf die sich meiner, durch einen Zeitungsartikel verführten Meinung nach die Pomatter Dichterin Bacher im Gedicht Was ferfaat bezieht. Es gibt eine Handvoll Bilder mit Booten, Segeln oder Flossen, aber in keinem einen Bezug zur Seele oder zum Gewissen. Dantes Mast blieb lebenslang sturmgeknickt; was im Werk philosophisch sein könnte erscheint schulkindernaiv und nirgends anregend.

Purgatorium

Montag, 10. Dezember 2012

Das Purgatorium liegt hinter mir, mit Dante geht es weiter in die Komödie, die heute besser hiesse: Die Eifersucht der Beatrice. Das Buch erscheint als eine der Quellen der Bigotterie und Kitschanfälligkeit einer ganzen Kultur.