Archiv für den Monat Mai, 2012

Haddad, Leroux, Adamek

Montag, 28. Mai 2012

Soeben auf France Musique Concert donné le 15 Mai 2012 au Conservatoire à rayonnement régional (CRR) de Paris – Auditorium Marcel Landowski. Production de l’Ensemble 2e2m.

Saed Haddad, The sublime, Pour piccolo, 2 clarinettes, cor, trompette, trombone, piano, clavecin, célesta, 2 percussions, violon, alto, violoncelle, contrebasse. – Ein spannendes kleines Stück, enthaltend zwei überzeugende Passagen mit Kuhglocken. Nicht auf Neues vorwärtsdrängend, das Gefundene um so besser in abwechslungsreiches Licht rückend. Die Musik erscheint dramatisch, aber die Kompositionsweise ist es in diesem Stück noch nicht: ein Kammerorchester spielt gute Musik für grosses Orchester.

Philippe Leroux, Ailes, Pour baryton, flûte, hautbois, 2 clarinettes, basson, cor, trompette, trombone, piano, percussion, 2 violons, alto, violoncelle, contrebasse. – Viel Können ist im Hintergrund spürbar, aber der Bariton wirkt aufdringlich und penetrant, wenn nicht gar ekelhaft geschwätzig. Da mir die Musik selbst nicht schlecht gefällt, träume ich von einer Konzeption mit einem Glarner Hirtenmädchen. Ich war einmal mit einer solchen eine schwangere Kurdin herüberführen, das war schön.

Ondrej Adámek, Dîner, Pour peintre, flûte, clarinette, cor, trompette, harpe, percussion, sampler/piano, 2 violons, alto, violoncelle, contrebasse. – Gesendet wurde das dreissigminütige Stück auf 17 Minuten gekürzt, weil es zu viele rein akustisch nicht zu verstehende szenische Elemente enthält. Die solcherart entschlackte Musik wirkt wie ein Reportagesound über ein Ergotherapieseminar. Ich musste mal in Montana auf einem Kinderstühlchen sitzend die nackten Zehen nach links drehen, zwanzig Zentimeter über dem Boden, dann nach rechts. Ich nahm sofort Reissaus bis ins Weite zu den Eichhörnchen, vollbepackt im Körbchengips.

Marco Stroppa: Re Orso

Dienstag, 22. Mai 2012

Gestern Abend direkt live auf France Musique aus der Opéra Comique, Paris, Re Orso von Marco Stroppa.

Grandios komponiertes Singspiel, von dessen Inhalt ich keine Ahnung habe, ausser dass das Libretto aus dem 19. Jahrhundert stammt und aus einer Phantasie übers Altertum bestehen soll. Beeindruckend, wie an einzelnen Stellen die Expressivität der theatralen, traditionell opernhaften Singstimmen von der Elektronik aufgenommen und über die Spitze des Möglichen hinausgetrieben wird.

Nach einer halben Stunde zitathafte Anspielungen, auch in biederer Tonalität mit vorüberziehender Langeweile: an Brecht/Weill konnte man denken, inklusive gestopfter Trompete (wie ich diesen Sound hasse…), aber mehrmals in kleinen Passagen oder blossen Wendungen auch an Zappa.

Nach 40 bis 45 Minuten im Anfang des zweiten Aktes fast zehn Minuten lang zappalachische Musik, dann ein Bruch mit anschliessender elektronischer Tonleiter, die einen zur Besinnung bringen soll, glockenschlagerisch. Incipit Papa von Rom et al.: „Ego te absolvo.“ Irgendetwas Tragisches musste vorgefallen sein, das jetzt seine Verklärung erfährt. Warum ich als Zuhörer davon in Kenntnis gesetzt werden soll, weiss ich nicht – und brauche es auch nicht zu wissen. Die Stimmen singen quasi metaopernhaft, und endlich geschieht der Übergang in eine elektronische Stimmung, in der die Idee der alten Oper nur noch wie Meeressedimente aufscheint. Das Stück endet in einem Gang durch ein paläontologisches Museum, im Einerlei irgendwelcher Fundstücke, in einer Luft, als ob mein Vorfahre Rütimeyer zu Basel immer noch Darwin anzumahnen vermöchte, dem Antichrist nicht voreilig zu viel Platz freizuschaffen.

Darauf folgte eine Coda mit Solostimme, Akkordeon und dezenter Hintergrundelektronik, die die Oper sinnvoll und schön abrundete, auch ohne dass ich von ihrer inhaltlichen Notwendigkeit etwas mitbekommen hätte. Im Studiogespräch eine Viertelstunde später sagte der Komponist, das Akkordeon stünde für die Stimme oder die Stimmung des Volkes; man spielte zwei Stücke ab Platte, ein interessantes mit Orchester und ein Klavierstück, das einem Hang zur Tonalität offenbar nicht zu widerstehen vermag.

Vincent Carinola

Montag, 14. Mai 2012

Soeben live auf France Musique Concert enregistré le jeudi 10 mai à l’Auditorium Antonin-Artaud d’Ivry-sur-Seine, dans le cadre du festival Extension, OEuvres de Vincent Carinola (né en 1965).

Appel (bande seule, 2011)

Klothein, pour harpe (2006), Nathalie Cornevin, harpe

Un artiste du trapèze, pour violon et clarinette (2011), Anne Mercier, violon, Eric Porche, clarinette

Toucher, pour thereminvox, ordinateur et dispositif de diffusion 6 canaux (2009), Claudio Bettinelli, thereminvox

Le Contorsionniste, pour violon, clarinette, harpe, percussion et électronique (2011), Anne Mercier, violon, Eric Porche, clarinette, Nathalie Cornevin, harpe, Claudio Bettinelli, percussion

Devant la loi, pour violon et dispositif électroacoustique (2005), Anne Mercier, violon

Un équilibriste, pour harpe et vibraphone (2011), Nathalie Cornevin, harpe, Claudio Bettinelli, vibraphone

Tourmaline, pour clarinette (2009), Eric Porche, clarinette

Parade, pour violon, clarinette, harpe et percussion (2011), Anne Mercier, violon, Eric Porche, clarinette, Nathalie Cornevin, harpe, Claudio Bettinelli, percussion

Enno Poppe gestern hatte pas mal von Erinnerungsstücken aus der Fernsehkinderwelt gezehrt – hier aber bei Vincent Carinola erlebte man das Kindische hautnah und beinahe unaufhörlich, immerhin dann unterbrochen, wenn keine Elektronik im Spiel war. „Mein armer Kopf!“ Soll man Bud Spencer zitieren oder geradewegs DRS2 erwähnen?

Zusatz: Devant la loi hat mir nicht schlecht gefallen, als hätte ein anderes Wesen eine schützende Hand übers Schreiben gehalten.

Enno Poppes IQ

Montag, 14. Mai 2012

Gestern auf SWR2 Schwetzinger Festspiele 2012:

Enno Poppe: „IQ“, Testbattarie in 8 Akten, Libretto von Marcel Beyer.

Klangforum Wien, Musikalische Leitung: Enno Poppe, (Uraufführung vom 27. April).

Ein kindgerechtes Fernsehcabaret der 1970er Jahre. So nervig, dass ich nicht einmal eingeschlafen war.

Tan Dun, Claude Debussy

Freitag, 11. Mai 2012

Gestern Abend auf France Musique live direct du Théâtre du Châtelet: Fabrice Moretti, Saxophone alto*, Anssi Karttunen, Violoncelle**, Patrick Messina, Clarinette***, Orchestre National de France, Tan Dun, Direction.

Claude Debussy, Rhapsodie N°2 en mi bémol majeur L 104 (1901, 1908)*. – Das schlechteste Werk von Debussy.

Tan Dun, Intercourse of Fire and Water (1994)**

Claude Debussy, Rapsodie N°1 en si bémol majeur L 116 (1909,1910)***.

Tan Dun, Death and Fire, Dialogue de Paul Klee (1992), 1- Portrait, Insert 1- Animals at full moon, Insert 2- Senecio, Insert 3- ad Parnassum, 2- Self portrait, Insert 4- Twittering Machine, Insert 5- Earth Witches, Insert 6- Intoxication, Insert 7- J.S Bach, 3- Death and Fire.

Tan Dun schreibt eine Musik, die als eine Herausforderung wirkt, der man sich ohne weiteres Murren stellen sollte. Beide Stücke irritierten mich stellenweise, weil es mich dünkte, die Musik würde fast hundert Jahre zu spät geschrieben worden sein, und Ignoranz gegenüber dem, was musikalisch an der Zeit ist, scheint mir der gesellschaftlichen Ignoranz überhaupt gleichzukommen. Die kompositorische Kraft zeigt sich indes in allen Partien, so dass der Kick in eine noch ungehörte musikalische Welt ungetrübt genossen werden kann.a

Lanza, Monteverdi, Traversa, D’Angiolini, Bulfon

Montag, 7. Mai 2012

Soeben live auf France Musique Concert enregistré le 5 avril au Quartz de Brest, Ensemble Sillages.

Mauro Lanza (né en 1975), La Bataille de Caresme et de Charnage (2012, création). – Lieber nicht noch einmal hören müssen. Wer nie ausserhalb der Stadt war, schätzt vielleicht die erste Begegnung mit Geräuschen des Holzsägens. Berlusconimusic.

Claudio Monteverdi (1567-1643), Se i languidi miei sguardi (Lettera amorosa), extrait du VIIe Livre de Madrigaux). – 56 Minuten Monteverdi, und das Konzert wäre gerettet gewesen.

Martino Traversa (né en 1960), Manhattan Bridge – 4:30 am (2008). – Das Stück hat mir von der ersten Sekunde an bis zur letzten sehr gut gefallen, aber die Musik erscheint mir alt und mutlos.

Giuliano D’Angiolini (né en 1960), Ho visto un incidente (1991) pour voix seule. – So phantasiere ich, wenn der Weg über eine mehr oder weniger steile Geröllhalde führt. Alles hübsch, aber ohne Zugang zum Allgemeinen.

Stefano Bulfon (né en 1975), Die Art des Meinens (2012, création, commande de l’Etat pour l’ensemble Sillages). – Man sollte aufhören, Walter Benjamin zum Gespenst zu machen. Er war ein gewöhnlicher Bürger der Philosophie, und man kann zu seinen Statements sowohl positiv wie negativ klar Stellung nehmen.

Ligeti, Murail, Messiaen, Benjamin

Freitag, 4. Mai 2012

Soeben direkt live auf Bayern 4 Veranstaltung der musica viva, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Leitung: George Benjamin, Solist: Pierre-Laurent Aimard, Klavier.

György Ligeti: „Lontano“

Tristan Murail: „Le désenchantement du monde“ (Uraufführung). – Das Werk zeigt sich wie ein musikalischer Offset-Druck der Musiksoziologie von Max Weber, „Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik“, einer kurzen Schrift, die als Zusatz ganz anders als die ökonomischen Studien dasteht. Grandios in Murails Musikstück ist die Entfaltung des fragwürdigen, irritierenden Anfangs zum beeindruckenden langen Ende. Murail hat den Bann gebrochen, unter dem die Lektüre jenes Werkes Webers zu einer Apologie der Papiermusik von Richard Strauss führen musste.

Olivier Messiaen: „Réveil des oiseaux“

George Benjamin: „Palimpsests“. – Obwohl diese Stück nichts mit Max Weber oder dem eben gehörten Werk von Murail zu tun hat, darf in diesem Zusammenhang gesagt werden, dass die Lektüre der wenigen Seiten von Webers Musiksoziologie einem Entziffern eines Palimpsests nicht wenig ähnelt, weil in ihnen die Werke der Musik statt als lebendiger Ausgangspunkt der Analyse nur wie längst begrabene erscheinen.

Ein Luxuskonzert, gar wunderschön: Es sollte jede Woche an einem Ort in Europa oder anderswo ein so exquisites Programm gespielt werden, das direkt live oder zeitlich versetzt auf allen Kabelnetzen abgehört werden könnte.