Archiv für den Monat März, 2008

Der zugefrorene Fluss

Sonntag, 30. März 2008

„Der zugefrorene Fluss“, Paris 1990, ist ein grossformatiger Fotoband von Olivier Föllmi, den ich vor Jahren geschenkt bekommen hatte. Er dokumentiert den Schulweg eines elfjährigen Schülers und seiner achtjährigen Schwester im Zanskar – nicht den täglichen, aber den um nichts weniger haarsträubenden nach Hause in die Ferien. Jetzt kann man diese spektakuläre Eiswanderung mit einem anderen Fotografen, aber unter denselben Bedingungen, im Internet verfolgen:

http://picasaweb.google.com/toffi.photos/
ZanskarZimnPEchodAdaruNor2007

Leopold Bloom (Uli isses)

Freitag, 21. März 2008

Bis vor nicht sehr langer Zeit war das Wissen über den Alltagsmenschen eine Terra incognita auf den Landkarten der Wissenschaften und der Philosophie, und auch der Alltagsmensch selber träumte immer davon, wie es doch wäre, Recht auf Einsicht ins gewöhnliche Verhalten und in die Vorstellungswelten der nächsten und der weiter entfernten Nachbarn bekommen zu dürfen. Inzwischen ist dasselbe da, und es ist so weit wie nur vorstellbar ausgebreitet, alle Einschränkungen auf die Domänen der Wissenschaften und der Philosophie hinter sich lassend. Auf den privaten Homepages war nur zögerlich etwas zu erfahren, und auch die Blogs sind für die gewöhnliche Masse immer noch zu kompliziert in der Bewirtschaftung, weil in ihnen mindestens am Rande auch sprachliche Beiträge erwartet werden. Auf Google’s Picasa schauen die Verhältnisse nun ganz anders aus. Selbst wenn nach ganz eigentümlichen, geografisch abseitigen und intellektuell eher wenig bekannten Objekten gesucht wird, gerät man unverhofft mitten in Fotoalben von Einzelnen hinein, in denen Ausschnitte aus dem Alltag mit ihren Alltagsbekanntschaften aus dem Berufs-, Freizeit- oder Studienleben zur Darstellung gelangen. Doch was für ein Erwachen einem da nun widerfährt! Was für eine Qual der Einsicht, dass bei allen dasselbe zu beäugen wäre, bei Jungen, bei Alten, bei Östlichen und Westlichen, Weiblichen und Männlichen, Lustigen und Frustrierten, Politischen und Sportlichen. So langweilig erscheint der Mensch, wenn er nur Mensch zu sein scheinen will, keinen Deut interessanter und abwechslungsreicher als die Individuen oder Einzelexemplare einer Tiergattung. Wer im Konsum sich dem Sprechen entzieht und nichts tut, das seiner Sichtweise auf die Welt eine Gestalt verleiht, die andere wahrnehmen können, leistet nur den einen Beitrag ans Leben, das zu stärken, was es auslöscht, die Anerkennung des kulturindustriellen Einerleis. Bloom hatte im langen Text von Joyce nichts weiteres zu tun als die äusseren Ereignisse denkend zu begleiten, um das Besondere im Gewöhnlichen begreifbar zu machen. Im Zuge des Ausbaus der Vielfältigkeiten in den Medientechnologien sackt der gewöhnliche Mensch, von dem wir jetzt, nach Picasa, wissen, dass wir alle als dieselben Idioten dastehen, wie eine leere Hülle in sich zusammen, wenn er das nicht nach aussen zu kehren versucht, das ihn auch im Innern nicht mehr als Individuum erscheinen lassen will. Man ist heute häufiger ein Jasager als früher, weil es schneller gegen aussen sichtbar wird, dass man sich der Anstrengung des gewöhnlichen und also kritischen Nachdenkens durch Trägheit entziehen will. Das ist weder als eine griesgrämige Beobachtung über die Faulheit des Menschen im allgemeinen noch als unangemessene Einschätzung zu bewitzeln, die nur den Teufel an die Wand malt; erscheint der Mensch tel quel, also der Alltagsmensch im besonderen, in den Gebilden, die gesellschaftlich entstehen, als Leerheit, fällt es den Niederträchtigen nur um so leichter, die lebendigen Einzelmenschen in ihrem Tun, das gegen sie gerichtet ist, ohne Widerständigkeit zu ignorieren und schliesslich zu opfern.

Interkuhturalität

Freitag, 21. März 2008

Berner Simmentaler Kuh in Afghanistan, 2007:

http://picasaweb.google.com/honzafaltus/Afghanistan/
photo#5061715336437933954

Von diesem Bild aus unbedingt das ganze Picasa Album Afghanistan von Honza Faltus anschauen, 267 Bilder.

„Brockes-Passion“ von Stölzel

Freitag, 21. März 2008

Gestern Abend auf Radio DRS2 die „Brockes-Passion“ von Gottfried Heinrich Stölzel für den Karfreitag 1725 gehört, und noch morgens um Vier ist das Werk frisch im Kopf. Erstaunlich, dass Musik aus der Bachzeit so tiefe Spuren zu hinterlassen vermag, üblicherweise geschieht es eher mit solcher weit vor oder weit nach Bach – oder dann aus geographisch und kulturell entlegenen Räumen. Dass diese Musik so aktuell und modern klingt, zuweilen, jedenfalls gegen den Schluss hin, wie in einem Konzert der Mothers, deren Dirigent bekanntlich auch einen Namensvetter aus Stölzels Nachfolgezeiten hatte, Francesco Zappa, ist auch der Interpretation durch die Schola Cantorum Basiliensis mit Jörg-Andreas Bötticher geschuldet, deren Virtuosität und quasi experimentelle Stilsicherheit dem Zuhören ein Biotop gewähren, in dem es sich unabgelenkt auf die Fülle neuer Einzelereignisse und unvorhergesehener Wendungen einlassen durfte, ohne dass das Ganze, wie bei ähnlicher Musik noch vor dreissig Jahren, wie ein verstaubtes Möbelstück hätte dastehen müssen. Man kann jede Singstimme und jedes Instrument eigens hervorheben, und man könnte an vielen Stellen zeigen, durch was in der Komposition und durch welche subjektive Leistung in der Interpretation dieses musikalische Werk zu zünden vermag. Mischt sich auch, wie im alten Akt des Komponierens intendiert, Ergriffenheit durch die textliche Vorlage des Dichters Barthold Heinrich Brockes hinzu? Wenn das Ziel der Menschheit darin bestehen soll, das Opfer abzuschaffen, ist das grösste Opfer in dieser einen Religionskultur wohl immer noch verstandes- und gefühlsmässig bewegend, im grösseren Zusammenhang aber nur eine Erzählung, die ein Weitergehen blockiert. Was unmittelbar bewegt, ist der Ernst, mit welchem diese Geschichte in ein Werk gefasst werden und wie es eine Gesellschaft geben konnte, die sich davon ernsthaft bewegen liess. Gelingt die Transformation des Opfers in die Kunst, kann darauf gehofft werden, dass die Opferungen im Alltag, die nur die Kehrseite und das innere Band der menschlichen Niedertracht darstellen, als gewöhnliche gesellschaftliche Arbeit erscheinen dürfen und die Hilfsprogramme gegen die Niederlagen in der Weltgeschichte als normale Arbeit hin zu vernünftigen Gesellschaftsverhältnissen, wo keiner den Niederträchtigen abgeben kann, weil mit keinem mehr als Opfer gerechnet werden muss. Trotz der Anhäufung allerhöchster bewundernswürdiger Kunstwerke nach der Zeit von Stölzel kann in einer Epoche der kulturindustriellen Produktion, die auf diejenige der religiösen Erzählungen folgte, von einer Verwandlung des Opfers in die Kunst nur mit äusserster Mühe die Rede sein.

Blasmusik mit Teesolo

Mittwoch, 12. März 2008

Um vier Uhr zeigte sich durch die Augenlider ein grosser Wechsel Richtung Frühling, als die Nachtschwärze einen Ruck ins Grau vollführte. Ich klammerte mich noch eine kurze Bedenkzeit an die Decke und stand dann auf. Ah, was für eine Luft von Draussen, tobend und endlich wieder spürbar uneisig, fast gefährlich warm. Die Türen der zwei Zimmer konnten zwar nicht offen gelassen werden, aber auch durch die Schlüssellöcher pfiff der Wind von den geöffneten Fenstern her durch die ganze Wohnung. Und am einzelnen Fenster gegen Westen gestanden war es eine Wonne, dem Sturmbrausen zuzuhören, auch ohne in der Nachtschwärze, die keine wirkliche Dämmerung versprach wie die Halbschlafwahrnehmung unter der Decke, Astbewegungen in den Bäumen sehen zu können. In der Küche dann langes Pfeifen in allen Lagen, Orkanstösse durch die Fenster, Huschen über und unter den Vorhängen, flaches Zischen durch die Bücherregale, bedenkliches Dröhnen in den Schlüssellöchern und Klopfen in den Türspälten – und Klappern hinter dem Rücken durch den Dampfabzug. Dann aber, ohne dass ich einen wirklichen Windzug um die Nase hätte verspüren können: Pfeifen direkt vor mir aus dem Teekrug, als ob der Wind persönlich mit den Lippen am Ausguss wie mit einem Flaschenhals Frühlingsmusik machen wollte. Ich klatschte mit den Fensterflügeln, auf dass nicht das ganze Haus schon aufwachen müsste.

Photorevisionen

Montag, 10. März 2008

Nachdem von Ende Oktober 2007 bis Anfang März 2008 jeden Tag mindestens zehn Stunden lang, nie ohne Tagwacht vor fünf Uhr morgens, fast 100% der Bilder von 2003 bis 2006 neu bearbeitet, in besserer Komprimierungsqualität als bisher abgespeichert und korrigiert oder ergänzt neu beschriftet worden waren (Picasso lehrte, die Arbeit nicht vollständig zu machen oder dann auch mal einen Fehler hinzuzufügen), ist gestern eine Anfrage eingetroffen, die unter anderem zum Ausdruck bringt, die Berge seien – leider – nicht immer auf Anhieb eindeutig zu identifizieren, insbesondere auf den Panoramen. Mich dünkt, eine solche Aussage sei Folge davon, dass man sich dem allgemeinen Zeitdruck nicht entziehen will und die Dinge beurteilt, bevor man sich im Klaren ist, ob sie denn nicht eine gewisse Zeit benötigen, um auch dann, wenn sie auf den ersten Blick schon alles von sich preiszugeben scheinen, vernünftig beurteilt zu werden. Die Wahrnehmungsbereitschaft scheint im Internet nicht grösser zu sein als wie sie in den militärischen Kräften, die von den Fachkundigen auch heute noch allenthalben beschrieben werden, nicht sich entwickeln lassen dürfen: alles geschieht auf der nackten Ebene der Befehlsreaktionen und reinen Informationen, die einen sofortigen Reflex auslösen sollen. Mich selbst freut es ernsthaft, dass man in der Bilderflut vergessen und in der Landschaft wieder herumstehen kann, ohne meinen zu müssen, alles Sichtbare bestünde aus Dingen, deren Reiz sich darin erschöpft, auf schönen Bildlis identifiziert zu werden. Mir scheint es gerade begrüssenswert, wenn die Formen im Gesamtbild wieder untergehen können wie musikalische Einzelphrasen, die ein Stück als Teil konstituieren, das im Ganzen aber von einer anderen Struktur getragen wird, in der die Phrase als Melodie gänzlich unbedeutend sein mag. Es hat keine Bedeutung, in jedem Moment Le Pleureur und La Sâle erkennen oder La Luette und La Serpentine eindeutig auseinanderhalten zu können, aber eine grosse, den Platz dessen, was zu sehen ist, im dreidimensionalen Gesamtgefüge spontan richtig auszumachen. Man wird feststellen, dass es immer schwieriger wird, eindeutig zu bestimmen, ob einem das Wallis körperlich als grosses oder als überschaubar kleines Gebilde erscheint. Einen Drang danach, fremde, weitläufigere Berglandschaften anders als nur durch Bildbetrachtungen im Internet kennen zu lernen, verspüre ich jedenfalls immer noch nicht. – Gestern gelesen: La Greina und Flusslandschaften im Wallis, Fotografien von Herbert Mäder, 3. Auflage Chur, Sion, Zürich 2003 und 2004, mit einem Vorwort von Klaus Huber, Regierungspräsident des Kantons Graubünden. Was die Walliser von den Bündnern vielleicht lernen könnten wäre, die Scheu abzulegen und nicht mehr nur den Ausbeutern, sondern auch schon mal den Touris (mich ausgenommen) einen Tritt in den Arsch zu versetzen, statt sie devot mit neuen Pisten und Seilbahnen in noch grösseren Massen an jeden abgelegenen Flecken transportieren zu wollen. Die aktuelle Regierung bemüht sich weniger darum, die existierenden Meinungen der Bevölkerung im politischen Diskurs vernünftig zu artikulieren, als darauf schnell und unterwürfig zu reagieren, was die Tourismusindustrie an Wünschen anmeldet, auch wenn die Gewinne des Tourismussektors immer weniger den Lebensunterhalt der Walliser Bevölkerung zu finanzieren sondern andere, berglandwirtschaftsferne Taschen zu füllen scheinen.

Unrächbar, das Leben im Tod

Montag, 10. März 2008

Die Erfahrung des Lebens nötigt zur Einsicht, dass der Niederträchtige auf Erden nach dem Tod sich seiner dreissig Mädchen erfreuen und der brave, wenig korrupte Mensch in der Hölle schmoren wird. Kaum eine Möglichkeit, dass die lebendige Vernunft ein solches Ansinnen rechtfertigen würde, doch der gegenwärtige Zwang des Realen scheint allmählich seinen Tribut einfordern und die Wundersamkeit zum Ausdruck bringen zu wollen.

Der Niederträchtige ist nicht der Kriminelle, dessen Untaten, als einzelne oder in Serie, im praktischen Rechtszusammenhang gesühnt werden; er wirkt aus einer Position der Stärke, die sich des Rechtswesens bedient, weil sie zuvor schon gesellschaftlich sanktioniert worden ist. Bis vor kurzer Zeit noch gehörte eine solche zum Gefüge der politischen Macht, fast ohne Ausnahme auf Seiten der militärischen Kräfte. Die Position ist aber auf eine Sanktionierung durch den politischen Machtzusammenhang nicht mit Notwendigkeit angewiesen, weil dieselbe Legitimation, nie ohne Ansehen und Anerkennung, auch im isolierten, für sich stehenden Wirtschaftskomplex geschehen kann, sofern ihn die Gesamtgesellschaft, wie seit 25 Jahren quasi offiziell, in dieser Freiheit auch haben will. In solcher Praxis schaut dann die Macht, demokratisch gewählt, bloss noch zu, wie die Welt sich gestaltet ganz ohne sie, und der einzelne im Leben, wie es gegen ihn sich wendet. Wo einer etwas Böses an einem Anderen tut, ist er leicht zur Rede zu stellen; indem der Niederträchtige alles daran setzt, jeden Anderen zu ignorieren wie die Banker und Broker die Bevölkerung auf der ganzen Welt und auf niedrigstem Niveau der Fernseh- und Radiokonsument die Nachbarschaft, bildet sich keine Gruppe, in der die Vernunft an die Regeln appellieren könnte, gegen die der Niederträchtige verstösst. Sei es im Grossen oder im Kleinen: er war immer schon die Figur des Herrschers und des Anmassenden, dessen Handeln, das in gewissen Konstellationen gesellschaftlich grosse Folgen nach sich zieht, nicht vermittelt ist, weil es so tut, als ob es keine Regeln zu kennen und zu berücksichtigen gäbe und weil die Erfahrung des Alltagsmenschen in der Tat nicht imstande ist, ihm zu sagen, wie er an Stelle des Korrupten handeln würde.

Dass dem Niederträchtigen harmlos der nur wenig korrumpierte Mensch gegenübersteht, scheint der religiösen Vorstellung vom Guten und vom Bösen zu folgen. Doch der reine Begriff der Korruption enthält mehr an realistischem Gehalt, als der kritische Verstand ahnen lassen will. Wenn auch der grösste Teil der Bevölkerung ihr nicht eindeutig zuzuordnen wäre, ist von einem Teil indes ebenso gewiss, dass er korrupt ist und Schlechtes bewirkt wie von einem anderen, grösseren, dass er deswegen frei ist von Korruptheit, weil er wie allgemein in Asien, Afrika und Lateinamerika als Opfer des ersten leidet. Zudem verfolgt jedermensch nur zu leicht, wie die Niedertracht als Gift in den Gesellschaftsschichten sedimentiert, und ein Grund dafür, dass sie so schwer wahrzunehmen ist, kann nicht weniger leicht darin gesehen werden, dass sie ebenso die Alltagshandlungen prägt wie seit langem schon das äussere Gebaren der Fernsehstars das ihrer ZuschauerInnen. Nur weil sie auch in der Breite wirkt, ist es der isolierten Vernunft schier unmöglich, die Niedertracht im konkreten Einzelnen festzumachen.

Sofern die Vernunft nicht ganz verabschiedet werden soll, ist die Frage über die imaginierten Wirklichkeiten nach dem Tode allerdings nicht, ob sie die Ungerechtigkeit rechtfertigen oder nicht, ob also, um in der herrschenden Sprache verständlich zu sprechen, der Lohn letztlich den Ungerechten zukommt. Denn so wie der Niederträchtige die Grenzen der Moral überschreitet und da tätig ist, wo es nichts zu rechtfertigen gibt, werden hier die Grenzen der Erkenntnis überschritten. Zur Frage ist nun geworden, ob nicht gerade derjenige ungerecht und auf irdischem, vernünftigem Boden verdammenswürdig erscheint, der die Behauptung äussert, Gerechtigkeit sei nirgends und in langen Zeiträumen nie, weil dieselbe Behauptung nur aus Ressentiment und Bitternis, also ihrerseits durch Anmassung und ohne Vertrauen in das Gute, das praktische Regeln kenntlich macht, schliesslich zu denken wäre. Wer die Stimme erhebt, scheint heute zu einem verlorenen Spiel ansetzen zu wollen. Im Zustand des Communication Breakdowns heisst Sprechen offenbar, es ernsthaft wieder neu zu lernen. Monströs an ihm wäre, dass es im Wahren nicht zugleich das Gute zu sehen vermeinte.