ur III: Die Dreizehnte: Incipit musica
Freitag, 26. Juni 20202. Olivier Messiaen (1908-1992), Catalogue d‘ Oiseaux, I. Le chocard des alpes (coracia graculus: Alpendohle), ca. 1950
3. Olivier Messiaen(1908-1992), Catalogue d‘ Oiseaux, V. La chouette hulotte (strix aluco: Waldkauz), ca. 1950 4. Pierre Boulez (1925-2016), Sonatine, 1946
5. Pascal Dusapin (*1955), Etude 2, 1998
6. Pascal Dusapin (*1955), Etude 5, 2000
Incipit musica
2. und 3. Olivier Messiaen war fünf Jahre jünger als Adorno, ein singulärer Komponist ausserhalb jeder Gruppe und bedeutender Lehrer für viele derjenigen, die in den 1950er Jahren mit ihren Werken die serielle Musik schufen. Sein Lehrideal bestand darin, keine Lehre zu vermitteln, sondern den SchülerInnen zu zeigen, wo ihre Stärken liegen. (Adorno hatte nach der Machtergreifung der Nazis 1933 die Professur für Philosophie verloren und machte dann in Berlin einen regulären Abschluss als Musiklehrer, nota bene mit einer obligaten Empfehlung Schönbergs – diesen Beruf hatte er aber nie ausgeübt, sondern wurde der gewöhnliche Philosoph derjenigen, die bei Messiaen in die Schule gingen.) Messiaen hatte die Tonalität weit überschritten, ohne indes alte Techniken auszuklammern. Seine Reihen haben nicht den Charakter der Allgemeinheit wie diejenigen Schönbergs, sondern leisten sich den Geruch der Kirchenmodi wie nach der Jahrhundertmitte von neuem die Reihen im Jazz. Der Naturalismus im Verwenden von Vogelrufen wäre in der seriellen Musik undenkbar gewesen.
4. Obwohl die Sonatine von Boulez mindestens vier Jahre vor dem umfangreichen Catalogue d’Oiseaux geschrieben wurde, zeigen ihre Noten, wie brav Boulez von Messiaen gelernt hatte. Übernommen sind die Taktierung mit Dreiecken und offenen Quadraten und die punktierten Bögen, die die Motivzusammenhänge klar machen. Aber man hört auch vereinzelt Vogelrufe, die Messiaen schon in der frühen Jugend zu sammeln begann, und faule Relikte aus der Musikgeschichte: einmal eine Sequenzierung, ein paarmal Annäherungen an Harmonieklänge. Insgesamt staunt man aber über die Innovationsgewalt, vollends in den dreissig Takten vor 470 (von total 510), wo sich das heikle Zusammenspiel von zwei MusikerInnen in einer Steinlawine unter unaufhaltsamer Beschleunigung vorwärts schiebt. – Die Sonatine ist die zweite Komposition von Boulez, nach den Exerzitien der Douze Notations über die „Kompositionsweise mit 12 nur aufeinander bezogenen Tönen“ von Schönberg, die er in der ersten Schulzeit bei Messiaen schrieb. (Schönberg selbst war als Exilant in Los Angeles und beschimpfte Varèse, der in New York seine Werke aufführen wollte – bene, i compositori e la brava persona…)
Und doch ist die Sonatine nicht nur ein kühner Vorgriff auf die serielle Musik, sondern enthält schon 1946 die Zelle, die deren Überwindung in den 1980er Jahren im Stück Répons so spektakulär erscheinen liess. (In der Version auf YouTube ist die Stelle markiert.)
5. und 6. Die KomponistInnen der Nachfolgegeneration von Boulez, Stockhausen, Berio und Nono gingen nur teilweise durch die strenge Schule der seriellen Musik. Dusapin folgte den Spuren von Varèse – und liebäugelt immer noch mit dem Jazz (in der Schweiz in einer vergleichbaren ästhetischen Position wäre Dieter Amman). Die Etuden beweisen eine immense, fast boulezhafte Phantasie im Fortspinnen komplexer rhythmischer Gebilde ohne Rekurse auf harmonische Instanzen, dasselbe künstlerische Vermögen also, das man in der 50 Jahre älteren Sonatine bewundert. – Das letzte Stück auf der CD ist ein Nachsinnen über Zeitdauern und Lautstärkegrade; das sind Kategorien, die in der seriellen Musik als Parameter quasi algorithmisch abspulten. Dass dieses Stück und die Sonatine sich in der reinen Softwareumgebung mit dem behinderten MIDI im Zentrum realisieren lassen, macht vielleicht verständlich, dass man dem Ganzen den Titel verpasst „Incipit musica“, als ob die Musik von neuem anzufangen vermöchte.