Archiv für den Monat Mai, 2017

Francesconi trompe la musique

Mittwoch, 31. Mai 2017

Soeben live auf France Musique concert donné le 25 mars 2017 à l’Opéra Garnier, à Paris avec les Choeurs de l’Opéra National de Paris, des braves solistes et l’Orchestre de l’Opéra National de Paris, Susanna Malkki, direction.

Luca Francesconi, Trompe-la-mort (2017), Opéra en deux parties d’après Honoré de Balzac.

Dahinplätschernde Unterhaltungsmusik ohne Biss. Francesconi kapiert nicht, warum man gegen die Warenästhetik Stellung beziehen muss. Er meint, frei zu sein und alles zu dürfen, macht dann aber schlussendlich gar nichts. Drei Male lässt er während den zwei langweiligen Stunden eine Sopranstimme etwas lauter schreien als üblich, das ist schon alles, was übers Normale oder die üblichen Anforderungen eines Musicals hinausginge. Die zehn Minuten vor der letzten halben Stunde wären ganz okay und zeigen, dass es ihm nicht am Können fehlt. – Wenn’s um den Tod geht, halt ich mich an den Materialismus des Tanzlehrers von Aria und grüss ihn nur kurz und ohne opernhafte Umschweife: „Heute nicht!“, auch bekannt unter dem reizenden Tonmotiv: „Buuuuh!“

Maldonado, Morciano, Gentilucci, Canat, Spiropoulos

Mittwoch, 17. Mai 2017

Soeben live auf France Musique Concert Electr()Ladies donné le 29 mars 2017 au Centre d’Art Contemporain Passerelle, à Brest, dans le cadre de la 4e édition du Festival Elect()cution. Avec l’Ensemble Sillages : Vincent Leterme, piano, Lyonel Schmit, violon, Sullimann Altmayer, violon, Gilles Deliège, alto, Ingrid Schoenlaub, violoncelle, Philippe Arrii-Blachette, dir.

Javier Torres Maldonado, Inoltre , pour piano, électronique en temps réél et vidéo (2017), Vincent Leterme, piano.

Lara Morciano, Raggi di Stringhe, pour violon et électronique (2011), Lyonel Schmit, violon.

Marta Gentilucci, Exercices de Stratigraphie, pour accordéon et électronique (2017), Pascal Contet, accordéon.

Edith Canat de Chizy, Over the Sea, pour trio à cordes, accordéon et électronique (2012).

Georgia Spiropoulos, Landscapes and monstrous things… (2017).

Die ersten drei Stücke unterkomplex, als ob sie für Freunde der Jazz- und Barmusik konzipiert worden wären. Das beste Stück? Landscapes and monstrous things…

Lachenmann, Mundry, Herrmann, Trojahn

Mittwoch, 10. Mai 2017

Soeben live auf WDR 3 aus der Kölner Philharmonie vom 1. Mai 2017 Sarah Aristidou und Elsa Benoit, Sopran, Charlotte Hellekant, Mezzosopran, Kölner Vokalsolisten, Ensemble Modern, Leitung Duncan Ward.

Helmut Lachenmann, … zwei Gefühle …, Musik mit Leonardo für Sprecher und Ensemble. – Ein Klassiker inzwischen.

Isabel Mundry, Im Fall für Mezzosopran und Ensemble, Uraufführung. – Ein grosses Stück, das im Verlauf an Kraft und musikalischer Stringenz gewinnt.

Arnulf Herrmann, rondeau sauvage (2013), für sieben Musiker. – Musik, wie wenn Kinder unbeaufsichtigt Türülüü machen. Leicht nervig.

Manfred Trojahn, Les Dentelles de Montmirail für 2 Soprane, Vokalensemble und Ensemble, 2017. – Auch konservativ, aber mit viel Luft. Die Raumwirkung kommt auch unter Kopfhörern gut zur Geltung.

Varèse, leicht hinkend

Dienstag, 9. Mai 2017

Gestern Abend live auf BBC 3 concert at the Barbican, London, on Saturday 6 May 2017 with the BBC Symphony Orchestra, Sakari Oramo conductor, Allison Bell soprano, BBC Singers: BBC Total Immersion Day, Edgard Varèse.

Arcana, Nocturnal, Poème électronique, Étude pour Espace [UK premiere of arrangement by Chou Wen-Chung], Déserts, Tuning Up [arrangement by Chou Wen-Chung], Amériques.

(Am selben Tag am selben Ort wurden noch gespielt, im Radio aber nicht gesendet, vom Guildhall New Music Ensemble: Un Grand Sommeil Noir, Offrandes, Hyperprism, Octandre, Intégrales, Ionisation, Density 21.5, Dance for Burgess. – Die Radioübertragung wäre perfekt gewesen, wenn entweder das Konzert mit dem Guildhall New Music Ensemble auch übertragen worden wäre oder, besser, die Stücke dieses Einzelkonzertes folgende missratene ersetzt hätten: Nocturnal, Espace, Tuning Up.)

Der zweieinhalbstündige Konzertabend war eine Wonne! Arcana und Amériques werden etwas eigenwillig interpretiert, aber die Werke sind so stark, dass sie auch diesen finnisch-englischen Zugriff verkraften. Zu wenig präzise Akzente (>), zu viele getragene Noten (-) mit vervielfältigten Einsätzen. Temposchwankungen in Passagen, die eindeutig durchgehalten werden müssen. Trotzdem eine sehr gute Sache!

Man spielte die zweite Fassung von Amériques. Seltsam, dass der Sprecher Handley immer noch der Meinung ist, Varèse hätte das Stück entschärft. Nein, er hat erst in der zweiten Fassung sich selbst entdeckt und die Schlangenhaut Strauss abgestreift.

Djordjevic, Steiger, Grütter

Samstag, 6. Mai 2017

Soeben direkt live aus der Blote-Vogel-Schule, Witten 2017, Arditti String Quartet, JACK Quartet, Ensemble Modern, Leitung Brad Lubman.

Milica Djordjevic, Indigo für Doppelquartett, Uraufführung. – Begeisterung ziemlich schrankenlos, jedenfalls möchte ich mehr von der Komponistin zu hören bekommen. Ich stelle mir vor, die zwei Quartette spielen in der ersten Hälfte der 1970er Jahre im Lichthof der Kantonsschule Rothen, Reussbühl.

Martin Grütter, Die Häutung des Himmels für 7 Instrumente, Uraufführung. – Die ersten Töne sind missraten, man hört sie quasi kontrafaktisch tonal. Nachher steht die Komposition unter einem Rechtfertigungszwang: sie will das blöd Gesagte wieder gutmachen – und wird jazzig. Aber die Singende Säge liebe ich, weil ich sie als Fünf- bis Achtjähriger oft hörte, gespielt im grossen Dachstock von Heinz Amrein an der Nelkenstrasse 12. – Tipp: die adlibitum Jazzpassagen auskomponieren, bis das Blatt schwarz ist und die MusikerInnen mit Strike drohen.

Rand Steiger, Undone for spatial string octet, Uraufführung. – Aus meinem Herzen gedacht, als wäre mein letztes Posting „Der allgemeine Zerfall nach der individuellen Selbstaufgabe“ der Kommentar zum Stück. Die Musik? So gut wie mein Text. Am Schluss wird aus Game of Thrones zitiert.

Der allgemeine Zerfall nach der individuellen Selbstaufgabe

Donnerstag, 4. Mai 2017

(Druckfassung: http://www.ueliraz.ch/blogarchiv-ueli-raz-2016-17.pdf)

Es gibt eine unendlich fein abgestufte Skala von Arten und Weisen, in denen der Einzelne „scheitert“, in denen er sich zu einem anderen Fortgang des Geschehens „entscheidet“ als anfänglich geplant: man zieht eine andere Jacke und andere Schuhe an als gewohnt, man geht nicht wie die letzten Wochen auf der rechten sondern auf der linken Strassenseite, man gönnt sich zur Erledigung einer Sache mehr Zeit als gewöhnlich oder hat umgekehrt zu wenig davon, man spricht mit erhobener Stimme statt wie üblicherweise ruhig, man entnimmt dem Bankkonto weniger Bargeld als gewöhnlich etc. In diesem alltäglichen, unüberblickbaren Haufen von Momenten des Nichtgeplanten oder Unvorhergesehenen nehmen nur die wenigsten den Charakter eines spürbaren Misslingens oder Scheiterns an. Man hat es normalerweise mit gewöhnlichen Besonderheiten zu tun, die sich als kleine Einbrüche ins Gewohnte einzeln oder in Gruppen ereignen, und sie können des weiteren gleichwie unbemerkt quasi auch als System erscheinen. Die Ereignisse können dem Einzelnen in seiner Isoliertheit zustossen oder in einem kleineren oder grösseren gesellschaftlichen Kontext passieren, als Momente des Nichtgenügens gegenüber den Anforderungen des Ich-Ideals, als nicht erreichte Zeugnisse pädagogischer Art oder einer sonstigen Art der Befähigung oder als nicht erfüllte Erwartungen sei es in sexuellen oder anderen persönlichen Beziehungen, in denen einen als Zusatz zum Missgeschick die Frage beunruhigt – eine Schicht tiefer – was denn zuerst gewesen sei, das Scheitern des Beziehungsverhältnisses oder der Verlust des Vertrauens und ob man nicht doch von einem immer schon drohenden ursprünglichen Vertrauensverlust in die Existenz zu sprechen hätte – denn wäre dem so, wäre ein Scheitern in allen Beziehungsverhältnissen vorherzusehen. Und auf lapidare Weise kann es geschehen, dass einem bloss etwas Unbestimmtes in die Quere kommt, möglicherweise sogar nur die selbstverschuldete schlechte Laune. Die manifesten Verhältnisse, in denen die Ereignisse geschehen, können demokratisch und frei sein oder autoritär, aber auch prekär, in einem Zustand also, wo das Leben als nacktes Überleben bewältigt werden muss. Man hat das Ganze, das in Frage steht, als ein weltweites Big Data-Phänomen zu sehen, das allerorts erscheint, in jeder Häufung und zu jeder möglichen Zeit – ein Phänomen, das sich zwar vorhersagen und also erkennen lässt, aber nur, wenn ungeheuer viele, bis ins Kleinste ausgebreitete Fakten zusammengezogen werden.

Eine Ansammlung von unendlich vielen Enttäuschungsmomenten, die für sich allein neutral und ohne weitere Wirkung sind, kann in einen Erlebniszustand hineinführen, in dem das Subjekt unmerklich abgleitet und ein nunmehr verwandeltes Scheitern erfährt; dieses Scheitern drängt es in eine düstere Passivität ab, wo sich keine Ruhe breitmacht, sondern in unverhoffter, wilder Verzweiflung ein zerstörerischen Verhalten – als stünde man allein auf einer Plattform, und die Leiter mit den fein justierten Stufen hinab zum Realen, das man gleichwie immer noch im Auge hat, wäre weggestossen, man selbst in der Überzeugung, dass ein wirklicher, benenn- und adressierbarer Anderer dies getätigt habe. Das Misslingen oder Ausbleiben der Anerkennung in den Instanzen sowohl der Pädagogik wie der Arbeit führt nicht mit Notwendigkeit zum Gefühl oder Eindruck des Scheiterns, auch dann nicht, wenn dieses Selbstgefühl den Charakter einer ganzen Serie von Momenten der schlechten Erwartung einheitlich und systematisch prägt (das schlechte Selbstgefühl und die schlechte Erwartung sind nur beinahe identisch). Dennoch kennt man das Phänomen am ehesten aus der Grundschule, dann aus den späteren, auch aus den sogenannt höheren Schulen: die stetig kassierten schlechten Noten führen die Einzelnen in eine Bedrängnis, in der sie aufhören, weiterhin die Alltagsanforderungen bewältigen zu wollen, selbst dann, wenn sie klein sind und der Einzelne von seinen Fähigkeiten her keine Probleme hätte, ihnen nachzukommen. Nach einer gewissen Zeit spricht er in einer Sprache, die seine Umgebung befremdet, weil er auch diejenigen Geschehnisse schlechtredet, in denen nichts Negatives auszumachen wäre und die ihm früher ohne weitere Überlegung gleichgültig oder positiv erschienen wären. Nach einer weiteren Anhäufung von Scheiterungsmomenten erodiert das Vertrauen, und noch später, nach einer ebenso unbestimmten, nicht vorhersehbaren Umwandlung reduziert sich das Selbstvertrauen auf das Minimum, wie es der Alltag zu seiner physischen Bewältigung noch voraussetzt, um letzten Endes auf einer räumlichen Winzigkeit und einem Verhaltenstypus, der die Selbstaufgabe mit Notwendigkeit Wirklichkeit werden lässt, wie ein Karren im Schlamm festzufahren. Man tut gut daran, diesem Umwandlungsprozess in zwei Stadien gegenüber die Erkenntnisansprüche gering zu halten, zum einen im Sprachverfall, zum anderen im Zerfall des Selbstvertrauens; schon der Begriff des Prozesses ist zu rationalistisch, in der Intention, den Ablauf als allgemeines Modell rekonstruierbar zu machen – grossmäulig. Man muss diese Zone der Vorhölle, in der alle Kontakte zur guten Wirklichkeit noch vorhanden sind, im Ungefähren und Nebulösen ruhen lassen. Sowohl im Alltag der Ereignisse wie in der Anstrengung der Erkenntnis schaut die Vernunft hin, aber regt sich im dumpfen Staunen schon nicht mehr wirklich. Nicht nur auf der umgangssprachlichen, sondern auch auf der abstrakt begrifflichen Ebene wäre es falsch, dem gesellschaftlichen Erscheinungstypus einen Namen geben zu wollen.

Obwohl das Scheitern auf Schritt und Tritt dem Leben folgt und zum guten Leben notwendigerweise gehört, führt es zuweilen zur Selbstaufgabe und in diesem engen Rahmen dann zur Katastrophe des Einzelnen: zu einem regelrechten Zerfall nach der Erschöpfung. Wo die Selbstaufgabe einmal zum Programm geworden ist, verändert sie den Einzelnen radikal – kaum je schnell, auf einen Schlag und unumkehrbar, aber stetig und desto definitiver, als ob alles, was von nun an um den Einzelnen herum geschieht, von diesem Programm bestimmt ist und von ihm immer wieder neu gefordert wird. Man ist geneigt, den alten Leibniz gegen den Strich zu bürsten und vom ontologischen Ereignis einer negativen Monade zu sprechen, die die Vorstellungen des Subjekts künftig prägt und sie mit einer Wirklichkeit in Korrespondenz setzt, die in bedrohlicher Weise am Horizont heraufdämmert. Das Bild der Erschöpfung, in dem sich der Einzelne aufgegeben zeigt, ist alles andere als eindeutig konturiert, ja eigentlich verschwommen und vernebelt, weil die Selbstaufgabe als eine Verwandlung gesehen werden muss, der kein Ende eingeschrieben ist. Wer auf die Spur der Selbstaufgabe geraten ist, ist immer auch schon wieder potentiell unterwegs zurück zu sich nach Hause, und niemals darf dieser Einzelmensch, von dem die Rede ist, mit dem Typus des ideologisch Fixierten oder mit dem des autoritären Charakters verwechselt werden (wenn er auch nicht in einem entscheidenden Masse harmloser ist als sie). Im Moment des Nachlassens ist der Wille nicht mehr von Bedeutung, auch nicht der, sich aufgeben zu wollen, sondern blosser Zusatz: was der Einzelne von da an will, gehört nicht wirklich zu seinem ursprünglichen Horizont und kann ihm nicht vorgehalten werden.

Der Zerfall nach der Erschöpfung ist erster und stets erneuerter Impuls zur Mimikry an die Umwelt, zur Lust in der Zusammenrottung in Horden, die der positiven, kritischen Konstruktion abgeschworen haben. In diesem Soziotop wird die Idee geopfert, dass die Welt besser sein könnte – nur die eigene Existenz, nicht einmal das eigene Leben ist es, was besser sein soll, unter Eliminierung des Horizonts der Anderen im engen und weiten Lebenszusammenhang. Die Reflexe zur guten Kritik, die einen auf die Unbill des Lebens positiv reagieren lassen, sind gleichwie ausgelöscht wie die Impulse zum guten Willen, die einen ständigen Antrieb garantieren. Ein allgemeiner Communication Breakdown wird zum Nährboden, auf dem die Leerformeln der Hordenführer Wirkung zeugen. In der Winzigkeit und Unscheinbarkeit der Selbstaufgabe im Alltag geschieht nichts anderes als der Übergang immer schon von einer progressiven, vorwärtsschauenden Weltanschauung hin zu einer rechten mit dem trüben Blick in eine einheitliche Vergangenheit, weg von der Welt, in der die Stimme jedes Einzelnen gleich ernst genommen wird in die höllische, wo nur einzelne Erhabene zu wissen meinen, was die Anderen denken sollen. Weit davon entfernt, etwas mit überlieferten Werten zu tun zu haben, genügt sich der Konservativismus der politischen Rechten in der egoistischen Weigerung, etwas von dem Güterreichtum, den man keinesfalls jemals erarbeitet, sondern „sonstwie“ sich angeeignet hat, an Andere abzugeben. In einem melancholischen Witz liesse sich sagen, dass man es umgekehrt im Scheitern auch bis zur Meisterschaft bringen kann, ohne dem Hang zur Abdrift zu den Autoritären, Zerstörerischen nachgeben zu müssen. So wie der Führer eher in Kauf nimmt, auch sich selbst zu zerstören und also seine Gefolgschaft zu ignorieren als von seiner Macht abzugeben, gibt es die KünstlerInnen im Scheitern, die frei bleiben von der Neigung, ihre Seele einem Teufel zu verkaufen.

Gleich einem Ring um den Planeten Saturn gibt es eine Kette der Unvernunft rund um die Erde, angefangen in nächster Nähe bei den Schweizern Blocher im Osten und Freysinger im Walliser Westen über Erdogan und Orban bis zu Le Pen- und Trumputin. Das statistische globale Ereignis des Faschismus der heutigen Tage wird kaum zurückgehen, auch wenn die Namen der Schamlosen wechseln. Sich selbst aufgeben heisst noch nicht, der Schamlosigkeit zu verfallen, aber, und das ist nicht viel weniger, mit ihr zu spielen. Es dreht sich ständig ums Spiel der Verführung, zu verführen und mit Lust verführt zu werden. Im Alltag benehmen sich einzelne Exponenten von rechts immer noch wie vernünftige Menschen und lassen sich kaum je gehen – aber ihre Statements sagen allesamt, sie wären gerne ein Hirt und eine Hirtin derjenigen, die die Scham verloren haben. Mit ihren Zielen wollen sie das Gegenteil der Befreiung, namentlich eine Enthemmung, die der Zerstörung dient. Die rechten Führer halten ihre Reden vor den ideologisch Verbündeten und vor dem Haufen der autoritären Charakter. Sie vermögen nicht wirklich viel, um die Erfolglosen zu verführen. Aber wenn man die Leute nur genügend stark kränkt, am besten indirekt, indem man die Behauptung in die Luft setzt, sie müssten doch gekränkt sein, ist es leicht, aus ihnen Mitläufer von autoritären Gruppierungen zu machen, ohne dass ihnen ein autoritärer Charakter zugeschrieben oder ihrem Verhalten eine pathologische Regression unterstellt werden müsste.

Man könnte meinen, dass sich dagegen nichts machen liesse, dass man es hinnehmen muss, wenn weltweit in den Gesellschaften 25% akut und weitere 25% im Modus der Latenz, und nur davon ist hier die Rede, destruktiven Führern huldigen – entweder weil die Massenphänomene mit einer stochastischen Folgerichtigkeit ihren Lauf nehmen oder weil das Ganze sich sowieso am Ende der Epoche der Aufklärung befindet, am Ende der diskursiven Vernunft, wo man darauf zu warten hätte, dass ein äusseres Ereignis die objektiven Verhältnisse verändere. Im Gegenteil! Es drängt sich die Einsicht auf, dass man niemals aufhören darf zu reden, auch dann nicht, wenn kein historisches Subjekt mehr dasteht, an das eine Rede sich wenden könnte. Die zwanglose Nötigung zum solidarischen Handeln im Gegenüber der Kumpels an den Arbeitsstätten ist seit langem schon verschwunden, und wer zum Broterwerb vor dem Bildschirm sitzt, kennt nur noch Systemfragen, die immer letztlich durch ihn oder sie selbst, also im Alleingang, eine Lösung finden. In einer solchen Welt zählt die grosse Rede nichts – um nichts weniger hat das unaufhörliche Reden einen wichtigen Platz. Das Ansprechen und Reden, auch in den entgrenzten Formen der Bilder, bilden einen Weg, die Einzelnen vor der Regression in die Zerstörungsphantasie zu bewahren. Allerdings muss die angetönte Norm und Idee im Auge behalten werden, dass der Text- oder Redefluss nicht von einer isolierten, allgemeingültigen Norm getragen werden darf, von keiner Lehre: wie das herkömmliche aufklärerische Reden, das im Kern zum Tätigwerden der grossen Gruppen anspornt, sich davor hüten muss, eine Lehre übertragen zu wollen, muss auch das Sprechen zu den Einzelnen frei sein von jeder Lehre, namentlich jeder moralisch-politischen. Anders gesagt: Sowenig sich die Theorie noch an ein allgemeines Subjekt richten kann und – wegen den historischen Erfahrungen – in keiner Lehre gipfeln darf, sowenig darf das Reden zum destruktiven Einzelnen unvermittelte Forderungen enthalten. Trotzdem kann man in einer naiven Volte den Einzelnen immer wieder zur Frage bringen, ob er wirklich all den Unsinn, den die Verführer und Verführerinnen auf der Weltbühne der Bildschirmmedien verbreiten, glaubt, oder ob er sich nur in dieser Brühe suhlt, weil er zu faul geworden ist, über den Rand hinaus zur Wirklichkeit hinüberzuschauen: steht dein Führer auf deiner Seite und vertritt er dich, wenn er behauptet, es hätte zu wenig Geld in der Staatskasse für das, was jetzt gerade gesellschaftlich gefordert wird, er aber zu den reichsten 2% des Landes gehört und es in seiner Sache, neben den folkloristischen Hobbythemen, doch immer nur um sein angerafftes Geld geht? – Man sieht, dass zwei gesellschaftliche Charaktertypen gleichgestellt und miteinander identifiziert werden, die empirisch verschieden sind, derjenige, der durch existentielle Erfahrungen verleitet sich selbst aufgibt und derjenige, der peu à peu sich nur noch an der Warenform der Güter der Kulturindustrie orientiert, so dass ihm sein Selbst wie beim ersten Typus so erscheint, als hätte er es in einem eigenständigen Akt aufgegeben (solange beim Konsumieren jemand etwas empfindet und zwischen den angebotenen Waren mit Lust unterscheidet, ist das nicht der Fall).

Das alles sind zweifellos leerlaufende Sätze eines Delirierenden, der sich verstandesmässig selbst im Wege steht. Auf einer bestimmten, bedrohlichen Ebene verstand man das Ungeheuerliche des Balkankriegs und versteht man den sogenannten Islamischen Staat, nicht weil es eine Ideologie gebe, die man in Zweifel ziehen und also diskutieren könnte, sondern weil die allgemeine Geschichte so lange noch nicht die der Menschen ist, als die Waffenproduktion zur systematischen Ökonomie gezählt und geduldet wird und in dieser fahrlässigen Duldsamkeit der Zivilgesellschaft die rohe Gewalt quasi mit Not immer wieder ausbrechen muss; nicht mehr zu verstehen ist aber, dass so viele Menschen an den Lippen ruinöser Charaktertypen hängen, die, wie sie in ihrer eigenen Erscheinung zeigen, nie jemals in ihrem Leben eine gute Sache in die Welt gesetzt haben. Man versteht es nicht – vermag aber im gleichen Zug nachzuvollziehen, dass es materielle Zusammenhänge gibt, die in kleinen, unscheinbaren Partikeln dastehen und alle Menschen weltweit betreffen. Und aus diesen Winzigkeiten im gewöhnlichen Alltag erwächst das Erschütterliche, immer weiter, die Wahlen von Grüseln, wenn man den kleinen Gebilden lässig gegenübersteht, nur weil man in einem Erschöpfungsmoment einmal meinte, man hätte sich selbst aufzugeben.

Gut möglich, dass man einem unausgesprochenen Moratorium ein Ende setzen und es also wieder sagen muss, dass der grössere Teil des Riesenhaufens an Produkten der Kulturindustrie nichts wäre ausser schlecht, dass man verzichten könnte auf die meisten Verlage, Konzertlokale, Fernseh- und Radiostationen. Bei der weltweiten Fehleinschätzung des Internets scheint es indes nur wenig realistisch, dass der andere, kleinere Teil öffentlich zu respektieren und zu diskutieren wäre – zu wenige zeigen sich bereit, ausserhalb des kommerziellen Verwertungszusammenhangs der angesprochenen Produkte diskursiv tätig sein zu wollen. Wenn man nur die Bande, die Verbündeten im Neuen Bund der Söldner gegen die Verwüstungen der Kulturindustrie aktivieren könnte und ihnen die Angst vor dem Internet abzunehmen vermöchte! Klarerweise müsste man sich auf die Kulturindustrie ausrichten, aber man darf es nicht, weil nach wie vor zu gelten scheint, dass sie nicht wissen, was sie tun, sowohl die Akteure und Produzentinnen wie die KonsumentInnen im umfassenden, alltäglichen Zusammenhang der Kulturindustrie. Aber nur so lange handelt es sich um einen Kampf gegen Windmühlen, als die Stösse sich gegen die Kulturindustrie als ein Ganzes richten; im Ernst der Einzelgebilde verankert sich die gewöhnliche diskursive Auseinandersetzung, beschränkt einzig durch die Dürftigkeit der Gehalte, die darauf aus ist, statt den Gedanken das Falsche abzusaugen, den deutenden Worten die Kraft zu nehmen (die adäquate Form eines Gebildes kanalisiert das Falsche und führt es ab). Wegen der Einförmigkeit der Produkte der Kulturindustrie, ihrer Warenform, müssen ihre „Analyseverfahren“ der statistischen Analyse der Big Data-Phänome ähneln: man biedert sich der Journalistik an und macht Ranglisten der Einzelstücke – und spricht aufmunternde Worte: in den siebziger Jahren sass ein jüngerer Nachbar nächtens vor Beizenschluss an meinem Säufertisch und fragte allen Ernstes, ob es okay sei, dass er die Tanzkapelle Nazareth gut finde, das ginge doch, oder – natürlich geht das, hier und jetzt gefragt, auch wenn in einem anderen, ernsteren Zusammenhang das Werturteil anders hätte ausfallen müssen. Man darf immer damit rechnen, dass mehr Verstand den Alltagsmenschen antreibt als er sich selbst zugesteht und als er gegen aussen zeigen will. Wenn die KonsumentInnen sich auch nur geringfügig bewegen liessen, hätten die Nationalisten mehr Mühe, ihre Unseligkeiten im Namen einer Klientel durchzusetzen, deren Willen sie nicht ausführen, umso lautstarker auszuführen vorgeben. Und dennoch. Das unglückliche Bewusstsein, das seine eigenen Vorstellungen nicht mit den Gegebenheiten der Realität zur Deckung bringt, kann mit Bildern, die das Reale mehr verklären als repräsentieren, geködert werden. Nicht vor ein Tribunal sollen die Unglücklichen geschleppt werden und nicht in ein Verliess verschleppt dem Geständniszwang ausgesetzt, sondern selbsttätig sollen sie dank der Verführung erste Schritte ins Reich des Rechts auf Einsicht wagen. Die ersten zögerlichen Schritte zum Willen der Selbstverständigung werden schon Garantie dafür sein, dass der Blick auf die Welt, sei es der auf verbindliche Gebilde oder solche der Kulturindustrie, auch ohne allen wilden Drang zum Zerstörerischen gelingen und Bestand haben kann.