Maurice Chappaz, In Wahrheit erleben wir das Ende der Welt, Herausgeber Charles Linsmayer, Verlag Huber 2012.
Das biographische Nachwort ist nicht besonders diskussionslustig abgefasst und weicht der entscheidenden Frage aus, was denn eine Lektüre nach 2012 in den Werken von Chappaz zu suchen hätte. Die buchhalterische Kargheit lässt einen allein, auch wenn man sich über die ermöglichte Einsicht ins Empirische des Dichterlebens freut, wie es sich der Reihe nach zeigt. Doch obwohl Linsmayers Beilage trocken und immerzu korrekt erscheint, ist sie zum Nachschlagen letztlich unbrauchbar, da eine Bibliographie fehlt und man zu den Publikationsdaten doch wieder nur via Wikipedia findet.
Die kritische Deutung ist keine psychiatrische Sitzung, in der verständnisvoll die familiären Konstellationen abgefragt würden. Sie spürt den realisierten Gebilden nach und klopft sie zähen Blickes ab, um die Defizite, die sie heute verdunkeln, freizulegen. Die affirmative Rezeption hatte den freien Geist von Maurice Chappaz hervorgehoben, der sporadisch zu einem Hippyleben im Wallis avant la lettre geführt hatte, von Sierre bis Raron. Dieses Bild war in den Siebzigerjahren, als die entscheidenden Werke am Erscheinen waren und 1976 in Les maquereaux des cimes blanches gipfelten, nötig, um den Dichter vor der ungeheuer primitiv geführten Kampagne gegen das letzte und gegen ihn selbst zu schützen. Wie ein verschlafenes Nest aufscheuchend erscheinen die Zuhälter der hohen Zinnen in eine Reihe von Publikationen hinein, die man ausnahmslos als Hymnen aufs Wallis zu qualifizieren hat, von den munteren Texten über die Walliser Lebenstypen und die Arbeiter der Grande Dixence bis zum Naturgesang auf die Haute Route, wenn man denn überhaupt damit rechnen darf, dass die Walliser Bevölkerung diese Kunstwerke zur Kenntnis genommen hatte. Nur Grossvater war vorbereitet, denn auf wen wenn nicht auf ihn selbst münzte der Neffe seines Chefs die Zeilen schon 1960: „Mich ekelte an / dieser Wanst von Stall als er Grand Hotel wurde“? Doch er und Grossmutter hielten zu Chappaz und Corinne Bille und zeigten mit dem Daumen, wo ich sie gerade jetzt und heute auf der Strasse treffen könnte.
Ein Nestbeschmutzer sieht in den Augen der scheinbar Angegriffenen zuviel. Chappaz aber muss man umgekehrt vorwerfen, von Anfang an und immer wieder, zu wenig zu sehen: dass er vom konkreten Zusammenhang, in dem die Dinge geschehen, zu früh abstrahiert und folglich nur quasi kulturkonservativ jammert statt eine substantielle Kritik anzureissen und diskursiv durchzuführen. (Man kann nur hoffen, dass die Filiation durch die Nähe zum gefährlich tief in den Körper der Walliser Bevölkerung eingegrabenen Bisse Brun de Savièse bei den Chappaz letztenendes nicht derjenigen ähnelt der Strawinskys; Chappaz Schwiegervater war in der Tagespolitik aktiver Sozialist und sein Onkel-Vater Maurice Troillet lange Zeit eine Lokomotive des Walliser Wandels im Dienste der Gewöhnlichen, auf dubiosen antiaufklärerischen Pfaden keiner der Vorgänger.) Im Krieg führte er als Leutnant die Truppe der einheimischen Bauernkollegen als Grenzwächter im oberen Val de Bagnes, auf dem Terrain derjenigen Alpen, deren Hauptställe ganz ohne Holzzusätze aus Trockensteinen gebaut sind. Den See gab es noch nicht, und dennoch gingen die Wege auf beiden Seiten des obersten Tales auch bei den sonderbaren Kuhställen vorbei; zumindest Giétroz musste er gesehen haben, und als er von Fionnay aus, einem Nest abgetrennt vom ganzjährig belebten Tal durch einen Urwald, den die Touristen nur deswegen nicht aus dem Postauto zu bewundern verstehen, weil sie nach Lourtier an ihren iThumps nuckeln, zum Col de Cleuson ging, um mögliche Wüsteneindringlinge auf dem Gletscher abzufangen, ging es auch an den Ställen von Sovereu vorbei. Das nenne ich schlechtes Hinsehen, wenn einer mehrere Jahre lang als Jäger ein kleines Gebiet behaust und nichts von den Alltagsbesonderheiten – dem Älplerleben – zu berichten weiss.
Der Vorwurf des Zuwenig ist immer auch auf den Abbruch des Jurastudiums bereits nach zwei Jahren gerichtet. Der Abbruch selbst wäre nicht zu kritisieren, wohl aber der Umstand, dass sich Chappaz gegenüber den Gehalten des Fachs komplett ignorant verhalten hat. Es spielt keine Rolle, ob man sich in den Domänen der Geistes-, Sozial-, Rechts- oder Wirtschaftswissenschaften bewegt, denn alle sind sie auf dieselbe Realität ausgerichtet, von der sie sei es historisch oder strukturell grosse Stücke zu berichten wissen, auch dann, wenn das reguläre Studium auf ein eingeschränktes Hantieren hin ausgerichtet ist. Chappaz ignorierte diese Gegebenheit radikal, und mir scheint, er missachtete in der Kritik am Wallis viele Vorgänge des gesellschaftlichen Fortschritts, die man eben im Augenschein zu halten hätte. Sein dürftiges Gebaren diente häufig nur dem einen: so schreiben zu können, dass man immer über der Sache steht und immer recht hat. Seine Tochter rettet die eingetrübte Ehre durch den Beruf der Philosophielehrerin, wie er in der Deutschschweiz seit langem verboten scheint. Die intellektuelle Korrespondenz zwischen Maurice und Marie-Noëlle würde mich nicht wenig interessieren: vermochte er überhaupt historisch situierten systematischen Begriffszusammenhängen, also philosophischen Fragen im eigentlichen Sinne, zu folgen oder warf er sie unbesehen in seinen berüchtigten Topf der Forderungen des Zweiten Konzils, die ihn nur zu Polemik, zu Ironie und ewig repetiertem Sarkasmus verleiteten?
Auch sein Verhältnis zur Musik ist eiseskalt und geht kaum je weiter als bis zum Gregorianischen Choral, dessen Entstehungs- oder Schöpfungsweise er ohne viel Verständnis, ohne vieles Nachfragen mystifizierte. Er dünkt einen deswegen möglicherweise borniert, weil er einerseits nicht zur Kenntnis nahm, in welcher Weise die Mönche vom Saint Bernard künstlerisch scharf gewesen sein mussten, wenn sie den Zappa des 15. Jahrhunderts, Dufay, dazu aufforderten, extra für sie neue Stücke zu schreiben, andererseits ausgerechnet einen von ihnen 1979 eingeladen hat, für Mamma Chappaz die Totenmesse zu lesen, aus der Eiswüste heruntergepilgert und von Siders dann wieder nach Veyras hinauf.
Mindestens einmal aber erscheint uns seine theoretische Phantastik realitätsgerecht und bedenkenswert, im Pamphlet „Ich wünsche mir s i c h t b a r e Tschernobyls“, unterzeichnet Weihnachten 1987. Der Gedanke, der nicht ganz frei von der Katastrophenparanoia ist, dem bösen Wunsch also, dass bei meinem Sterben gefälligst alles andere auch unterzugehen hat, läuft darauf hinaus, dass nur dann, wenn sichtbare ökologische Unfälle passieren, gesellschaftlich der nötige Druck zu entstehen imstande ist, unter dem die entscheidenden Regulierungen auch geschaffen werden. Sind wir heute nicht wieder Zuschauer in einem Prozess der Weltpolitik, wo die Entscheidungsträger allenthalben zu Boden blicken, wenn sie Regulierungen beschliessen sollten, die das abzuwehren vermöchten, was in den objektiven Wissenschaften ohne Eingriffe um den ganzen Globus herum vorausgesagt wird?
Das Lesebuch ist eine verdankenswerte Hilfe; es präsentiert einem aber nur in Ausnahmen denjenigen Chappaz, der noch heute lesenswert ist. Das wäre nach wie vor derjenige, der sich in den Einzelwerken eingegraben hat und den man in der Weise aufspüren muss, dass man sie als isolierte abtastet (es handelt sich immer um Stücke von Poesie, die bekanntlich nicht linear durchzulesen ist). Es besteht keine Notwendigkeit, die eigene Lektüre als Lobgesang und den Autor als Ausnahmekünstler zu begreifen. Gerade in Momenten, wo man nicht einverstanden ist und sich gegen ihn wehrt, wirft das aufmerksame und wache Lesen einen Nutzen ab, sei es künstlerisch poetisch als Wundersamkeit aus einer vordergründig kunstarmen Region, sei es als Einsicht ins widersprüchliche Funktionieren einer Gesellschaft, die vor nicht gar langer Zeit im Abseits stand und von einem erst dadurch in die halbwegs vernünftige Diskursgemeinschaft hineingeschmuggelt werden konnte, indem er es noch verstanden hatte, ihr einen Kinnhaken zu verpassen.
Identische Version mit Bildern und Links: http://www.ueliraz.ch/rezensionen/chappaz.htm