Archiv für den Monat August, 2007

Australien

Donnerstag, 30. August 2007

Wieder atypischer Alptraum. Ich scheine ein Konzertbillet gewonnen zu haben, aber das Konzert findet in Australien statt. Nach Diskussionen und Erwägungen entscheide ich mich zu gehen, morgen um 6 Uhr, und nach 24 Stunden ist der Rückflug wieder hier. Vor dem Abflug kommt ein Alter Alki, macht irgendetwas, Klavierstimmen oder Klavierspielen oder so, erzählt Erlebnisse aus dem Falken und dem Pyri und fragt dann, wann ich mein Konzert hätte mit Susanne. Ich kann mich nicht recht erinnern, phantasiere mir eine Partitur zusammen, und es dünkt mich, ja, ja, wir werden demnächst spielen. Dann kommt sie auch schon hereingetreten, schön und blond und etwas grösser als in Wirklichkeit, nachdem ich noch auf einer Art Weltzeituhr an der Wand, die aber momentan ausser Betrieb zu sein scheint, gesehen oder geahnt hatte, dass das Flugzeug schon abgeflogen sein muss. Wir stehen seitlich zusammen, Arme um die Schultern, und merken, dass es gefährlich still ist im fast ganz dunkeln Haus, wie in einem Krimi. Man hört, wie sich etwas verschiebt. Sie sagt: Achtung, das ist eine Louson-Türe! Eine was? Nicht eine Looser-Türe, sondern eine gefährliche Louson-Türe (fast wie Lausanne). Jetzt sehe ich, was es ist. Eine Schiebetafel, 40x40cm, wird in der Tapete nach aussen gehoben und seitlich weggelegt, auf eine Kommode. Aus diesem Loch in der Wand erfolgen nun die gellendsten Schüsse. Der ganze Körper fühlt sich an wie seit einem halben Jahr nur das linke Becken, wie unter Strom. – Klar, dass da hässliche, aufgenötigte Sitzungsstunden verarbeitet werden. Wie kann ein Mensch nicht merken, dass ich nicht lügen kann, und nutzt solches frei von aller Scham bis ins Letzte aus?

Alpumzug

Mittwoch, 29. August 2007

Seit dem ersten Treffen für die Gutachten im Auftrag der Invalidenversicherung haben die Alpträume wieder eingesetzt, nicht in der Anhäufung und in der brutalen Suitenform der Jahre 1979-1986, aber doch das Ende einer gut zwanzigjährigen Ruhephase deutlich markierend. Ich warte auf das Postauto, das mich mit viel Gepäck, so umfangreich wie eine ganze Wohnungseinrichtung ohne Bücher, Bilder und Musikalien, nach Zürich bringen soll. Ein mittelgrosser Lieferwagen fährt heran, und erst als er schon vorbeigefahren ist, merke ich am grossen Hinterfenster, dass dieses das Postauto gewesen sein muss. Ich stehe mitten auf die Strasse und winke es zurück – es wendet tatsächlich, und alles geschieht, was geschehen sollte, das Mobiliar wird eingeladen. Dann aber ist der Bus voll, und man sagt, das Mobiliar würde vorerst allein transportiert, ich selbst würde später abgeholt. Ich schaue zu, wie das Auto, grau in grau, abfährt, aber schon bald von der Landstrasse in einen Feldweg abbiegt, nach rechts auf ein grösseres Haus zu auf einem Hügel. Ich werde nicht recht schlau und sehe alsbald das richtige Postauto heranfahren, gleiche Grösse wie das andere, knapp 20-plätzig, aber in gelber Postautofarbe. Am Steuer ist eine sehr schöne Chauffeurin, die einverstanden ist, den Kurs über den Feldweg zu fahren. Kaum eingespurt, sehen wir die Barrikaden, immer eine von rechts bis über die Mitte der Spur, dann zwei Meter weiter eine von links – eine weite Strecke, die kein Auto durchzufahren vermag, die sich aber zu Fuss hinter sich bringen lässt. Ich weiss nicht, ob ich die Frau gebeten hatte, mitzukommen, jedenfalls steigen wir beide aus und machen uns auf den Weg. Sofort beginnt eine brutale Schlacht, geführt von den Leuten, die mein Mobiliar vor kurzem abtransportiert hatten. Ich wehre mich mit einem Zackenrädchen, wie ich es als Kleinkind bei der Nähmaschine liegen sah und das dazu diente, Strickmustern nachzufahren, mit einem Durchmesser von 2cm, montiert an ein Stäbchen von 10cm Länge. Wozu es wirklich benutzt wurde, konnte ich nie beobachten, aber jetzt drücke ich es einem Angreifer in die Ferse, da ich wohl in der Gemengelage und zwischen den Barrikaden schon bald zu Boden ging. Es fliesst Blut überall. – Was immer im Traum steckt, er ist auch eine Warnung dagegen, heute das Pensionskassengeld aufzulösen. Solange ich mit einer 100% Invalidenrente lebe, kann ich es auflösen, nach dem Entscheid in einem Monat wird das nicht mehr möglich sein. Nur so lässt sich vermeiden, von der Invalidenrente zur Fürsorge abgetrieben und aus der Wohnung, die dann 50 Franken zu teuer wäre, herausgetrieben zu werden. Das Geld wird für ein Jahr lang reichen. Vielleicht findet sich in dieser Zeit ein Einkommen, vielleicht wird die Krankheit, die unaufhörlich an die Türe klopft, dann die Biographie zu Ende schreiben.

Thomas Pynchon

Sonntag, 19. August 2007

Über eine Kunst zu schweigen, nur weil sie zuviel Problematisches enthält, wäre feige. Jede muss ihr Material, der Gesellschaft entliehen, in sich selbst entwickeln, und dass es über die Gesellschaft und die wahre Wirklichkeit hinausgeht, trennt sie wesentlich von der Theorie. Wie der Bogen gespannt ist, macht die Qualität des Rätselhaften in ihrer Entzifferung aus – und führt zur Ablehnung, wenn er überspannt wird.

Die frühen Kurzgeschichten von Thomas Pynchon in Spätzünder (1958-1964, dt. 1985) zeigen einen früh gereiften Autor, dem man wohl auch ausserhalb einer historischen, organisierten Lektüre, die nicht der Entstehungsgeschichte folgt, sofort vertraut hätte, sowohl sprachlich wie im Aufzug und der Anlage der Sprachgebilde. Das Unwahrscheinliche tritt einzig als Moment auf, das die Geschichten erzählwürdig macht, als das Besondere im Allgemeinen einer historischen Wirklichkeit, bloss hervorgehoben und leicht stilisiert, nicht verfälschend. Ganz am Rand winkt der Name eines Arztes, bei dem sich die deutschsprachige Zunge verknoten will und der in einem späteren Werk zentral erscheint, dem in Wirklichkeit aber kein gelebter Eigenname entspricht: Slothrop – heute treibt er als heissgeliebter Übername im Popuniversum sein Unwesen, allein von Google im Ralen notdürftig zusammengehalten.

Das nächste Werk, von 1965, liest man als erweiterte Shortstory (deutsch 1973 als Die Versteigerung von Nr. 49) und enthält doch schon die Materialien der folgenden grossen: viel Alkohol, Drogen, Sex als Abfolge de Sadescher Cabaretnummern, Arien (in der Lektüre zu singende Songs mit präzisen Angaben), Verschwörungsgebilde in einem immens verzweigten Geäst, Bezugnahme auf Komponisten wie Stockhausen. Die Geschichte ist ordentlich spannend … und floppt wie ein Krimi, in dem der Mörder schlussendlich doch nicht auszumachen ist. Das Grossartige liegt weniger im Plott als dass 1965 schon etwas zur Darstellung gelangt, was sich erst in den darauf folgenden Jahren breit entwickelt; deshalb darf man Pynchon nicht nur als Zeitzeugen der Popkultur verstehen, sondern geradewegs als einen ihrer Akteure selbst, und keineswegs als ihr schmächtigster.

1973 wird Gravity’s Rainbow veröffentlicht, deutsch dann 1981 von Elfriede Jelinek und Thomas Piltz als Die Enden der Parabel in einem Umfang von 1194 Seiten. Einige Sexszenen sind zwar kaum zu ertragen, lassen sich aber, da auf wenige Seiten beschränkt, überlesen; sie sind nicht wirklich problematisch. Schwieriger ist es, abzuschätzen, was die Geschichte überhaupt will. Sie ereignet sich während der letzten Jahre des Zweiten Weltkrieges und wird aus dem Blickwinkel nicht weniger Agenten, Gegen- und Doppelagenten gezeigt, darunter hauptsächlich eben auch aus demjenigen des Amerikaners Tyron Slothrop; sie will, wie es scheint, nichts weniger als die Antriebskräfte des Krieges sichtbar machen. Solche konzentrieren sich um die Entwicklung der Technik, die abhängig ist vom Stand des technischen Wissens und dessen kapitalistischer Verwertung wie von der Triebstruktur derjenigen, die dieses Wissen produzieren, zunächst rein theoretisch, schnell aber im Zusammenhang der Produktion handfester Technologien. Den Zusammenhang von Triebstruktur – vorzüglich in der Form des Sadomasochismus – und Technik ins Zentrum zu setzen und das Ideologische oder Politisch-Gesellschaftliche der einzelnen Staaten aussen vor zu lassen, ist sicher nicht falsch und hilft, den Hintergrund auch gegenwärtiger Kriege transparenter zu machen, als abhängig von Interessen Einzelner; ja, es ist dies eine Kleinklasse heute, mit Vasella, Gates und nur wenigen anderen in der Compagnie (die wirklichen und reinen Waffenproduzenten und Kriegstreiber kenne ich nicht). Und doch kippt die Einschätzung des Romans ins Gegenteil, das nun dasteht als eine Ansammlung pubertärer Lügengeschichten, die dem Grauen Hohn sprechen, ganz einfach dadurch, dass sie es verschweigen. Unerträglich wird das Vorgetragene, wenn es auf dem Niveau der James Bond-Filme Slapsticks aneinanderreiht, die einem mit jeder Pointe nur lauter ins Gedächtnis und ins Gewissen rufen, dass das Ganze doch über der Hölle des Holocausts geschieht. Man muss wohl vollgedröhnt sein oder der Paranoia der Süchtigen aus freiem Willen alle Vorzüge gewähren, wenn man während der langen Lektüre das Buch von seinem unterlegten Sinn entbinden und den Antisemitismus nicht als tieferliegende Voraussetzung zu den im Text angesprochenen wahrnehmen will.

Vineland von 1993 und deutsch 1995 erweitert das Szenario des popkulturellen Frühwerks der Versteigerung von Nr. 49, indem die Geschichte auf gemässigten 480 Seiten zeigt, was aus den Hippies der sechziger Jahre geworden ist. Die unbedarfte Lektüre macht einzig klar, dass diese Gruppe marginal geworden ist und in ihr selbst sich nur sehr weniges verdichtet, das mit der Gesellschaft im allgemeinen am Geschehen ist. Die ersten dreissig Seiten mögen noch so virtuos und spannend dastehen – der Erzählfluss stirbt nachher ab, und das Kunstwerk vermag es nicht, einen Einblick in das Rätselhafte gesellschaftlicher Wirklichkeiten zu vermitteln. Hier ist es weniger der Irrealismus, der so wenig Erkenntnis freisetzt, als das gewählte Objekt selbst, die paranoische Drogenszene; ihr Einfluss auf die Gesellschaft ist einfach zu gering, als dass man nicht sagen möchte: sollen sie doch denken was sie wollen (das Buch macht nicht die geringste Anspielung darauf, dass Süchte ein medizinisches und umgekehrt die Medizinisierung und Psychiatrisierung ein politisches Problem darstellen).

Die beste Geschichte in den letzten drei Wochen dünkt mich Masen & Dixon von 1997, deutsch 1999, mit 1023 Seiten ein Werk, das wieder entschiedene Hingabe verlangt, also kaum ohne weiteres bei KonsumentInnen der Popkultur vorausgesetzt werden kann. Der eine (theoretischer) Astronom, der andere (handwerklicher) Geometer, werden Mason und Dixon von der englischen Royal Society nach Südafrika geschickte, um dort 1761 den Durchgang der Venus vor der Sonne mit theoretischem Gewinn wissenschaftlich zu beobachten. Jahre später müssen sie im Namen derselben Gesellschaft nach Amerika, um eine heikle Grenzberechnung durchzuführen, der eine geometrisch läppische schnurgerade Grenzziehung nach Westen folgt, die nur Durchsetzungskraft (und also Gewalt) erfordert und deren messtechnicher Hintergrund – die Ausnahmslosigkeit in der Ziehung der Grenzgeraden – ungeklärt bleibt. Auch später, zurück in England, sind sie nicht definitiv getrennt, und es fehlt nicht viel, dass zwei Kinder von ihnen sich verheiraten würden. Alles Gute im Buch erscheint, als ob die grossen späten Typoskripte von Arno Schmidt eine Fortsetzung gefunden hätten: Phatanstereien und Lügengeschichten zuhauf, doch in ihrer Anhäufung wohl dosiert und immer transparent auf einem erzählerischen Boden, der die reale historische Wirklichkeit nicht korrumpiert – man traut dem gewährten Recht auf Einsicht in die realen Abgründe der Zeiten der Aufklärung. Neben den einzelnen Geschichten, die von jedem Protagonisten des Buches vorgetragen werden können – es gibt unzählige, und die Mason-Dixon-Geschichte ist selbst schon eine solche – gibt es die phantasierten Biografien und die Legenden über andere Lebewesen, haarsträubende Deutungen theoretischer Vorgänge und solcher in der Natur unter erschwerten Beobachtungsverhältnissen, schliesslich am lustigsten die allmähliche Verwandlung realer Szenen wie bei Schmidt in gespenstische oder sonstwie phantastische. Im Gegensatz zu den Enden der Parabel, und darin zerstört sich letztere als Kunstwerk ausserhalb der bloss ironisch-witzigen der Popszene, benutzt hier Pynchon die Lüge nicht dazu, den Gang der Geschichte vorwärts zu treiben. Indes haben auch andere RezensentInnen festgestellt, dass die einzelnen Phantasiegeschichten im vierten Fünftel des Buches eine eigentümliche Eigenschaft aufweisen, nämlich in sich zwar nicht ganz schlecht geformt zu sein, aber doch gegenüber dem Ganzen unmotiviert und etwas langweilig dazustehen – als hätte einer sich trotz diverser Warnsignale durchgerungen, verstaubte Reststücke aus Übungszeiten weiter zu verwerten. Als Kind schaute ich oft zu, wie die Spaghettisauce vor sich hin köcherlte – welch Graus, wenn die Mutter kurz vor dem Essen den Kühlschrank öffnete und die schwarzgebratenen Zuccettiresten, mindestens eine Woche alt schon, unter die duftende Sauce rührte. Das war heftigster Pynchon avant la lettre. Die theoretische Aufgabe gegenüber dieser grossen Kunst wäre es, herauszufinden, welche Notwendigkeit es erforderte, theoretisch so weit – und spannend – abgestützte Geschichten mit Unsinn zu überfrachten, der im Lektüremoment vielleicht lustig ist, das Gute im Text aber bis ins Innerste verfälscht. Kann das Falsche im Gebilde die Menschen auf dem Weg fit machen, dem Falschen in der Gesellschaft entgegen zu treten? – Im Namen der Spaghettisauce ohne spitze Tomatenhäutchen und schwarzgrüne Zuccettiresten: Nein.