Archiv für den Monat Februar, 2012

Shepherd, Kim, Chin, Jarell

Montag, 27. Februar 2012

Soeben live auf France Musique concert enregistré le 10 janvier, à Paris, Cité de la Musique, Ensemble intercontemporain, Susanna Mälkki, direction.

Sean Shepherd (né en 1979), Blur (création mondiale). – Einer sucht und sucht und findet nichts im selbst gelegten Gestrüpp der Stile, Kompositionsansätze und Ästhetiken. Das Stück verdient dem Tag zu Ehren – einen Oscar.

Texu Kim (né en 1980), Toccata inquieta pour clavecin et ensemble (2011, création mondiale), Dimitri Vassilakis, clavecin amplifié. – Schon wieder eine Gammeltonalität mit längst abgelaufenen Formimpulsen. Ist die vorangegangene Musik Gebrauchsmusik für den Film, wo das Vernünftige ausgeräumt bleibt, ist diese eine fürs Theater.

Unsuk Chin (née en 1961), Gougalon, scène de théâtre de rue, pour ensemble (version définitive), I. „Prolog – Dramatisches Aufgehen des Vorhangs“ II. „Lamento der kahlen Sängerin“ III. „Der grinsende Wahrsager mit dem falschen Gebiss“ IV. „Episode zwischen Flaschen und Dosen“ V. „Circulus vitiosus – Tanz vor den Baracken“ VI. „Die Jagt nach dem Zopf des Quacksalbers“. – Durch eine schöne dichte Schreibweise ist das Stück, das in den Untertiteln explizit darauf hinweist, Theatermusik zu sein, vor allen bösen Worten geschützt. Die Komponistin zeigt auch in diesem Werk eine so grosse Stärke, dass die zeitweilige Lehrerschaft Ligetis ihr offenbar nichts hat antun können. (Nach dem Konzert wurden noch Stücke aus Akrostichon-Wortspiel von 2004 ab CD gespielt, auch dies eine Musik, die die Eigenständigkeit und Qualität von Unsuk Chin deutlich macht: III. „Die Spielregel“, IV. „Vier Jahreszeiten“, V. „Domifare S.“, VI. „Das Beliebigkeitspiel“, VII. „Aus der alten Zeit“)

Michael Jarrell (né en 1958), La Chambre aux échos (commande de l’Ensemble intercontemporain, Lucerne Festival, Fondation Artephila, création française de la version définitive). – Die gleichbeste Musik von heute wie die von Chin. Ein starkes, aber auch etwas leichtes Stück. Man dürfte Répons nicht kennen, um es beim Anhören kontinuierlich, ohne sporadische Seitengedanken an das ältere Werk, adäquat einschätzen zu können.

Dusapin, Debussy, Bartók

Freitag, 24. Februar 2012

Soeben live auf France Musique Concert donné le 25 janvier 2012 im Auditorium de Lyon, Festival French Kiss, Orchestre Philharmonique de Radio France, Myung-Whun Chung, Direction.

Pascal Dusapin, Uncut, Solo pour orchestre N° 7, Créé le 27 mars 2009 à la Cité de la Musique (Paris). – Das Stück ist, zusammen mit allen vorangehenden Solos für Orchester, auf einer der ganz wenigen CDs, die ich mir seit zwanzig Jahren wieder leistete. Erst heute fällt mir aber eine Art Polyrhythmik auf, die den Einsatz von zwei Händen verlangt, wenn der metrische Prozess verfolgt werden soll. In der Tiefe kompliziert, erscheint es auf der Oberfläche ziemlich einfach, mit der Seltsamkeit, als ob es Debussy und Varèse in der Weise weiterentwickeln würde, dass der Zweite als Vorläufer des Ersten betrachtet werden müsste.

Claude Debussy, La Mer L 190, Trois esquisses symphoniques (1903,1905). – La Mer jünger als Amériques? Wenn man an die Präzision denkt, die eine Vagheit im musikalischen und aussermusikalischen Empfinden auslösen soll, nicht ganz und gar abwegig. (In Dusapins Stück figuriert die Präzision klar auf der Oberfläche und wird dann greifbar, wenn sich die Blöcke in Solostimmen isolieren lassen, gerade so, wie es der Titel der sieben Orchesterstücke nahelegt.)

Béla Bartók, Concerto pour orchestre (1943). – Versimpelter Debussy, aufgemöbelter Gershwin: Bartók hatte viele gute Stücke geschrieben, dieses gehört nicht mehr zu ihnen. Es schaut so frisch aus wie eine Meise, die nur noch auf ihren Sperber wartet.

Zusatz: Verfolgt man die Frage über Kunst und Kommerz, dürfen diese letzten Orchesterstücke Bartóks nicht fehlen. Sie zeigen, dass der Verfall an die gesellschaftliche Notwendigkeit nicht aus Liederlichkeit wie bei SchülerInnen Ligetis oder Berios geschieht, sondern aus der gesellschaftlichen Not und dass diese gleichzeitig aus solchen Werken nicht herauszulesen wäre. Schlimm ist nicht, dass einer um des Überlebens Willen zu den guten Werken kommerziell erfolgreiche hinzufügt, sondern dass aus diesen eine verdeckte Kunst niemals mehr hervorschimmert. Die auf Erfolg abgezielten Stücke sind so schlecht wie die Gesellschaft, der sie gefallen sollen.

Oscar Strasnoy, El regreso

Donnerstag, 23. Februar 2012

Soeben auf France Musique Concerts donnés le 21 janvier 2012 au Théâtre du Châtelet:

Oscar Strasnoy (*1970), El regreso, Opéra chambre. Musicatreize, Brigitte Clair, Chef de chant, Roland Hayrabedian, Direction.

Nach zwanzig Minuten hat man die Soundkopie von Berio akzeptiert, und das fünfzigminütige Stück zeigt sich als flüssige Unterhaltungs- und Beruhigungsmusik.

Schostakowitschs Siebte, Leningrader Symphonie

Samstag, 18. Februar 2012

Gestern nach dem erotischen Violinkonzert von Schönberg aus Wien ebenso direkt live auf France Musique de la Salle Pleyel, Paris, l‘ Académie de l’Orchestre Philharmonique de Radio France et du Conservatoire de Paris, Vassily Sinaisky, Direction:

Dmitri Chostakovitch, Symphonie N°7 en ut majeur Op.60, Leningrad (1941).

Eine zweitklassige Musik wie alle von Schostakowitsch, sofern sie nicht drittklassig herum- und einem im Wege steht. Man müsste schon nach den ersten Takten oder Minuten entfliehen. Doch im letzten Satz entfesseln sich Kräfte, die einen gar wunderlich dünken und gegen die das historisch-musikalische Ohr sich nicht mehr wehrt. Man erlebt ein Dokument der Weltgeschichte, das Aktualität beansprucht und das man nicht verpasst haben oder missen möchte. Die Musik zeugt als Kunst vom Willen, gegen die Gewalt anzugehen. Am Schluss staunt man auch allein offenen Mundes – und bewundert.

Schönberg: Violinkonzert

Freitag, 17. Februar 2012

Soeben live direkt auf Ö1 das ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter Peter Eötvös mit der Solistin Hilary Hahn, Violine, aus dem Großen Musikvereinssaal in Wien:

Arnold Schönberg, Konzert für Violine und Orchester op. 36 (1934-1936).

Ich kenne das Stück seit über dreissig Jahren und habe es zeitlebens sehr oft gehört, meistens von meiner Platte. Auch heute wieder totale Faszination, eine Fixierung allermöglichen äusserer und innerer Sinne auf die wenigen kostbaren Saiten der Violine, die Geheimnisse freisetzen, als ob sie dem riesigen Orchester, das der Violinistin gegenübersteht, entrissen werden müssten. Es ist einer der Stücke, die nie aufhören dürften.

Zusatz: Vor dem Violinkonzert wurden Arnold Schönbergs Fünf Orchesterstücke in der Originalfassung für großes Orchester, op. 16 (1909, revidiert 1922) gespielt, in keineswegs geringerer Qualität und Intensität. Aber das Geigenkonzert dünkt mich jedesmal etwas so Besonderes, dass es keiner anderen Musik gegenübergestellt werden sollte, auch wenn diese Aussage auf die Orchesterstücke ebenso zuzutreffen vermag.

Lise de la Salle: Liszt

Dienstag, 14. Februar 2012

Soeben auf France Musique Concert donné le 7 décembre 2011 à Paris, Auditorium du Louvre.

Lise de la Salle, Piano

Franz Liszt, Funérailles S.173 N°7 (1849), Ballade N°2 en Si mineur S.171 (1853), Après une lecture de Dante S.161 N°7 (1861), Nuages gris S.199 (1881).

Wolfgang-Amadeus Mozart & Franz Liszt, Réducteur, Requiem en Ré mineur K.626, Lacrymosa (1791).

Robert Schumann & Franz Liszt, Liebeslied S.566 (1848), Frühlingsnacht S.568 (1840).

Franz Schubert & Franz Liszt, Réducteur, Ständchen D.957 N°4 (1828).

Richard Wagner & Franz Liszt, Réducteur, Mort d’Isolde, Ext. de Tristan et Isolde Wwv.90 (Act.III;1859 ).

Liszt hat immer noch Mühe, bei mir so anzukommen, wie seine Musik es verdiente. Die Vermittlungsarbeit von Lise de la Salle trägt viel dazu bei.

Romitelli, Pintscher, Neuwirth

Montag, 13. Februar 2012

Soeben auf France Musique Concert donné le 15 décembre 2011 à la Cité de la Musique, Paris. Leigh Melrose, Baryton, Emmanuelle Ophèle, Flûte basse, Alain Billard, Clarinettes basse et contrebasse, Vincent David, Saxophone, Gérard Buquet, Tuba. Ensemble intercontemporain, Matthias Pintscher, Direction.

Fausto Romitelli (1963-2004): Amok Koma (2001).

Matthias Pintscher (*1971): Songs from Solomon’s garden (2009).

Olga Neuwirth (*1968): Construction in Space (2000).

Ein braves Konzert mit drei guten, aber nur noch wenig umwerfenden Stücken. Die Freude den Tag lang auf es ging im Verlaufe über in eine Überraschung des Gewöhnlichen, das schnell veraltet. Die Werke rühren einen eher an wie Gymnastikübungen als dass sie noch tiefer zu bewegen vermöchten. Schlecht sind sie nicht. Aber weiteres darüber hinaus?

Hans Thomalla: Fremd

Montag, 13. Februar 2012

Gestern auf SWR2 Aufführung vom Juli 2011 in der Stuttgarter Staatsoper mit Medea: Annette Seiltgen, Jason: Stephan Storck, Kind 1: Julia Spaeth, Kind 2: Carlos Zapien, Die Argonauten: 8 Altistinnen, 12 Tenöre und 18 Bässe des Staatsopernchors, Staatsorchester Stuttgart, Leitung: Johannes Kalitzke.

Hans Thomalla: „Fremd“, Oper in 3 Szenen, einem Intermezzo und einem Epilog

Fremd ist eine perfekt komponierte Oper, perfekt aufgeführt, hier zu hören im perfekten Zuschnitt der Uraufführungskonzerte für eine CD-Produktion, und sehr tot. Trotz des ausführlichen Gesprächs mit dem Komponisten muss Wikipedia helfen, den Plot verständlich zu machen: ein Schnösel der High Society macht mit ein paar Freunden eine Weltreise, mit dem Ziel, den politisch Regierenden die letzten gesellschaftlichen Reserven aus den Taschen zu ziehen. In einer Stadt der Neureichen trifft er, Ionas, auf Medea, eine Art von Murdochs Tochter heute. Sie bleiben zusammen, haben zwei Kinder. Weil Ionas später einmal weiterzieht und eine andere Frau hat, tötet Medea ihre Kinder. Nach der Intention des Komponisten sollte das Schreckliche die Musik überhaupt ausmachen, den „Konflikt von Natur und Begriff“ – und „ein Musiktheater, daß (sic) sich mit der Argonautika auseinandersetzt, immer eine Reflektion über Musik selbst sein“. Ich habe in diesem aufgebrühten Strauss nichts verspürt, nichts in der abwechslungsreichen, unterhaltsamen Musik, nichts in den erzählten Gehalten. Die ganze Zeit dachte ich an Henry Millers Air-Conditioned Nightmare, und dass dieses Werk entschieden mehr Inspirationskräfte freisetzte als die aalglatten Straussopern, die in den Aufmachungen von Nono und Lachenmann wieder um Applaus heischen.

Gérard Pesson

Dienstag, 7. Februar 2012

Gestern auf France Musique Concert enregistré le 8 décembre à Paris, à l’Auditorium Saint-Germain.

Gérard Pesson (né en 1958), Dispositions furtives, Wilhem Latchoumia, piano, Fuminori Tanada, piano.

Joseph Haydn (1732-1809), Concerto pour piano en ré majeur Hob. XVIII 11 (arrangement pour deux pianos), Wilhem Latchoumia, piano, Fuminori Tanada, piano.

Gérard Pesson (né en 1958), Butterfly’s Note-Book, Wilhem Latchoumia, piano.

Joseph Haydn (1732-1809), Quatuor à cordes op. 76 n° 6 en mi bémol majeur, II. Capriccio (arrangement pour deux pianos), Wilhem Latchoumia, piano,
Fuminori Tanada, piano.

Gérard Pesson (né en 1958), Vexierbilder II, Fuminori Tanada, piano.

Gérard Pesson (né en 1958), Ambre nous resterons, Wilhem Latchoumia, piano.

Ich hatte den Namen dieses Komponisten noch nie gehört und konnte mich wegen des allseits zu beklagenden Absturzes der Radiowebsites in die Miserabilität nicht vorbereiten: die Überrraschung im ersten Stück, einem Frühwerk Gérard Pessons aus den siebziger oder achtziger Jahren, war riesig. Man denkt an die Structures von Boulez und hat es doch mit einer ganz anderen Intention zu tun, die zu einr Leichtfüssigkeit führt, wie sie in der ernstzunehmenden Neuen Musik selten anzutreffen ist. Da das obere Klangregister vorherrscht, erscheint die Musik unschwer; da zugleich die Willkür der Subjektivität durch eine serielle Kompositionsweise zurückgebunden ist, kann sich eine Intensität freisetzen, die einem das Werk wie als in einer Wucht daherkommend erscheinen lässt. Ich war gebannt vom ersten bis zu den letzten Tönen – und würde das Stück gerne bald nochmals hören.

Programmzusammenstellungen neuer Musik durchsetzt mit alter gefallen mir nicht. Obwohl der Spannungspegel also tiefer nicht hätte sein können, hörte ich sofort den Haydn wie einen von heute. Und doch muss ich hier zum ersten Mal an diesem Abend eingeschlafen sein, denn erst wieder die Ansage der Vexierbilder II sind mir im Gedächtnis geblieben und in welcher Weise gebannt ich ihnen folgte, genauso fasziniert wie im ersten Stück des Konzerts, in dem doch einerseits die Entwicklung des Komponisten wie die Möglichkeit, ihn einem Alten gegenüberzustellen, dokumentiert werden soll. – Im Verlauf war der Schlaf trotz allem wieder übermächtig, und ich erwachte erst bei einem Folgestück des Konzerts, mit einem Orchester und ab CD. Schade, dass die erste Begegnung mit Pessons Musik mit einem ungewollten Abdriften in den Schlaf quittiert wurde, hoffentlich ergeben sich via Radio bald neue, die ich stehend geniessen werde.

Heiner Goebbels: Landschaft mit entfernten Verwandten

Sonntag, 5. Februar 2012

Soeben auf Espace 2 Heiner Goebbels: Paysage avec parents éloignés, Aufnahme 2005 mit Ensemble Moderne, wahrscheinlich CD, das wäre dann diese.

(Leider ohne nähere Angaben auf der Website von Espace 2 – die Websites der Radiostationen werden von Woche zu Woche miserabler, weil die kindischen Webmasters meinen, den Mist der Nachbarn kopieren zu müssen, um auf der Höhe der Zeit zu sein.)

Kein gutes Zeichen für die Welt, dass einer auch nach dreissig Jahren ihrer Erfindung Attaken immer noch so komponiert, dass sie mich erschrecken und ich auf das baldige Ende einer solchen musikalischen Passage hoffe. Aber Flötenstücke erscheinen in diesem ziemlich grossen Werk, wie ich sie vor über 35 Jahren nicht schöner hätte träumen können.