Die erste Begegnung mit Edgard Varèse passierte in einem Luzerner Plattenladen, als beim Durchstöbern der Regale auf einer Hülle plötzlich der Name desjenigen Autors vor mir stand, von dem der Spruch auf allen damaligen Zappaplatten stammte, „The present-day composer refuses to die“: der Komponist von heute muss notwendigerweise auf die Gesellschaft reflektieren und kann nicht bruchlos die künstlerische Arbeit da fortsetzen, von wo er sie als Schüler gelernt hat. Die Platte enthielt, von Marius Constant dirigiert, die zwei grossen Orchesterstücke Amériques und Arcana. Das früher entstandene Amériques existierte nur in der zweiten Fassung, die Varèse schnell nach der Uraufführung herstellte, weil er die Peinlichkeiten in ihr endlich erkannte. Ich eignete mir sämtliche Schriftstücke an, die irgendetwas mit Varèse zu tun hatten – eine Sehnsucht nach der ersten Fassung von Amériques hat sich darauf hin nie eingestellt. Als in den neunziger Jahren die Rekonstruktion und Publikation der Urfassung angekündigt wurde, wurde mir, in Kenntnis der Umstände, mulmig zumute, und die Doppel-CD von Chailly bestätigte dann die Befürchtungen, obwohl die CD als Ganzes natürlich ein grosser Wurf ist, nota bene inklusive der Realisation von Ur-Amériques.
2007 dirigierte Ingo Metzmacher im strategischen Couple von Richard Strauss Ein Heldenleben (eine Urfassung vor 1898) und von Varèse Ur-Amériques (1922), eine Studioeinspielung mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin, die ohne Angaben verzögert erst 2014 veröffentlicht worden ist. Ein Heldenleben ist im Doppelsinn eine Art Best-of von Strauss, weil der Komponist aus enorm vielen eigenen Werken zitiert und weil das Werk für mich auch als eines seiner besten dasteht. Ein nerviges Moment der Straussschen Ästhetik zeigt sich darin, dass er sich regelrecht vor dem Klang fürchtet und alle Konflikte, auf die er harmonisch wagemutig zusteuert, mit Melodien oder Signalen in Luft auflöst – mit musikalischen Phrasen, die wahrlich zwanghaft einem Konkretismus unterstehen. Im Heldenleben erscheinen sie wie vom Bann befreit, und selbst die Zitate aus dem Eulenspiegel, der in den holzschnittartigen Signalen übel erstarrt, goutiert man, mit einer gewissen Genugtuung darüber, dass Strauss das progressivere Komponieren sehr wohl beherrschte, wenn er nur wollte.
Als in den 1990er Jahren die Urfassung von Amériques durch Klaus Angermann zugänglich gemacht wurde, war es bereits damals Metzmacher, der sie zum ersten Mal nach 1927 wiederaufführte. 2007 musste ihm Varèse in allen seinen Facetten vertraut sein wie kaum einem anderen Dirigenten. Die Interpretation auf der CD darf dann wohl als Nonplusultra gelten, und nichts beim Hören könnte diese Qualifizierung in Frage stellen. Man muss sich der Herausforderung also stellen: was dachte sich der Straussianer Varèse, als er Amériques konzipierte, und was geschah im unmittelbaren Prozess nach der Uraufführung, der zur genialen und antistraussischen zweiten Fassung führte?
Da mir aus anatomischen Gründen Archivalien in den untersten und in den obersten Ablagen der Büchergestelle ab Kinnhöhe nur mit Mühe zugänglich sind, höre ich mir diese Interpretation ohne Partitur an (ich habe nur diejenige der zweiten Fassung), ab und zu den Zähler des CD-Players im Auge. Auffällig ist, wie die erste Fassung grösser ist bezüglich des instrumentalen Raumes, geringer aber in der Zeitdauer. Sie wirkt subjektivistischer und gar egomanischer, insbesondere ist ihr Schluss nur laut und nichts darüber hinaus. Entscheidend ist aber, dass in der zweiten Fassung die Straussschen Seitentriebe des Melodischen weggeschnitten sind und in einer Passage, die Strauss selbst fast hätte alleine schreiben können, das Ganze überhaupt: in den Minuten 14.5 bis 18.5 leistete sich Varèse eine veritable En-bloc-Resektion. Hätte man die Augen auf dem Text der zweiten Fassung, müsste es auch einem geübten Partiturenleser schwierig sein, den Anschluss zu packen. Es brauchte Courage, in einem 25minütigen Stück für Riesenorchester tel quel vier Minuten auf den Misthaufen zu werfen (nebst vielem Beigemüse). Ein guter Komponist hätte sich den signalhaften Aussenästen und melodiösen Zweiglein gewidmet, und er hätte mit ihnen schönere Übergänge gestaltet. Doch Varèse war und blieb ein schlechter Komponist. Das ist es, was wir in der Gegenüberstellung zu Strauss, dem Radikalbegabten, lernen müssen und was uns mit dieser CD, sofern wir nur die zweite Fassung von Amériques in allen ihren Winkeln gedächtnismässig in den Ohren haben, gelingt (für Anfänger ist sie ungeeignet). Erst wenn dem Gestrüpp schöngeistiger Melodien der Garaus gemacht wird, machen sich der Musiker und die Musikerin auf den Weg, neue Welten zu entdecken und werden sie dieselben dem Publikum auch zugänglich machen können. Diese Arbeit in der Kunst hat dann mit Richard Strauss, und sei er ein noch so guter Komponist gewesen mit noch so viel Ansehen bei den Jüngeren, nicht das geringste mehr zu tun.