Archiv für den Monat Dezember, 2014

Carte Blanche à Peter Eötvös

Montag, 29. Dezember 2014

Soeben live auf France Musique concert enregistré le 21 novembre 2014 au studio 104 de la Maison de la Radio (Paris): Rebecca Nelsen, soprano, Maria Riccarda Wesseling, mezzo-soprano, Ensemble Intercontemporain, Peter Eötvös, direction.

Peter Eötvös (né en 1944), Le Balcon, opéra en dix tableaux – Deux extraits : Début du septième tableau et quatrième tableau.

Peter Eötvös (né en 1944), Octet plus pour soprano et ensemble

Peter Eötvös (né en 1944), Sonata per sei pour deux pianos, trois percussions et synthétiseur – Mouvement I, Mouvement II, Mouvement III, « Bartok traversant l’océan », Mouvement V.

Eine hinreissende, kräftige Musik, von der ich seit Jahren den Eindruck habe, sie sei in einem schleierhaften Widerspruch sowohl komplex wie simpel: harmonisch äusserst avanciert und dennoch in den antreibenden Impulsen tonal gedacht. Manchmal erscheint sie als mehrheitsfähige Rockmusik, die einem ein schlechtes Gewissen macht, weil man sie ohne Anstrengung konsumiert.

Weihnachten

Samstag, 27. Dezember 2014

Vor drei Tagen abends direkt live: „Der Song mit den Rössli und den Glocken, wenn ich schon wünschen darf!“


Fladi wird von Vladi sicher durchs Gebimmel dirigiert, das er als erste Nummer wünschte. (c)Laura

Jimmy Carl Black

Samstag, 27. Dezember 2014

Gestern Abend auf DVD: Jimmy Carl Black, Where’s the Beer and when do we get paid, filmed by Böller & Brot, 2012.

Ich sah die Grandmothers 1993 in Bern und hatte damals schon Mühe, die früh gealterten Bandmitglieder zu mögen – ausser Jimmy Carl Black. Im Film tauchen alle dieselben, die einstens die ersten Mothers waren, wieder auf, und man denkt nur eines: wie blöd diese Leute geworden sind. Black ist sympathisch geblieben, aber auch von ihm lässt sich nur sagen, dass er ausser zu trommeln nur vermochte, fernseh zu gaffen. Leider durchbricht der Film diesen Bann keineswegs, sondern verstärkt ihn in alle Richtungen, in unnötig privatistischen Szenen um Black, in isolierten idiotischen Gesprächen mit den erwähnten Grandmothers und noch schlimmeren anderen Gefährten des Lebens auch ausserhalb der Musik – nicht zuletzt in der affirmativen Präsentation des musikalischen Umfelds des Rockmusikers im abgedrehten Bayrischen Osten. Auch wenn es ihm in der Wirklichkeit glücklicherweise missraten war, steht er vor dem Zuschauer am Schluss in kurzen Lederhosen da, und zwar gar nicht so lustig, wie er selbst es sich ausmalte. Trotz der engen musikalischen Grenzen hat er diese Sackgasse der Lächerlichkeit nicht verdient.

Hartmann, Maderna, Nono

Montag, 22. Dezember 2014

Soeben live auf France Musique concert enregistré le 18 novembre à la Cité de la Musique (Paris): Orchestre symphonique SWR Baden-Baden & Freiburg, Ingo Metzmacher, direction, Laura Aikin, soprano, Gunhild Ott, flûte, flûte en sol, flûte basse, Alexander Ott, musette, hautbois, hautbois d’amour, cor anglais, Jean-Frédéric Neuburger, piano, André Richard, projection du son.

Karl Amadeus Hartmann (1905-1963), Adagio (Symphonie n° 2) pour grand orchestre (1943-1949).

Bruno Maderna (1920-1973), Ausstrahlung pour voix de femme, flûte, hautbois, orchestre et bande magnétique.

Luigi Nono (1924-1990), Como una ola de fuerza y luz pour soprano, piano, orchestre et bande magnétique.

Was für ein grossartiges, umwerfendes Konzert! Neunzig Minuten lang der Kiefer auf den Knien… Das Stück von Nono, eben erst doch vor ein paar Monaten wieder gehört: vor 45 Jahren komponiert klingt es heute – mit dieser Sopranistin – wie aus einer 45 Jahre weit entfernten Zukunft.

Olga Neuwirth: American Lulu

Samstag, 13. Dezember 2014

Soeben live auf Ö1 Alban Berg/Olga Neuwirth (Bearbeitung): „American Lulu“, Orchester der Komischen Oper Berlin, Dirigent Johannes Kalitzke, aufgenommen bei der Premiere am 7. Dezember 2014 im Theater an der Wien.

Der Blues muss als Zeichen für eine Art existentielle Wahl der Freiheit herhalten, ist aber nicht anders fabriziert als einstens bei Gershwin und Bernstein, sterilisiert. Der Rest ist gute Neuwirthmusik, in der Berg lebendig aufgehoben ist.

Huelgas, Fribourg 2014

Dienstag, 9. Dezember 2014

Soeben live auf France Musique Concert U.E.R donné le 06 juillet 2014 à l’Eglise du Collège St-Michel à Fribourg, Chœur Ensemble Huelgas dirigé par Paul van Nevel.

John Sutton, Salve Regina

William Horwood, Magnificat amina mea

Edmundus Sturton, Gaude Virgo Mater Christi

John Browne, Stabat Mater dolorosa

Robert Wylkynson, Salve Regina

Umwerfend! Die Leute dieser Musik, Komponisten wie MusikerInnen, suchen genau das Gegenteil dessen, was ich suche. Sie sind nahe daran, das Ihre gefunden zu haben. Oh wenn es nur die nicht perfekte Zeit im Guten zu leben gebe!

Wintersonntagsmorgenstille

Sonntag, 7. Dezember 2014

Rohrfrei und: Feuer!

Vor einer Viertelstunde in der Lenk.

Philippe Schoeller, J’accuse (Abel Gance 1919)

Montag, 1. Dezember 2014

Soeben live auf France Musique Ciné-concert enregistré le samedi 8 novembre à la Salle Pleyel (Paris).

Philippe Schoeller (né en 1957), J’accuse (trois extraits) – création mondiale. Orchestre Philharmonique de Radio France, Gilbert Nouno, réalisation informatique musicale Ircam, Frank Strobel, direction, Composition sur le film d’Abel Gance (France, 1919).

Neuer Soundtrack zum Stummfilm J’accuse von Abel Gance aus dem Jahre 1919. Beeindruckende Opferarbeit, indes wirkungslos gegenüber der Waffenproduktion der US-Familienverbänden von Bush & Co.

Dialektik der Entdeckermusik

Montag, 1. Dezember 2014

Die erste Begegnung mit Edgard Varèse passierte in einem Luzerner Plattenladen, als beim Durchstöbern der Regale auf einer Hülle plötzlich der Name desjenigen Autors vor mir stand, von dem der Spruch auf allen damaligen Zappaplatten stammte, „The present-day composer refuses to die“: der Komponist von heute muss notwendigerweise auf die Gesellschaft reflektieren und kann nicht bruchlos die künstlerische Arbeit da fortsetzen, von wo er sie als Schüler gelernt hat. Die Platte enthielt, von Marius Constant dirigiert, die zwei grossen Orchesterstücke Amériques und Arcana. Das früher entstandene Amériques existierte nur in der zweiten Fassung, die Varèse schnell nach der Uraufführung herstellte, weil er die Peinlichkeiten in ihr endlich erkannte. Ich eignete mir sämtliche Schriftstücke an, die irgendetwas mit Varèse zu tun hatten – eine Sehnsucht nach der ersten Fassung von Amériques hat sich darauf hin nie eingestellt. Als in den neunziger Jahren die Rekonstruktion und Publikation der Urfassung angekündigt wurde, wurde mir, in Kenntnis der Umstände, mulmig zumute, und die Doppel-CD von Chailly bestätigte dann die Befürchtungen, obwohl die CD als Ganzes natürlich ein grosser Wurf ist, nota bene inklusive der Realisation von Ur-Amériques.

2007 dirigierte Ingo Metzmacher im strategischen Couple von Richard Strauss Ein Heldenleben (eine Urfassung vor 1898) und von Varèse Ur-Amériques (1922), eine Studioeinspielung mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin, die ohne Angaben verzögert erst 2014 veröffentlicht worden ist. Ein Heldenleben ist im Doppelsinn eine Art Best-of von Strauss, weil der Komponist aus enorm vielen eigenen Werken zitiert und weil das Werk für mich auch als eines seiner besten dasteht. Ein nerviges Moment der Straussschen Ästhetik zeigt sich darin, dass er sich regelrecht vor dem Klang fürchtet und alle Konflikte, auf die er harmonisch wagemutig zusteuert, mit Melodien oder Signalen in Luft auflöst – mit musikalischen Phrasen, die wahrlich zwanghaft einem Konkretismus unterstehen. Im Heldenleben erscheinen sie wie vom Bann befreit, und selbst die Zitate aus dem Eulenspiegel, der in den holzschnittartigen Signalen übel erstarrt, goutiert man, mit einer gewissen Genugtuung darüber, dass Strauss das progressivere Komponieren sehr wohl beherrschte, wenn er nur wollte.

Als in den 1990er Jahren die Urfassung von Amériques durch Klaus Angermann zugänglich gemacht wurde, war es bereits damals Metzmacher, der sie zum ersten Mal nach 1927 wiederaufführte. 2007 musste ihm Varèse in allen seinen Facetten vertraut sein wie kaum einem anderen Dirigenten. Die Interpretation auf der CD darf dann wohl als Nonplusultra gelten, und nichts beim Hören könnte diese Qualifizierung in Frage stellen. Man muss sich der Herausforderung also stellen: was dachte sich der Straussianer Varèse, als er Amériques konzipierte, und was geschah im unmittelbaren Prozess nach der Uraufführung, der zur genialen und antistraussischen zweiten Fassung führte?

Da mir aus anatomischen Gründen Archivalien in den untersten und in den obersten Ablagen der Büchergestelle ab Kinnhöhe nur mit Mühe zugänglich sind, höre ich mir diese Interpretation ohne Partitur an (ich habe nur diejenige der zweiten Fassung), ab und zu den Zähler des CD-Players im Auge. Auffällig ist, wie die erste Fassung grösser ist bezüglich des instrumentalen Raumes, geringer aber in der Zeitdauer. Sie wirkt subjektivistischer und gar egomanischer, insbesondere ist ihr Schluss nur laut und nichts darüber hinaus. Entscheidend ist aber, dass in der zweiten Fassung die Straussschen Seitentriebe des Melodischen weggeschnitten sind und in einer Passage, die Strauss selbst fast hätte alleine schreiben können, das Ganze überhaupt: in den Minuten 14.5 bis 18.5 leistete sich Varèse eine veritable En-bloc-Resektion. Hätte man die Augen auf dem Text der zweiten Fassung, müsste es auch einem geübten Partiturenleser schwierig sein, den Anschluss zu packen. Es brauchte Courage, in einem 25minütigen Stück für Riesenorchester tel quel vier Minuten auf den Misthaufen zu werfen (nebst vielem Beigemüse). Ein guter Komponist hätte sich den signalhaften Aussenästen und melodiösen Zweiglein gewidmet, und er hätte mit ihnen schönere Übergänge gestaltet. Doch Varèse war und blieb ein schlechter Komponist. Das ist es, was wir in der Gegenüberstellung zu Strauss, dem Radikalbegabten, lernen müssen und was uns mit dieser CD, sofern wir nur die zweite Fassung von Amériques in allen ihren Winkeln gedächtnismässig in den Ohren haben, gelingt (für Anfänger ist sie ungeeignet). Erst wenn dem Gestrüpp schöngeistiger Melodien der Garaus gemacht wird, machen sich der Musiker und die Musikerin auf den Weg, neue Welten zu entdecken und werden sie dieselben dem Publikum auch zugänglich machen können. Diese Arbeit in der Kunst hat dann mit Richard Strauss, und sei er ein noch so guter Komponist gewesen mit noch so viel Ansehen bei den Jüngeren, nicht das geringste mehr zu tun.