Archiv für den Monat April, 2017

Fallbeil seitlich, anno domini 2017

Freitag, 28. April 2017

Mich selbst hat es fünf böse Male erwischt, gesehen habe ich es unzählige Male, und gebrüllt dabei haben auch starke Jugendliche, also kräftige, um nicht zu sagen wehrhafte Opfer. Die Türen der Trams von Bernmobil schliessen zur rechten Zeit, nachdem niemand mehr das Trittbrett mit dem Drucksensor berührt hat. Da die Türschwellen der sogenannten Niederflurtrams sich nah am Bodenbereich aussen befinden, geschieht es oft, dass die Passagiere einen relativ weiten Schritt tätigen und also die kleine Zone im Tram gar nicht betreten, die dem Türsystem signalisiert, dass noch ein- und ausgestiegen wird. Dass die Türen einigermassen schnell zum Schliessen ansetzen, ist okay und wird von den Fahrgästen begrüsst. Nun geschieht aber bei den Trams der Berner Verkehrsbetriebe etwas Einzigartiges: die Tür schliesst mit einem brutalen, unverhofft grossen Ruck und gibt auch dann nicht nach, wenn eine Person, wahlweise superstark, behindert oder altersschwach, sich zwischen den Türflügeln befindet und trotz Schockstarre verzweifelt versucht, von beiden den Druck zu nehmen, wie man es sich in anderen Fahrzeugen des öffentlichen Verkehrs gewohnt ist. Nein, der scharfkantige Stoss zuckelt erbarmungslos weiter ins Innere, im Vorstellungsnebel des Opfers bis zur finalen Hälftung. Flehen, Schreien und Brüllen nützen nichts – die Fahrt geht weiter. Geschieht das Ereignis beim Einsteigen, spendieren die grossäugigen wissenden Blicke der anderen Fahrgäste den Trost der Solidarität.

Soll sich der Verantwortliche, und da ist immer ein Besserwisser in der Truppe der gewichtigen Ingenieure, der sich gegen die Verbesserungsvorschläge der Vernünftigen behauptet, Francis Poulencs Oper Gespräche der Karmelitinnen aussetzen, insbesondere dem Schluss, wo die tapferen Mädchen à la mode du Bernmobil der Reihe nach geköpft werden. Das billige, hier aber nützliche Stück Musik zeigt ihm, wie Berns Fahrgäste, die ihm tagtäglich ihr Vertrauen schenken, erhobenen Hauptes statt ins Innere oder Äussere eines Trams gefühlsmässig ins Jenseits aller Dinge befördert werden, in der milden Wirklichkeit früher oder später in die Chirurgie des Inselspitals.

Tschernobyl heute im Hörspiel

Montag, 24. April 2017

Soeben auf WDR 3 Baba Dunjas letzte Liebe von Alina Bronsky, Hörspiel.

Nicht verpassen, wenn irgendwo zu hören: fährt total ein.

Das Lied von der Erde

Sonntag, 23. April 2017

Gestern Abend live auf WDR 3 Konzert vom 8. Oktober 2016 aus der Berliner Philharmonie, Christian Elsner Tenor, Christian Gerhaher Bariton, Berliner Philharmoniker, Leitung Bernard Haitink.

Gustav Mahler, Das Lied von der Erde.

Mahlers Musik ist da am stärksten, wo man den Komponisten unvermittelt, ja aggressiv zur Rede stellen und immer wieder fragen möchte, ob ihm die verblüffenden Wendungen einfach so zugefallen sind oder ob er sie während des Komponierens in grosser, wohl verzweifelter Anstrengung in einem umfassenden harmonischen wie melodischen Kalkül sich hat erschaffen müssen. Kaum ein Werk wie das Lied von der Erde ist so reich befrachtet mit Formeln der Erkenntnis, die einen den Kiefer offenstehen lassen, und kaum jemals wie gestern war mir die Frage so dringlich erschienen. Die Musik sammelt alle Übel der Welt zusammen und sagt unaufhörlich dem Gott des Todes ins Gesicht: nicht heute!

Ursprung von GOT

Samstag, 22. April 2017

Der Autor von Game of Thrones hat möglicherweise Walliserblut in den Adern. Nicht nur platziert er die Herkunft des bewunderten Stahls mitten in der Walliser Hauptstadt, auf Valeria, sondern entleiht selbst den Thron, um den sich in der opulenten Oper alles dreht, dem Zentrum der Walliser Landschaft, dem radförmigen, gezackten Teil der Aiguilles Rouges d’Arolla.

Dent Blanche, Nordend, Matterhorn, Dent d’Hérens
Aiguilles Rouges d’Arolla
(Mont Fort, 7. Juli 2010)

Klaus Ospald, Entlegene Felder III

Freitag, 21. April 2017

Soeben live auf SWR 2 Schlusskonzert des Festival ECLAT 2017 vom 5. Februar 2017 in Stuttgart mit SWR Symphonieorchester, SWR Vokalensemble, Sarah Maria Sun (Sopran), Yukiko Sugawara (Klavier), Leitung Peter Rundel.

Klaus Ospald, Más raíz, menos criatura (Entlegene Felder III) für Orchester, Solo-Klavier und 8 Stimmen (UA). – Grosse Musik mit interessanten Verlaufsereignissen und einigen staunenswerten Klangpassagen.

Osterzappa Christian Lindberg

Montag, 17. April 2017

Gestern Abend live auf BBC 3 aus der Dvořákova síň in Prag vom 28. November 2016 das Prague Radio Symphony Orchestra mit Christian Lindberg (trombone & conductor).

Christian Lindberg, The Tale of Kundraan. Performer: Christian Lindberg. Orchestra: Symfonický orchestr Českého rozhlasu. Conductor: Christian Lindberg.

Lindberg hat nicht nur Strawinsky und Ramuz gut studiert, sondern auch Frank Zappa, insbesondere 200 Motels. Man beachte in der Filmaufnahme, wie eng die räumlichen Verhältnisse sind, in denen die riskante Show vonstatten geht. Ich hatte sie auch ohne Film unter den Kopfhörern genossen, war mir aber nicht sicher, ob die Teufelsstimmen auch von Linberg selbst, von zusätzlichen Schauspielern oder ab Band zugespielt gesprochen würden. – Jedenfalls schmeckt mir der Name Kundraan heute besser als Kundry im nervigen Parsifal.

https://www.youtube.com/watch?v=U0Q-d290t7g

Vladi Raz 95

Sonntag, 16. April 2017

Zeichnung Distelfink: März 2017 (Originalfoto Bern 2004)

Alpendohlen, Lichtblumen, Eidechse: Ausserberg 2017

Michaël Levinas, La Passion selon Marc

Mittwoch, 12. April 2017

Soeben direkt live auf France Musique de l’Église Saint-François à Lausanne Magali Léger, soprano, Marion Grange, soprano, Guilhem Terrail, contre-ténor, Mathieu Dubroca, baryton, Ensemble Vocal de Lausanne, Ensemble de Chambre de Lausanne, Nicolas Cheverau, maître de chant, Marc Kissoczy, direction.

Michaël Levinas, La Passion selon Marc. Une passion après Auschwitz (UA).

Die Frage nach der Möglichkeit von Gedichten nach Auschwitz transformiert sich hier in einen direkten, quasi unvermittelten Realismus: man ist mit einem ästhetischen Geschehen konfrontiert, dem man ergriffen standhält. Nach den dreissig Minuten des ersten Drittels erscheint die weibliche Klagestimme, gleichwie direkt und realistisch; zunehmend wird sie im Chor eingebettet und auf parallelen Spuren begleitet. Mit dem Einsatz der Instrumente, die vorher nur sporadisch isoliert wahrnehmbar waren, beginnt die Komposition, mit einer Generalpause in ihrer zeitlichen Mitte. Man verfolgt nun eine Auseinandersetzung, in der auch einzelne musikalische Zitate erscheinen. Im letzten Drittel stossen die Katastrophe gegen die Gemeinschaft mit derjenigen durch sie aufeinander, abgeschlossen mit der deutschen Sprache des rumänischen Juden Celan: Espenbaum, dein Laub blickt weiß ins Dunkel. Meiner Mutter Haar ward nimmer weiß. // Löwenzahn, so grün ist die Ukraine. Meine blonde Mutter kam nie heim. // Regenwolke, säumst du an den Brunnen? Meine leise Mutter weint‘ für alle. // Runder Stern, du schlingst die goldne Schleife. Meiner Mutter Herz ward wund von Blei. // Eichne Tür, wer hob dich aus den Angeln? Meine sanfte Mutter kann nicht kommen.

Das Werk wäre deswegen der Jugend vorzuführen, weil vielenorts in ihr Auschwitz zur beliebigen Prüfungsfrage zu verkümmern droht. Levinas macht den katastrophischen Gehalt eindringlich erfahrbar und aus ihm etwas lebendig Gedachtes.