Archiv für den Monat März, 2012

Combier, Jarell, Staud, Dutilleux

Montag, 26. März 2012

Soeben auf France Musique concert enregistré le 1er mars à l’Auditorium de Lyon, dans le cadre de la Biennale Musiques en scène, Orchestre National de Lyon, Pascal Rophé, direction.

Jérôme Combier (né en 1971), Ruins, pour orchestre (2011, commande de l’Orchestre National de Lyon, création mondiale). – Frisch polierte Legosteine als Ruinen eines Spielzeughauses, das vom jähzornigen Kind kurz vor dem Essen einen Tritt versetzt bekommen hat. Die Apokalypse gestern Abend scheint mir heute zeitgemässer.

Michael Jarrell (né en 1958), Emergences – Nachlese VI, pour violoncelle et orchestre (2012, création française, co-commande de Utah Symphony, l’Orchestre de la Suisse Romande, l’Orchestre Philharmonique du Luxembourg et l’Orchestre National de Lyon, avec le soutien du Swiss Arts Council Pro Helvetia), Jean-Guihen Queyras, violoncelle. – Ein grosser Wurf: endlich steht das Verhältnis Soloinstrument zum Orchester in neuem, noch ungewohntem Licht. In der grossen Form noch unvollendet, als ob noch weitere Geschwisterkonzerte mit anderen Soloinstrumenten folgen müssten. Ein Genuss (,) auch die Hoffnung!

Johannes Maria Staud (né en 1974), Über trügerische Stadtpläne und die Versuchungen der Winternächte (Dichotomie II) pour quatuor à cordes et orchestre (2008-2009, commande de l’orchestre de Cleveland), Quatuor Arditti. – Ich habe nicht begriffen, was das Stück zusammenhält, eine Abschnittskomposition, deren einzelne Teile zwar sehr schön sind, aber unmotiviert zusammengeklebt erscheinen. Die Unmotiviertheit gibt mit der Zeit der Langeweile freies Spiel.

Henri Dutilleux (né en 1916), Métaboles (1964), pour orchestre (commande de l’Orchestre de Cleveland). – Hübsche, nichtssagende Abendmusik, gemixt aus Stravinsky, Gershwin und Bernstein. Zum DRS 2 Hören.

Raphaël Cendo, Ténèbres

Montag, 26. März 2012

Gestern Abend live auf Espace 2 vom Festival Archipel 2011 in der Fabrikhalle Schaublin von Mallerey Bevillard „L’introduction aux ténèbres“ de Raphaël Cendo pour baryton, contrebasse, ensemble instrumental et électronique, d’après l’Apocalypse de Jean interprété par l’ensemble orchestral contemporain sous la direction de Daniel Kawka, avec le baryton Romain Bishoff et le contrebassiste Michael Chanu. Un concert enregistré le 27 mars 2011 à la maison communale de Plain-Palais.

45 Minuten lang ein Sound- und Klanggebilde, das einem das Gefühl verschaffte, einem Heavy Metal-Konzert beizuwohnen, in einer Qualität und Eindringlichkeit, von der die effektiven Metaller nur lernen könnten. Trotz der Härte scheint nicht nur sporadisch, sondern in jedem Moment eine ausserordentlich grosse Musikalität auf, die einen förmlich durch das ruppige Klanginferno hindurchzieht. Allerdings vermag die grossartige Ästhetik im musikalischen Kleinen die äusserste Problematik in der Ästhetik des musikalischen Ganzen nicht vom Tisch zu wischen. In einem kommentierenden Text zum Konzert versichert Cendo, von religiösen Attituden frei zu sein und die semantischen Gehalte aus dem ursprünglichen Kontext befreit zu haben, das Apokalyptische also nur für uns zu lesen. 45 Minuten sind indes lang, und ich hörte die ganze Zeit lang im Untergrund der Musik reine Bibelphrasen und nichts in den „Lyrics“, das sich auf unsere Zeit beziehen liesse. Die Haltung widerstrebt mir und stösst mir auf, von unserer Zeit in einer Art zu sprechen, die das Zentrum ihrer Probleme ummäntelt. Wenn man schon ein so schwergewichtiges Wort wie die Apokalypse ins Spiel bringen will, müsste man künstlerisch auf die strukturell wesentlichen Probleme anzuspielen vermögen, ein System der Ökonomie, das sich radikal auf die militärische Antiproduktion abstützt und eine Politik in allen Gesellschaften, die dem radikal Bösen und diskursenthobenen Ideologiefreien der politischen Rechten Raum gibt, die Gesellschaft als Meute jeden Tag neu aufzuhetzen. Das Vokabular des Johannes vor zweitausend Jahren scheint mir im ästhetischen Erlebnis das Werk von Boeing, Blocher und Murdoch eindeutig mehr zu verklären denn als das wahrzunehmen, was es ist und uns zu bedrohen weiss.

Computerwechsel von XP zu Win7

Mittwoch, 21. März 2012

Vorgeschichte: Der siebenjährige XP-Computer war innerhalb einer Woche mausetot. Bei den ersten Abstürzen waren Maus und Tastatur ohne Funktion, am Schluss erfolgte nicht einmal mehr ein Zugriff aufs BIOS, geschweige auf die Harddisk. Da das Auswechseln des Stromgeräts äusserst kompliziert erscheint und es auch nicht eindeutig ist, ob nicht auch die CPU oder das Motherboard als Fehlerquelle in Frage kommen, wird ein neuer Computer bestellt, mit 999 Franken inklusive Bildschirm und Win7 Pro halb so teuer wie der alte. Wegen des Vorauszahlens am Postschalter dauert die Lieferfrist nicht nur einen Tag, wie von Steg angekündigt, sondern sieben Tage. Das Paket wird eingeschrieben geliefert und ist riesig – der Pöstler trägt es für 10 Franken bis zum Wohnungseingang (er selbst hat ruhmenswürdig abgewehrt und nichts verlangt). Der Bildschirm ist leichter als der alte und schnell aufgestellt, der Computer bekommt ein paar Beinhiebe und lässt sich mit Tricks und Finten ebenso brav plazieren.

1. Da der alte Computer sich zu schnell verabschiedete, konnte keine Datensicherung vorgenommen werden. Mit Icy Box für 50 Franken hat man ein Gehäuse, in das sich die ehemals interne Harddisk einfügen und als externe bedienen lässt. Der physische Platz ist extrem eng berechnet, und man muss sich überwinden, das Buskabel so heftig zu kneten, bis alles zusammenpasst. Ich benötigte mehrere Stunden, bis die Festplatte am neuen Computer ihren Dienst korrekt ausführte. Die alte Jumpereinstellung wäre die richtige gewesen, da ich aber mangels Kraft das breite Buskabel am Anfang an einem Ende zuwenig fest angeschlossen hatte, musste ich viele Male pröbeln, bis ich wieder die Anfangseinstellung ausprobierte, dieses Mal dann die Kabelenden genügend fest zusammengesteckt.

2. Steg findet es schick, die zahlende Kundschaft mit Werbung zu beglücken. Sowohl der Anmeldebildschirm wie der Hintergrund beim Herunterfahren des Computers zeigen eine Grafik mit exquisitem Brechreiz, das gleissende Gelb des Zivilschutzes über dem stumpfen Blau der Uniform desselben Vereins. Bei beiden Vorgängen gedachte ich ständig still des ehemaligen Vorsitzenden Rinderknecht. Will man bei einem neuen Computer gleich als erstes in die Registry eingreifen? Nein. Die Lösung besteht in demselben Programm, das der Hersteller zur Verunzierung des Computers benutzte, ohne es dem Kunden seinerseits zur Verfügung zu stellen. Es heisst Win7LogonBackgroundChanger, und man löst das Problem schnell, indem man einen der mitinstallierten Hintergrunde wählt oder selbst einen anfertigt, in derselben Grösse und kleiner als 250KB abgespeichert wie die Datei Windows/System32/oobe/info/backgrounds/backgroundDefault.jpg. Man speichert dieses Bild in einen neuerstellten Ordner und wählt dasselbe mit dem Changer aus.

3. Zur Einrichtung des e-Mail-Programms ging ich aufs Bluewin- bzw. Swisscomkonto, fand dort allerdings keine Angaben, wie das früher der Fall gewesen war. Also suchte ich nach Outlook Express. Nach einem Klick auf irgendetwas, das einen ins Unbestimmte weiterführen soll, wird der Computer nach einem Mailprogramm abgesucht; gefunden wird Live Mail. Man wird zum Warten aufgefordert, und siehe da, die zwei Mailadressen, die ich bei Bluewin betreibe, werden ohne weitere zusätzliche Angaben eingerichtet. Also Live Mail starten und erst einmal den Kopf zerbrechen, denn das Layout sieht ziemlich beängstigend aus, genau so, dass man nichts von dem im Kopf behält, was man in den eingehenden Mails liest. Jetzt verstehe ich, wieso einige Leute seltsam nichtssagende, kommunikationsabwürgende Mails schreiben. Man muss ein bisschen in den Einstellungen herumturnen – lässt man nicht zu früh locker, kann man dieses Programm haargenau gleich einstellen wie Outlook Express, also sehr lesefreundlich, ohne Spamordner, ohne zu viele Infos in störenden Bildschirmbereichen. – Die alten Mails kopiert man als ganzen Ordner irgendwohin und importierte sie ins Live Mail, wo sie als Zusätze plaziert werden, die je nach Wunsch in die neuen Kontos verschoben werden können, es aber nicht müssen.

4. Der Bildschirm Asus vh238t ist gleich hoch wie der alte, aber doppelt so breit. Die Bilder sind scharf, die Helligkeit nicht hundertprozentig gleich verteilt, am oberen Rand ist die Darstellung eine Spur dunkler als unten. Es gibt verschiedene Darstellungsmodi, von denen sRGB perfekt sein müsste – er ist gut und brauchbar, wenigstens bis dann, wenn ausgedruckte Bilder Abweichungen zeigen würden. Die Verlässlichkeit des alten von Samsung war 100%. – Die neue Breite zeigt die eigene Website ungewohnt, allerdings nur die Homepage als erste Seite und einige wenige andere Sonderseiten. Die Lösung war schnell gefunden, und wie sie genau ausschaut, sieht man im Code der Homepage. Zum Style-Abschnitt im head gehören unbedingt die zwei ersten Zeilen als Voraussetzung fürs Funktionieren. Gleich nach dem body-Tag schreibt man vor dem alten Text

<div id="inhalt">

und schliesst diesen mit einem End-

</div>

. Hilfe findet man hier http://www.stichpunkt.de/css/bereiche.html und da http://www.css4you.de/posproperty.html, das mit den zwei ersten Zeilen im Header stammt von anderswo.

5. Das Programm Hugin zur Panoramaherstellung kam schon schnell in Einsatz, bockte allerdings wie ein junges Pferdchen. Die Panoramen auf dem Säntis sahen in der ersten Fassung übel aus, wo ich noch wie vorher nach dem Ausrichten benutzerdefiniert optimierte (mit den Feldern rechts unten zur Vermeidung des Versatzes, also der Durchbrechung und Verschiebung von Linien), dann im Reiter Zusammenfügen Bildwinkel berechnen, Optimale Grösse berechnen, Beschnitt den Bildern anpassen durchführte, bevor das Panorama im Vorschaufenster geprüfte wurde, worauf endlich die zuletzt genannten Werte neu bestimmt wurden. Dann fand ich die Lösung: siehe da, das OpenGL-Vorschaufenster lässt Hugin nicht mehr wie auf dem XP-Computer abstürzen, sondern funktioniert optimal (eventuell ist diese Funktion nicht vom Betriebssystem, sondern von der Grafikkarte und dem Speicher abghängig). Hier müssen keine Werte gesetzt werden; man sieht das unförmige Panorama und zieht an den nötigen Punkten, bis es korrekt ausgerichtet ist. Auch den Beschnitt macht man hier durch Verschieben der Grenzen, nicht durchs Setzen von Zahlwerten.

6. Kaputt am neuen Computer ist nach einer Woche erst der Kartenleser. Ich denke an Bud Spencer und eine seiner Lebensweisheiten.

Matalon, Smolka, Adamek

Montag, 5. März 2012

Soeben auf France Musique, Concert enregistré le 12 janvier, à l’Auditorium Marcel-Landowski à Paris, Ensemble 2e2m, Pierre Roullier, direction.

Martin Matalon (né en 1958), Trame X, pour accordéon, flûte, clarinette, basson, cor, trompette, harpe, 2 percussions, violon et violoncelle (création mondiale, commande de l’Etat), Max Bonnay, accordéon. – Abwechslungsreich, farbig und witzig.

Martin Smolka (né en 1959), Die Seele auf dem Esel, septuor en six parties pour piccolo, clarinette en mi bémol, piano, percussion, violon, alto et violoncelle (création française, extraits), IV., II., I. Rubato. – Aus dem Kinderzimmer heraus und wieder ins Kinderzimmer hinein. Aus dem Hühnerhaus heraus und wieder ins Hühnerhaus hinein. Aus dem Schweinestall heraus und wieder ins Kinderzimmer hinein.

Ondrej Adamek (né en 1979), Rapid Eye Movements, pour 2 violons, alto, violoncelle et dispositif électronique. – Ziemlich hübsch, mit Rafinesse.

Ondrej Adamek (né en 1979), B-low Up, pour 17 instruments (flûte, hautbois, 2 clarinettes, cor, trompette, trombone, piano, harpe, accordéon, 2 percussions, 2 violons, alto, violoncelle et contrebasse). – Magere Luft von hinter dem Mond. Bin leider eingeschlafen.

Franziska Baumann, Fictions

Sonntag, 4. März 2012

Soeben auf Espace 2 Konzert vom 1. 2. 2012 im Centre Dürrenmatt Neuchâtel: Fiction, Audiovisuelle Konzertinszenierung, CRÉATION frei nach Jorge Luis Borges, Franziska Baumann, Konzept, Komposition und Stimme, Claudia Brieske, Konzept, Videoschnitt und Live-Projektion, Angela Bürger, dramaturgische und szenische Begleitung, Solisten des Nouvelle Ensemble Contemporain NEC: Marie Schwab, Viola, Jean-François Lehmann, Bassklarinette, Lucas Gonseth, Perkussion.

Löst das Schöne der Natur im demonstrativen Widerstand gegen allen Metabolismus ein Staunen aus, das über den Tod hinauszuschauen vermeint und in der begriffslosen Bewunderung endet, von der es keinen Weg zurück zum Verstehen geben kann, ruft das Schöne in den Künsten eine begriffliche Auseinandersetzung hervor, die es selbst oder das Werk, in dem es erscheint, mit der Geschichte oder der Gesellschaft in Beziehung bringt, zu der es gehört, und zu allen anderen, von denen es sich als besonderes Schönes absetzen will.

Fictions gehört mit Video, drei Soloinstrumenten und der Solostimme der Komponistin, die das Stück mal in Einzahl, mal im Plural ankündigt, zu den Installationskünsten und enthält trotz eines präzisen Zeitflusses einen grossen Anteil an improvisierten Partien. In der Fülle der Ereignisse ist der Genuss des Stückes gross, das Aufstöbern von Momenten, die sich auf solche ausserhalb des Stückes, seien es die der Musikgeschichte oder der Gesellschaft heute, beziehen liessen, unbegreiflich schwer. Man ist auf den reinen Genuss zurückgeworfen. Er bezieht sich auf ein Schönes, das im Verlauf der Vocal Perfomance zerfällt, als ob er es selbst aufgegessen hätte. Wie das Schöne sich weigert, Zeichen dafür abzugeben, dass es zur Geschichte gehört, weigert sich die Natur, es als zu ihr gehörig anzuerkennen, damit es so bewundert werden könnte.

Fictions, dessen Titel sich auf Borges bezieht und das belletristische Experiment, in einer Sprache ohne Dingwörter zu schreiben, die den Fluss der Zeit irritieren, erscheint mehr als Veranstaltung für ein grosses unterhaltungsgewohntes Publikum denn als eine Herausforderung zum Nachdenken über die Künste und das Schöne. Es gibt keinen Grund, für einen solchen Anlass nicht Leute einzuladen, die gewöhnlicherweise zu DJ Bobo aufschauen, meinetwegen auch zu Blausack Huber, Hofer, Oberhofer, Flückiger, Schmidhauser, Kraut & Raeber, Pfeutzi & Launer und die mit dem See (nur Wittlin hatte ein erlesenes Publikum, mich) – ein schnell getätigter Adressatenwechsel, das Wankdorfstadion angemietet mit einer Berner Tanzband im Vorprogramm, Lischka schreibt im Bärner Bär den informierenden Werbetext und sowohl würden die Kassen endlich klingeln wie auch die Anerkennungswünsche endlich befriedigt werden. Ist das Phantasieren über die musikalischen Desiderate erst einmal in Schwung gesetzt, wird es ebenso leicht denkbar, dass aus der Verschmelzung des Wissens über die Publikumsverführung der Vorgruppe und der Erfahrung über die Manipulation technischer Effektgeräte des Hauptgigs die Popmusik eine Renaissance erführe. Die Installationsrockerinnen und Popinstallateure wären zu einer Musik befähigt, die einen wieder ohne Abwehr in Neugierde versetzen könnte. Nächste Aufführung im alten Stil 13.04.2012, 21h Dampfzentrale, Bern.

http://www.franziskabaumann.ch/de/vocal_performance/fictions.php

Zemlinsky, Puccini: 2 Opern

Samstag, 3. März 2012

Soeben auf France Musique Concert donné le 29 janvier 2012, Opéra de Lyon : Festival Puccini plus.

Alexander von Zemlinsky, Une tragédie florentine (Eine florentinische Tragödie), Opéra en un acte, 1917. Livret du compositeur d’après la pièce d’Oscar Wilde, A Florentine Tragedy. En allemand. Orchestre de l’Opéra de Lyon, direction musicale : Bernhard Kontarsky.

Giacomo Puccini, Gianni Schicchi, Opéra en un acte, 1918. Livret de Giovacchino Forzano. En italien. Nouvelle Production, Orchestre et Maîtrise de l’Opéra de Lyon, Direction : Gaetano d’Espinosa.

Das Festival Puccini plus gab dem Publikum die luxuriöse Möglichkeit, Il trittico an einem einzigen Abend als dreiaktiges heterogenes Opernwerk oder auf drei Abende aufgeteilt mit je einer Kurzoper Schönbergs, Hindemiths oder Zemlinskys ergänzt zu Gemüte zu führen. Am heutigen letzten Abend wurde neben Gianni Schicchi Zemlinskys Eine florentinische Tragödie gespielt, eine Komödie Oscar Wildes, in der ein Alter seinen jungen Nebenbuhler killt, worauf er, unverhofft, von seiner sehr jungen Frau wieder geliebt wird. Die Musik ist deswegen von Interesse, weil seit einiger Zeit eine Art Revival Zemlinskys in der Reproduktion seiner Werke angekündigt wird und man also gut beraten ist, die Gelegenheit zum Hören schwierig aufzuführender Werke nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Am letzten der drei Pucciniabende widersprechen sich die zwei gegenübergestellten Werke am wenigsten. Beide Stoffe sind unterbelichtet – gleichwie beide Musiken mehr oder weniger leicht verstaubt. Zur Zeit der Uraufführung war Eine florentinische Tragödie indes ein grosser Erfolg – ich höre zuviel Strauss, immerhin neben einem Walzer auch Straussens gute dramatische Seiten.

Gianni Schicchi ist der Abschluss von Puccinis Il trittico, der Inhalt eine Episode aus Dantes Divina Commedia, eine nur wenig berührende Erbschleichergeschichte, in der sich die Nebenfigur einer Erbengemeinschaft ins Totenbett legt und dem Notar ein neues Testament diktiert, in dem aber, entgegen den Abmachungen, fast alle Erbstücke diesem Akteur zugesprochen werden durch ihn selbst, geschützt durch die angedrohten Gesetze, die geständigen Erbschleichern schwereren Schaden zukommen liessen als einen leeren Beutesack. Die lustige Musik Puccinis erscheint mir wie ein entgangenes Erbe, als erwarteter Leerlauf aller herkömmlichen Oper.

Hindemith, Puccini: 2 Opern

Samstag, 3. März 2012

Gestern Abend auf France Musique Concert donné le 28 janvier 2012, Opéra de Lyon : Festival Puccini plus.

Paul Hindemith & August Albert Bernhard Stramm, Auteur, Sancta Susanna (1922), Opéra en un acte. Orchestre de l’Opéra de Lyon, Chœurs de l’Opéra de Lyon, Maîtrise de l’Opéra de Lyon, Bernhard Kontarsky, Direction musicale.

Giacomo Puccini & Giovacchino Forzano, Librettiste, Suor Angelica (1918), Opéra en un acte. Orchestre de l’Opéra de Lyon, Chœurs de l’Opéra de Lyon, Maîtrise de l’Opéra de Lyon, Gaetano d’Espinosa, Direction musicale.

Erst jetzt durchschaue ich die Vorgänge der drei aufeinanderfolgenden Opernabende. Puccini komponierte während des ersten Weltkrieges drei stark kontrastierende Kurzopern mit Stoffen aus weit entlegenen Zeitaltern, die schon in der Uraufführung zu einem Tryptichon zusammengefasst präsentiert wurden, als drei Akte einer Einheit, auch vom Komponisten genannt Il trittico. Was in Lyon 2012 geschieht, ist aber nicht unüblich, die Präsentierung der einzelnen Teile je an einem Abend zusammen mit einer Kurzoper des zwanzigsten Jahrhunderts eines anderen Komponisten.

Sancta Susanna ist eines von Hindemiths besten Stücken, selbst in der Trilogie, zu der es mit Mörder-Hoffnung der Frauen und Das Nusch-Nuschi gehört. Die expressionistische Explosion ist ungeglättet, die Form ebenso offen und im Kleinen vorwärtstreibend wie das Dargestellte fast hundert Jahre später gewissermassen zeitgemäss: eine junge Nonne wird wegen ihrer weltabgewandten Glaubenszeremonien von den Mitschwestern bewundert, nach zwanzig Minuten zum Teufel gejagt, als ihr Anbetungsdelirium in einem Orgasmus mit dem Kruzifix kulminiert. (Die Handlung ist in Wahrheit brüchiger und gleichzeitig dynamischer, indem eine Nonne der Sancta Susanna erzählt, wie sie solches eben Erwähnte einmal gesehen hätte, worauf die geistige Anbetung bei Susanne erst sich in eine in der Weise bezeichnete satanische verwandelt; durch die Erzählung im Geschehen wird die ganze Mädchengruppe im Kloster sexuell aufgeladen.)

Das Puccinistück Suor Angelica fällt weit ab und wirkt wie aus dem Zentrum dessen, was das Opernleben so überflüssig und hassenswert macht. Eine junge unverheiratete Frau wird in ein Kloster weggesperrt, da sie ein Kind geboren hat. Nach sieben Jahren erhält sie Besuch, der ihr mitteilt, ihr Sohn sei soeben gestorben, worauf sie sich umbringt. So wenig einen der Stoff in seiner historischen Abstraktheit zu berühren vermag, so wenig hatte schon der Komponist einen musikalischen Weg zu ihm gefunden – die Musik hängt mit nichts verbunden wie als Vorwegnahme von Unterhaltungsmusik aus dem Radio in der Luft.

Schönberg, Puccini: 2 Opern

Donnerstag, 1. März 2012

Soeben auf France Musique Concert donné le 27 janvier 2012, Opéra de Lyon : Festival Puccini plus.

Arnold Schoenberg & Max Blonda, pseudonyme de Gertrud Schoenberg, Librettiste, Von heute auf morgen (1930), Opéra en un acte, Maîtrise de Radio France, Orchestre et Maîtrise de l’Opéra de Lyon, Bernhard Kontarsky, Direction.

Giacomo Puccini & Giuseppe Adami, Librettiste, Il Tabarro (1918), Opéra en un acte d’après une pièce de Didier Gold, Orchestre et Chœurs de l’Opéra de Lyon Gaetano d’Espinosa, Direction.

Die zwölftönige Fünfzigminutenoper Von heute auf morgen, die so gerne operettenhaft leicht und modern wäre, ist eine bittere Pille, auf die Il Tabarro von Puccini wie neubelebender Balsam wirkte: jede Sekunde ist musikalisch aufgeladen und vorwärtstreibend. Das arme zahlende Opernpublikum in situ bekam die zwei Stücke in umgekehrter Reihenfolge serviert. Buona notte – oder ich verstehe die, die Reissaus genommen hätten.

Zusatz: Adorno verfasste 1930 zur Uraufführung der Schönbergoper in Frankfurt einen Aufsatz in zwei Varianten, die nicht in der Tagespresse, sondern in den Zeitschriften Anbruch und Die Musik erschienen, einmal die Progressivität des Publikums hervorhebend, das der avancierten Musik durchaus zu folgen vermochte und mit Applaus nicht zauderte, dann mehr das Vermögen des Komponisten akzentuierend, in einem einheitlichen Werk den historischen Stand der Musik vorangetrieben zu haben und in ihm in einzigartiger Souveränität mit einer Vielfalt von Ausdrucksnuancen spielen zu können. Heute erscheint es schwierig, diese gleichmässige Nuancierung ernst zu nehmen, weil sie keine Konturen, Blöcke und Abschnitte zu gestalten ermöglicht und sich, an keiner Stelle vorwärtstreibend, in ein Grau in Grau verflüchtigt wie das Libretto, das Frau Schönberg geschrieben hatte mit einer Gattin, die ihren Mann erfolgreich verführt, als er von einer anderen träumend fantasiert, die selbst in dem Moment über die zwei sich selbst Verführenden sich verwundert, da sie bei ihnen zu Besuch erscheint. Das Kind der beiden, das fragt, was Mode sei, die wechsle von heute auf morgen und modern, erhält als Antwort die moderne Musik.

Sibelius, Violinkonzert

Donnerstag, 1. März 2012

Soeben auf Bayern 4 Jean Sibelius: Violinkonzert d-Moll, op. 47 (Yuval Yaron, Violine; Klaus Tennstedt – Aufnahme 1974).

Kaum ein Komponist könnte von Schönberg weiter entfernt sein, nicht nur wegen der anderen Richtung, der seine ästhetische Spur gefolgt ist, sondern auch wegen offensichtlicher kompositorischer Defizite in den meisten Werken. Trotzdem dachte ich während des ganzen Stückes mit Genuss an Schönbergs Geigenkonzert und dass auch dasjenige von Sibelius viel zu bieten hat – und jedenfalls zu den grossen und gelungenen Werken des Finnen zu zählen ist.