Archiv für den Monat Februar, 2014

Moser, Ravel, Kurtag

Donnerstag, 27. Februar 2014

Soeben live auf SRF2 Konzert vom 7. Dezember 2013 im Stadtcasino Basel, basel sinfonietta mit Mario Venzago, Leitung.

Roland Moser: Wal für schweres Orchester mit fünf Saxophonen. – Erstaunlich, wie diese Musik einen in die Tiefsee hinabzuziehen vermag und wie man in diesen für Binnenländer unzugänglichen Gefilden zum teilnehmenden Beobachter kleinerer und grösserer Geschehnisse wird. Eine blau eingefärbte Märchenlandschaft, die wegen ihrer plastischen Räumlichkeit Kindern möglicherweise das Fürchten lehren könnte. Ich aber bin erwachsen und habe alles Wundersame genossen.

Roland Moser: Première étude pour les disparitions für Orchester (Uraufführung, Auftragswerk der basel sinfonietta). – Wenn das Stück die erste Etude für eine neue kompositorische Herangehensweise an Musik ist, hoffe ich gerne auf ein paar weitere. Das ist zwar keine Tanzmusik, nichtsdestotrotz eine packende Striptease im Tanzschuppen.

Maurice Ravel: La valse. – Ziemlich brut & träf und eher nicht modern & elegant interpretiert, als ob Wale diesen letzten Walzer tanzen wollten.

György Kurtag: Stele op. 33. – Ein Stück, das einen die Musik mit grossen gebannten Augen verfolgen lässt und das von aussen nach innen komponiert erscheint, von der vielfältigen, wenn auch nahezu unbunten Instrumentierung her. Denn in der Struktur ist es verblüffend simpel, von Anfang bis Schluss in Gruppen aufgeteilt, die aus klaren, quasi einfältigen Sequenzen gebaut sind. Wie unterschiedlich diese Klötzchen oder Decken mit den Mitteln des grossen Orchesters feinfühlig instrumentiert auftreten, macht die Wirkung aus, die füglich glauben macht, in ein unbekanntes Inneres sehen zu können.

Stahnke, Bianchi, André, Matalon, Barden, Cendo, Combier

Mittwoch, 26. Februar 2014

Soeben live auf France Musique deux mauvais concerts donnés à la Maison de la Radio dans le cadre de la 24e édition du festival de création musicale de Radio France, les 16 et 23 février 2014.

Ensemble Modern, Franck Ollu, Direction:

Manfred Stahnke, Such(t) Maschine, Création française. – Eine Musik, aus der eine Unmenge an Musikalischem ausgelöscht erscheint. Ziemlich ungemütlich, diese Resten.

Oscar Bianchi, Permeability, Music for 19 instruments and electronics, Création Française. – Staccatostunde im Hühnerhof. Die Band veranschaulicht eine Therapie via Youtube.

Mark André, Üg, Création française. – Der Titel meint Übergang, die Musik ein abstraktes Hörbild von Istanbul, dazu werden religiöse Textpassagen aufdringlich ins Ohr geflüstert. Die Musik alleine wäre ziemlich faszinierend, das Geflüster aber eben nervtötend.

Martin Matalon, De polvo y piedra, Création française. – Elektrodixiländler.

Ensemble Cairn und Kammerensemble Neue Musik Berlin, Guillaume Bourgogne, Direction:

Mark Barden, five monoliths für Ensemble und Elektronik, Uraufführung. – Stromstossballet.

Raphaël Cendo, Charge (2009). – Einer macht immer Grrrrrrrrrrrr, Grrrrrrrrr, einer trommelt. Der Gruselästhetik geht schnell der Schnauf aus. Merde ist das lahm!

Jérôme Combier, Stèles d’air, Création Mondiale. – Das Gegenteil von phantasievoll und phantastisch. Die mikrotonalen Sololinien wirken aufgesetzt, aufgeklebt. Ganz anders als bei Nicolas Mondons Ce que l’arbre tait de lui-même.

Widmann, Borowski, Boulez

Dienstag, 25. Februar 2014

Soeben direkt live auf France Musique Festival Présences 2014 Paris-Berlin de la Cité de la musique, l’harmoniciste Christa Schönfeldinger, la soprano Laura Aikin, la contralto Hilary Summers, le Choeur de Femmes de Radio France et l’Orchestre Philharmonique de Radio France placés sous la direction de Pascal Rophé.

Jörg Widmann, Armonica, Création française. – Eine feine, feingliedrige und feinfühlige Musik. Nichtsdestotrotz keine, die Sehnsucht erweckt, denn eine Art Ästhetizismus hält sie kühl, steif und starr. Zuweilen gibt es Löcher, die in sie hineinblicken lassen. Dann ist sie schön. Der Schluss ist zum Glück auch so ein Loch.

Johannes Boris Borowski, Change, Création française. – So erklingt mir die Welt in den Ohren, wenn ich im Wallis über 2500 m bin und wieder hinabspringe. So viel guter Varèse! Das ist ein braver Komponist von Change, wenigstens in der ersten Hälfte.

Pierre Boulez, Le visage nuptial (version définitive, 1985-89). – Jetzt hat mir das Stück zum ersten Mal ernsthaft gefallen (ich habe es allerdings schon als CD in der aktuellsten Version, unter Boulez selbst, von 1990, und da hat es beim Hören nie richtig gezündet). Vielleicht ist es keine schlechte Idee, wenn man einem Komponisten auch ein missratenes, unrettbares Stück gönnt. Es tönt heute noch so verschimmelt wie aus einem Übungsschuppen der 1950er Jahre (1975 waren solche auch noch nicht besser).

Mondon, Pesson, Combier, Haas

Montag, 24. Februar 2014

Soeben direkt live auf France Musique Rencontre entre l’ensemble Cairn et le KNM (Kammerensemble Neue Musik Berlin) au Goethe Institut, Paris.

Première partie par l’ensemble Cairn (in der Schweiz wären das Steinmannli als Weg- und Gipfelzeichen): Christelle Séry, guitare, Sylvain Lemêtre, zarb, Caroline Cren, piano préparé, Frédéric Baldassare, violoncelle:

Nicolas Mondon, Ce que l’arbre tait de lui-même – création, commande d’Etat. – Eine stille Postgamelanmusik mit einer Vielfalt von spannenden Einwürfen. Passagenweise in einer Stimmung fast wie bei Harry Parch. Es gibt heute einige KomponistInnen, die es verstehen, mit den nicht temperierten Welten kompositorisch stimmig und innovativ umzugehen; Mondon ist einer von ihnen.

Gérard Pesson, Neige bagatelle. – In gemildeter Form fast dasselbe.

Jérôme Combier, Dog eat dog. – Viele Glissandi, leicht simpel. Pfadfindermusik? (Im Titel fehlt ein S.)

Gérard Pesson, Ne pas oublier coq rouge dans jour craquelé. – Lagerfeuertänzeleien, in den meisten Teilen ohne Kunstanspruch.

Deuxième partie par le KNM Berlin: Theodor Flindel, Emily Yabe, violons, Kirstin Maria Pientka, alto, Ringela Riemke, violoncelle:

Georg Friedrich Haas, In iij noct. – Lange Liegetöne, zuweilen kratzend, oft im Glissando. Verschiedene Typen von Glissandi, phasenverschoben sirenenhafte. Ein langes Stück Musik meistens ohne rhythmische und harmonische Strukturmomente. Es gibt, wenn nicht erwartet, spannende Teile, der Schluss und noch mehr die Passage davor sind schön. Bei der Aufführung muss das Raumlicht gelöscht werden: das Lagerfeuer ist jetzt ausgegangen.

Balys Sruoga, Der Wald der Götter

Samstag, 22. Februar 2014

In einer Zeit, da die Stimmvölker allenthalben faschistoiden Spiessgesellen applaudieren und es so den Machtinstanzen der Ökonomie, des Militärs, der sozialen Reproduktion und der Kulturindustrie leicht machen, Direktiven gegen das Lebendige als langfristige Gesetze auszugeben, rücken einem die Dokumente der Nazizeit im 20. Jahrhundert immer näher, und es erscheint einem jene Zeit als immer weniger lange her. Deshalb ist die Notwendigkeit des Buches von

Balys Sruoga, Der Wald der Götter, dt. aus dem Litauischen von Markus Roduner, BaltArt Verlag Langenthal 2007

nach wie vor eine doppelte: einerseits für den litauischen Autor, der autobiographisch seine Zeit als KZ-Häftling im Lager Stutthof (48 km östlich von Danzig) von 1943 bis 1945 beschreibt, andererseits für uns, weil die Einsicht in die gefährliche Gewöhnlichkeit der gesellschaftlichen Gewalt wieder ins Recht gesetzt werden muss.

Da einem vielleicht die Gegend der polnischen Danziger Bucht und des Baltikums sowie deren Geschichte wenig geläufig sind, kommt es heute gelegen, dass ein Buch nicht allein aus sich selbst verstanden werden muss, sondern von diversen Medien Begleitschutz erhält, seien es textliche oder fotographische Erläuterungen nach Suchwörtern im Internet oder gar durch einen Spielfilm, wie er in diesem Fall 2005 zuende gedreht worden ist und hier auf Youtube einzusehen wäre. Der Film von Algimantas Puipa trägt den Originaltitel des Buches Dievu miškas und lässt sich mit englischen Untertiteln als Forest of the Gods anschauen. Er illustriert nicht alle, aber viele Episoden des Buches, und er zieht eine Rahmenhandlung in den Film hinein, schon bald nach der Mitte, indem er sich auf das Publikationsdesaster bezieht. Denn Sruoga, der 1943 durch die Anklage ins KZ kam, er würde zusammen mit anderen Intellektuellen Litauens die Jugend vom Eintritt in die SS abhalten, schrieb das Buch zwar innerhalb kurzer Zeit nach der allgemeinen Befreiung durch die Sowjets, die seinerseits ihn aber offenbar nicht unähnlich den Nazis dann zu einer konspirativen Mitarbeit zwingen wollten. Da er sich weigerte, konnte das Buch unter dem Vorwand nicht erscheinen, es zeige zu wenig eindeutig das Negative der Nazis und gleichzeitig zu wenig positiv die Grösse der Befreiungstat der Roten Armee. Das Schwierige für uns ist, dass die Kritik der Sowjets nicht an den Haaren herbeigezogen ist und man deswegen einerseits zwar froh ist, durch den Film und durch die weiteren Kanäle im Internet über das Grauen an den Plätzen tel quel ins Bild gesetzt zu werden, andererseits aber auf Anhieb nicht schlau wird, wie der Film selbst zu deuten wäre, da durch den Miteinbezug des historisch Supplementären zum Buch ein Ressentiment zur Darstellung gelangt, das wohl zum Selbstbild der baltischen Gesellschaften gehört, für uns Aussenstehende aber den Blick auf den Gehalt des Buches möglicherweise verstellt. (Youtube-Filme können bekanntlich auf der Zeitschiene in kleinen Stills abgesucht werden, so dass man frei ist, sie in selbst gewählten Ausschnitten zu betrachten. Bei diesem zweistündigen Film kommt einem das gut zupass.)

Die Landschaft um Stutthof hatte den Namen „Wald der Götter“ und enthält mehrere Flurnamen baltischer, also nichtgermanischer Gottheiten, die auf Landkarten noch heute zu finden sein müssten: Perkunas, Juratè, Laumè, Patrimpas. Nach einer Beschreibung von Stutthof zu Zeiten vor der Errichtung des Konzentrationslagers, dessen quasi ursprünglicher Zweck wie der aller dazugehörigen sogenannten Aussenlager es war, die widerspenstigen Polen gefangen zu halten (die berühmteren KZs der Judenvernichtung befanden sich ausserhalb des Grossraumes der Danziger Bucht), schreibt Sruoga die erste leicht irritierende Stelle auf Seite 11, seine Begegnung mit dem Platz 1943: „Kaum betrat man den Wald der Götter, beschlich einem das Gefühl, als seien die alten Götter spurlos von hier verschwunden, als habe sich hier die Hölle selbst breit gemacht, besetzt von SS-Schergen – die alten Teufel haben sie in den Kerker geworfen und selbst deren Platz eingenommen. Echte Teufelskerle!“

Echte Teufelskerle – das ist ein Gemisch von Ironie und Sarkasmus, und erscheinen diese Mittel der Rhetorik gehäuft und womöglich angereichert mit Zynismus und mehrdeutigem Humor, geht man auf Distanz, weil der Verdacht besteht, einer ist gar nicht mehr imstande, in intellektueller Wahrhaftigkeit eine Situation korrekt einzuschätzen, richtig darzustellen und über sie ein gültiges Urteil abzugeben. In weiten Passagen beherrschen die genannten Mittel den Text auf eine Weise, dass man ihn als der Sache unangemessene Groteske wegschieben möchte. Das Groteske war immer schon Bestandteil der Künste und der Literatur. Aber die Groteske als Gattung hat nie in den Ästhetiken ernsthafte Anerkennung erreichen können, weil sie immer schon nur an den billigen Schwank gekettet zu erscheinen vermag, der gar nicht vorgibt, etwas Wahres und gesellschaftlich Relevantes treffen zu wollen. (Es gibt auf Youtube Theaterstücke von Sruoga, die gefährlich wie Schwänke dastehen…) Man muss sich also zwingen, in der Lektüre zwar die Schilderungen von Groteskem aufzusaugen, ihre Anhäufungen indes nicht als verfehlte Gattung misszuverstehen. Und in der Tat passt man sich nach einer gewissen Zeit ohne Schwierigkeiten dem Ton an, der offenbar dem Autor als Schutzschild diente, und man liest peu à peu das Buch wie in einer „neutralen“ Schilderung ohne falsche Witzigkeit. Und man merkt, dass man sich mit einer Sache auseinandersetzt, von der man zu früh dachte, sie sei endlich Vergangenheit, und von der man jetzt spürt, dass man ihr aufmerksam gegenüberstehen muss. Nicht nur, weil jede Zensur falsch ist, hatten die Sowjets auf dem Gebiet Litauens 1945 gegenüber Sruoga unrecht, sondern auch, weil die Pseudogroteske auf einem doppelten Boden steht, deren zweiter die ernsthaften Gehalte vertrauenswürdig trägt und die Motive der neuen, für lange Zeit Platz nehmenden Befehlsträger fadenscheinig erscheinen lässt.

Zusatz 31. August 2014: Friedrich Dürrenmatts Der Verdacht (1951-52) las ich erstmals 1976, in der Luzerner Klinik St. Anna während dem Nachmittag und der Nacht vor einer Operation. Nun wurde das Werk während mehreren Wochen auf Radio SRF 2 in kleinen Häppchen als Hörspiel gesendet, worauf ich es heute in Passagen wiederlas. Unter Verdacht gerät ein Schweizer Arzt, der als Student im Kiental, wohl im Gamchi, eine Notoperation an der Kehle eines Mitstudenten ohne Narkose durchführte, mit falschem Namen in Stutthof unzählige experimentelle Operationen ohne Narkose praktiziert zu haben. Dürrenmatt kennzeichnet Stutthof nicht als sogenanntes Aussenlager, sondern als zentrales Vernichtungslager, in dem die Patienten sich freiwillig zur Verfügung stellten, da bei einem Überleben das Versprechen galt, in ein anderes Lager versetzt zu werden, in dem die Vernichtung nicht schon im Vorhinein feststünde – genannt wird Buchenwald.

Rihm, Eötvös, Lachenmann

Dienstag, 18. Februar 2014

Soeben live auf Bayern 4 Konzert der musica viva vom 8. Februar 2014 im Herkulessaal der Münchner Residenz, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Leitung Peter Eötvös mit Patricia Kopatchinskaja, Violine und Helmut Lachenmann, Sprecher.

Wolfgang Rihm: „In-Schrift 2“ (2013). – Man starrt mit den Ohren, gepackt. Ein spätes Werk, das wie kein frühes viel Varèse enthält, möglicherweise noch mehr Ruggles.

Peter Eötvös: Violionkonzert Nr. 2 – „DoReMi“ (2011-2013). – Ein richtiges Konzertstück mit drei widerstreitenden Teilen. Neben den verschiedenen Gehalten der Teile beeindrucken die Virtuosität und die dezent, souverän eingesetzte Mikrotonalität.

Helmut Lachenmann: „…Zwei Gefühle…“, Musik mit Leonardo (1992). – Da Vinci steht vor einer Höhle, zum ersten Mal, und bemerkt sowohl ein Verlangen, sie zu entdecken und zu erforschen als auch eine tiefe Furcht vor ihr. Die komponierte Musik ist zwar interessant, steht aber in keinem spontan nachvollziehbaren Bezug zum Gehalt des Textes. Entgegen der Intention stellt sich ein irritierendes Pathos ein.

Peter Eötvös: „Seven“ – Memorial for the Columbia Astronauts (1. Violinkonzert, 2003). – Eine sehr starke und faszinierende Musik, in der das persönliche Pathos des Komponisten leicht befremdet. Es gibt keine allgemeine Trauer über technische Missgeschicke. Hört man das Konzert nicht als Trauermusik, ist es ein packendes Stück, über dessen Fülle an Impulsen man sich freut. Machmal müssen vom Publikum die Werke den Künstlern enteignet werden.

Zusatz: Am 20. 3. 2014 noch einmal auf Saarland 2 gehört – das Verhältnis der Musik zum Text dünkt mich in Lachenmanns Zwei Gefühle jetzt kein Problem mehr.

Mundry, Thomalla, Platz, Maintz, Lachenmann

Montag, 17. Februar 2014

Soeben direkt live auf France Musique vom Festival Présences 2014 in Paris:

1) L’Ensemble Alternance: Jean-Luc Menet, flûte, Etienne Lamaison, clarinette, Jeanne-Marie Conquer, violon, Jacques Ghestem, violon, Claire Merlet, alto, Frédéric Baldassare, violoncelle, Dimitri Vassilakis, piano.

Isabel Mundry, Liaison, création française. – Hans Thomalla, Bebungen, création française. – Robert HP Platz, Wunderblock, création française. – Philipp Maintz, Trawl.

2) L’Alternance Académie Ensemble: Alice Fagard, voix, Shao-Wei Chou, flûte, Aya Kono, Malika Yessetova, violons, Jérémie Billet, Michelle Pierre, violoncelles.

Helmut Lachenmann, Toccatina, pour violon. – Philipp Maintz, Nacht, pour violon et violoncelle. – Helmut Lachenmann, temA (Ausschnitt), pour flûte, voix et violoncelle.

Mit Ausnahme der Stücke von Lachenmann ziemlich langweilige Musik, ohne grossen Kunstanspruch.

Strauss, Frau ohne Schatten

Samstag, 15. Februar 2014

Soeben live auf France Musique Richard Strauss, Frau ohne Schatten, Opéra enregistré au Metropolitan Opera de New York le 7 novembre 2013. Anne Schwanewilms, L’Impératrice, Torsten Kerl, L’Empereur, Ildikó Komlósi, la nourrice, Johan Reuter, Barak, le teinturier, Christine Goerke, l’épouse du teinturier, Choeur et Orchestre du Metropolitan Opera, Vladimir Jurowski, direction.

Auch für Antistraussians eine umwerfende Aufnahme – man bekommt Verständnis für seine Fans, lebendig Begrabene im eigenen Leib. Allerdings: Varèse war bei der Uraufführung déjà en Amérique, fante also für Schwächeres…

Varèse, Amériques

Samstag, 15. Februar 2014

Wer das Hohelied des Bauchdenkens trällert, nötigt seine Gäste wie sein Publikum, jede intellektuelle Anstrengung, Reflexion und geziemende Vorbereitung auf einen Anlass hin aufzugeben. Um dieser Falle zu entgehen, habe ich meine Notizen zur Diskothek im Zwei auf SRF 2 über Amériques von Edgard Varèse nicht sofort nach der Erstausstrahlung am 10. Februar 2014 festgehalten, sondern die Wiederholung der Radiosendung eben erst abgewartet. Varèse, geboren 1883, war schon 38 Jahre alt, als er die Urfassung von Amériques, sozusagen sein op. 1, endlich fertiggestellt hatte. Es dauerte nicht weniger als fünf Jahre bis zur Uraufführung, ein Zeitraum, in dem er das parallele Werk oder Zusatzstück zu Amériques, Arcana, konzipierte und in einer vorläufigen Fassung durchkomponierte. Die Uraufführung von Amériques 1927 hatte ihn derart massiv umgehauen, dass er sich endlich zusammennahm und in einem nach wie vor imponierenden Prozess der Umgestaltung im selben Jahr das Werk in seine endgültige Form brachte. Wen die Kunst von Edgard Varèse gepackt hat, ist davon fasziniert, was sich 1927 in Varèse selbst bei der Umarbeitung von Amériques realisierte, und in diesem Fall darf man statt von einer Umarbeitung ruhig von einer Dekonstruktion sprechen. Es muss eine ungeheure Auseinandersetzung gewesen sein, in der er mit den Gespenstern der Vergangenheit gestanden und denen er so lange aufgesessen und auf den Leim gegangen war. Normalerweise wittert man da, wo eine Urfassung und eine spätere Neufassung vorliegen, Zensur, Abschwächung und Trivialisierung. Im Werk Amériques liegen die Verhältnisse gänzlich anders, denn die Urfassung zeigt sich als Fälschung und als böse Tat gegen die zweite Fassung von 1927. Mit der angetönten Ausnahme von Arcana und den Skizzenstücken Offrandes, Hyperprisme, Octandre und Intégrales ist alles, was zuvor geschrieben wurde, Machwerk eines Gescheiterten, der nur dumpf ahnte, was für eine Musik in seinen tiefen Schichten brodelte. Schon früh wollte er neue Kunst schaffen, mitnichten Kunsthandwerkeleien zur Verfügung stellen. Aber er war scheinbar hoffnungslos, jedenfalls ohne jedes Mass an Selbstkritik, der musikalischen Sprache der Zeit ausgeliefert, insbesondere derjenigen von Richard Strauss. Erst beim Anhören des eigenen Werks wurde er gewahr, wie die Effekte dieses Vokabulars doch nicht mehr auszuhalten wären. Er musste in alle verborgenen Winkel der Riesenpartitur hineinleuchten, um die süsslich-schmierigen Straussismen und sonstigen Spuren der Tonalität aus der musikalischen Konstruktion herauszukratzen. Obwohl einen seine Verehrung gegenüber Strauss nervt, sollte man nicht der Falschmeldung aufsitzen, wonach er auch sein Schüler gewesen wäre. Die Beziehungsverhältnisse sind glücklicherweise interessanter. Varèse war in Berlin Schüler von Busoni, dem er nichts zu schulden hatte ausser der Übernahme eines Kompositionsschülers, der dem Meister zu wenig fortgeschritten schien. Das war Ernst Schoen, aus dem kein Komponist geworden war, der aber als alter Schulfreund von Walter Benjamin dem viel jüngeren Wiesengrund-Adorno vorgestellt wurde. Nicht mehr in Berlin, sondern in Frankfurt verschaffte der umtriebige Adorno dem Schüler von Varèse einen Posten beim Frankfurter Radio (gemäss diesem Dokument von Peter Reuter könnte es auch mehr oder weniger umgekehrt gewesen sein). Man dürfte also statt der positiven Betonung von Strauss eher von einer engen Linie von Varèse zu Adorno sprechen, wenn auch in dessen Bemerkungen zu Varèse davon prima vista und also ohne Kenntnisse des Hintergrundes nichts zu spüren ist.

In der Sendung wurden unter den fünf Aufnahmen zwei mit der Urfassung zum Diskutieren ins Spiel gebracht, aber man wusste mit den Fundstücken nichts anzufangen. Hätte man sich nicht etwas ernsthafter über die grotesken Clownerien in Aufnahme Zwei wundern sollen, derjenigen von Christopher Lyndon-Gee mit dem Polnischen Radio-Sinfonieorchester (erschienen 2008)? Eine übel erscheinende Musik, nichtsdestotrotz sehr korrekt in der Wiedergabe des unfähigen, bloss futuristisch-dadaistischen Varèse, gänzlich entgegengesetzt dem erst spät erwachsen gewordenen 1927. (Die andere Aufnahme mit der Urfassung als rekonstruierter Spielpartitur war die fünfte von Riccardo Chailly mit dem Royal Concertgebouw Orchestra; sie machte 1998 das Problem Varèse erst verständlich, mit einer Interpretation, die wie die zweite nur an ausgewiesene Varèsespezialisten zu Forschungszwecken ausgehändigt werden dürfte.)

Man muss beim Bauchdenken unter einer Magenverstimmung leiden, wenn man Zappas Vater als Schallplattenverkäufer vorführt, der den Sohn während der Jugendzeit mit den neuesten Hits versorgte, unter denen dann der Fünfzehnjährige den von Varèse erhalten hätte.Wie alle Musikneugierigen der Zeit hatte Zappa eine Varèse-Platte per Zufall entdeckt und sich wegen ihrer Wundersamkeit in diese Musik verknallt, alles hier in Zappas Worten nachzulesen, auch der Vorlauf der Plattenentdeckung (Amériques war noch nicht auf jenem Sampler und wurde erst zehn Jahre später aufgenommen). Ebenso wenig stimmt, dass der Rocker den alten Varèse noch leibhaftig hat besuchen können: nach den zwei Telefongesprächen zuerst mit Louise und dann mit Edgar selbst, die der Fünfzehnjährige 1957 aus dem Geld des Geburtstagsgeschenks finanzierte, starb Varèse am anderen Ende des amerikanischen Kontinents, nach Phasen eigener Abwesenheit und solchen von Undisponiertheiten Zappas, ohne Besuch des aufrichtigsten Fans. (Das Bild im Internet mit Zappa und Varèse ist eine Montage, nicht so das unten stehende mit Louise Varèse.)

Man diskutiert eines der zündendsten Stücke der Musikgeschichte und experimentiert mit Spontandeutungen? Also wirklich: wäre ich ein fünfzehnjähriger Zuhörer, ich hielte nach dieser Sendung Amériques für ein ergotherapeutisches Übungsstück in einem Seniorenheim, nicht im geringsten für den welthistorischen Ausbruch des einzigen musikalischen Vulkans, für den Amériques in Wirklichkeit steht.

Fundstück in der Partitur: Amériques für Rockband 1975 (Fragment ur), unten der lustige Rocker mit der Witwe des Discostars.

Zusatz: Es ist der Diskussionsrunde hoch anzurechnen, dass sie keine der beiden Aufnahmen mit der Urfassung favorisierte und ebenso wenig die beste, Michael Tilson Thomas mit dem San Francisco Symphony von 2013 den restlichen von Boulez mit dem Chicago Symphony Orchestra von 2001 und der ersten überhaupt von Maurice Abravanel mit dem Utah Symphony Orchestra 1968 als unvergleichlich beste charakterisierte. Die beste Aufnahme dünkt mich nach wie vor diejenige von Marius Constant mit dem Orchestre Philharmonique de l’ORTF von 1973, die es leider immer noch nicht als CD gibt. Boulez hatte aus demselben Grund wie Adorno ein schwieriges Verhältnis zu Varèse, weil er Gebilden ohne prägnante Vermittlungsmomente misstraute: denn was in sich selbst nicht vermittelt ist, ist es auch gegen aussen nicht und steht letztlich ausserhalb jeder Bestimmung des Geschichtsprozesses – es lässt sich nicht recht dingfest machen. Man kennt von Schubert weite Passagen, die auch von Beethoven hätten geschrieben sein können, doch ansonsten dünkt es uns heutzutage eher so, dass die Komponistinnen und Komponisten singulär in der Geschichte stehen müssen, wenn sie denn überhaupt Werke der Kunst zustande bringen sollen. In den 1950er Jahren gehörten die fortschrittlichsten Werke zur seriellen Musik. Heute hören wir dieselben Stücke nur noch als Werke von Boulez, Stockhausen, Nono etc. – und eben auf gleiche Weise aufmerksam auch diejenigen von Varèse, Schule geschwänzt hin oder her.

Pesson, Manoury

Dienstag, 4. Februar 2014

Soeben live auf Bayern 4 vom 8. November 2013 in München Konzert der musica viva mit dem Quatuor Diotima.

Gérard Pesson, „Bitume“ (2008). – Leicht und behäbig zugleich, etwas simplizistisch.

Gérard Pesson, „Farrago“ (2013, UA). – Etwas Simples wird ausgehölt und aufgesplittert, bleibt aber im Oberflächenzusammenhang simpel. Sehr weit über die Beatles ist diese Musik nicht hinausgekommen.

Philippe Manoury, „Tensio“ (2010) für Streichquartett und Elektronik. – Ein gutes und spannendes Stück Musik im dreissigjährigen luxuriösen alten Stil von Répons. Ein Genuss!

Turm Frankfurt

Sonntag, 2. Februar 2014

Soeben direkt live auf Hessen TV Sprengung des Turmes für Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften in Frankfurt am Main: