Archive für 15. Februar 2014

Strauss, Frau ohne Schatten

Samstag, 15. Februar 2014

Soeben live auf France Musique Richard Strauss, Frau ohne Schatten, Opéra enregistré au Metropolitan Opera de New York le 7 novembre 2013. Anne Schwanewilms, L’Impératrice, Torsten Kerl, L’Empereur, Ildikó Komlósi, la nourrice, Johan Reuter, Barak, le teinturier, Christine Goerke, l’épouse du teinturier, Choeur et Orchestre du Metropolitan Opera, Vladimir Jurowski, direction.

Auch für Antistraussians eine umwerfende Aufnahme – man bekommt Verständnis für seine Fans, lebendig Begrabene im eigenen Leib. Allerdings: Varèse war bei der Uraufführung déjà en Amérique, fante also für Schwächeres…

Varèse, Amériques

Samstag, 15. Februar 2014

Wer das Hohelied des Bauchdenkens trällert, nötigt seine Gäste wie sein Publikum, jede intellektuelle Anstrengung, Reflexion und geziemende Vorbereitung auf einen Anlass hin aufzugeben. Um dieser Falle zu entgehen, habe ich meine Notizen zur Diskothek im Zwei auf SRF 2 über Amériques von Edgard Varèse nicht sofort nach der Erstausstrahlung am 10. Februar 2014 festgehalten, sondern die Wiederholung der Radiosendung eben erst abgewartet. Varèse, geboren 1883, war schon 38 Jahre alt, als er die Urfassung von Amériques, sozusagen sein op. 1, endlich fertiggestellt hatte. Es dauerte nicht weniger als fünf Jahre bis zur Uraufführung, ein Zeitraum, in dem er das parallele Werk oder Zusatzstück zu Amériques, Arcana, konzipierte und in einer vorläufigen Fassung durchkomponierte. Die Uraufführung von Amériques 1927 hatte ihn derart massiv umgehauen, dass er sich endlich zusammennahm und in einem nach wie vor imponierenden Prozess der Umgestaltung im selben Jahr das Werk in seine endgültige Form brachte. Wen die Kunst von Edgard Varèse gepackt hat, ist davon fasziniert, was sich 1927 in Varèse selbst bei der Umarbeitung von Amériques realisierte, und in diesem Fall darf man statt von einer Umarbeitung ruhig von einer Dekonstruktion sprechen. Es muss eine ungeheure Auseinandersetzung gewesen sein, in der er mit den Gespenstern der Vergangenheit gestanden und denen er so lange aufgesessen und auf den Leim gegangen war. Normalerweise wittert man da, wo eine Urfassung und eine spätere Neufassung vorliegen, Zensur, Abschwächung und Trivialisierung. Im Werk Amériques liegen die Verhältnisse gänzlich anders, denn die Urfassung zeigt sich als Fälschung und als böse Tat gegen die zweite Fassung von 1927. Mit der angetönten Ausnahme von Arcana und den Skizzenstücken Offrandes, Hyperprisme, Octandre und Intégrales ist alles, was zuvor geschrieben wurde, Machwerk eines Gescheiterten, der nur dumpf ahnte, was für eine Musik in seinen tiefen Schichten brodelte. Schon früh wollte er neue Kunst schaffen, mitnichten Kunsthandwerkeleien zur Verfügung stellen. Aber er war scheinbar hoffnungslos, jedenfalls ohne jedes Mass an Selbstkritik, der musikalischen Sprache der Zeit ausgeliefert, insbesondere derjenigen von Richard Strauss. Erst beim Anhören des eigenen Werks wurde er gewahr, wie die Effekte dieses Vokabulars doch nicht mehr auszuhalten wären. Er musste in alle verborgenen Winkel der Riesenpartitur hineinleuchten, um die süsslich-schmierigen Straussismen und sonstigen Spuren der Tonalität aus der musikalischen Konstruktion herauszukratzen. Obwohl einen seine Verehrung gegenüber Strauss nervt, sollte man nicht der Falschmeldung aufsitzen, wonach er auch sein Schüler gewesen wäre. Die Beziehungsverhältnisse sind glücklicherweise interessanter. Varèse war in Berlin Schüler von Busoni, dem er nichts zu schulden hatte ausser der Übernahme eines Kompositionsschülers, der dem Meister zu wenig fortgeschritten schien. Das war Ernst Schoen, aus dem kein Komponist geworden war, der aber als alter Schulfreund von Walter Benjamin dem viel jüngeren Wiesengrund-Adorno vorgestellt wurde. Nicht mehr in Berlin, sondern in Frankfurt verschaffte der umtriebige Adorno dem Schüler von Varèse einen Posten beim Frankfurter Radio (gemäss diesem Dokument von Peter Reuter könnte es auch mehr oder weniger umgekehrt gewesen sein). Man dürfte also statt der positiven Betonung von Strauss eher von einer engen Linie von Varèse zu Adorno sprechen, wenn auch in dessen Bemerkungen zu Varèse davon prima vista und also ohne Kenntnisse des Hintergrundes nichts zu spüren ist.

In der Sendung wurden unter den fünf Aufnahmen zwei mit der Urfassung zum Diskutieren ins Spiel gebracht, aber man wusste mit den Fundstücken nichts anzufangen. Hätte man sich nicht etwas ernsthafter über die grotesken Clownerien in Aufnahme Zwei wundern sollen, derjenigen von Christopher Lyndon-Gee mit dem Polnischen Radio-Sinfonieorchester (erschienen 2008)? Eine übel erscheinende Musik, nichtsdestotrotz sehr korrekt in der Wiedergabe des unfähigen, bloss futuristisch-dadaistischen Varèse, gänzlich entgegengesetzt dem erst spät erwachsen gewordenen 1927. (Die andere Aufnahme mit der Urfassung als rekonstruierter Spielpartitur war die fünfte von Riccardo Chailly mit dem Royal Concertgebouw Orchestra; sie machte 1998 das Problem Varèse erst verständlich, mit einer Interpretation, die wie die zweite nur an ausgewiesene Varèsespezialisten zu Forschungszwecken ausgehändigt werden dürfte.)

Man muss beim Bauchdenken unter einer Magenverstimmung leiden, wenn man Zappas Vater als Schallplattenverkäufer vorführt, der den Sohn während der Jugendzeit mit den neuesten Hits versorgte, unter denen dann der Fünfzehnjährige den von Varèse erhalten hätte.Wie alle Musikneugierigen der Zeit hatte Zappa eine Varèse-Platte per Zufall entdeckt und sich wegen ihrer Wundersamkeit in diese Musik verknallt, alles hier in Zappas Worten nachzulesen, auch der Vorlauf der Plattenentdeckung (Amériques war noch nicht auf jenem Sampler und wurde erst zehn Jahre später aufgenommen). Ebenso wenig stimmt, dass der Rocker den alten Varèse noch leibhaftig hat besuchen können: nach den zwei Telefongesprächen zuerst mit Louise und dann mit Edgar selbst, die der Fünfzehnjährige 1957 aus dem Geld des Geburtstagsgeschenks finanzierte, starb Varèse am anderen Ende des amerikanischen Kontinents, nach Phasen eigener Abwesenheit und solchen von Undisponiertheiten Zappas, ohne Besuch des aufrichtigsten Fans. (Das Bild im Internet mit Zappa und Varèse ist eine Montage, nicht so das unten stehende mit Louise Varèse.)

Man diskutiert eines der zündendsten Stücke der Musikgeschichte und experimentiert mit Spontandeutungen? Also wirklich: wäre ich ein fünfzehnjähriger Zuhörer, ich hielte nach dieser Sendung Amériques für ein ergotherapeutisches Übungsstück in einem Seniorenheim, nicht im geringsten für den welthistorischen Ausbruch des einzigen musikalischen Vulkans, für den Amériques in Wirklichkeit steht.

Fundstück in der Partitur: Amériques für Rockband 1975 (Fragment ur), unten der lustige Rocker mit der Witwe des Discostars.

Zusatz: Es ist der Diskussionsrunde hoch anzurechnen, dass sie keine der beiden Aufnahmen mit der Urfassung favorisierte und ebenso wenig die beste, Michael Tilson Thomas mit dem San Francisco Symphony von 2013 den restlichen von Boulez mit dem Chicago Symphony Orchestra von 2001 und der ersten überhaupt von Maurice Abravanel mit dem Utah Symphony Orchestra 1968 als unvergleichlich beste charakterisierte. Die beste Aufnahme dünkt mich nach wie vor diejenige von Marius Constant mit dem Orchestre Philharmonique de l’ORTF von 1973, die es leider immer noch nicht als CD gibt. Boulez hatte aus demselben Grund wie Adorno ein schwieriges Verhältnis zu Varèse, weil er Gebilden ohne prägnante Vermittlungsmomente misstraute: denn was in sich selbst nicht vermittelt ist, ist es auch gegen aussen nicht und steht letztlich ausserhalb jeder Bestimmung des Geschichtsprozesses – es lässt sich nicht recht dingfest machen. Man kennt von Schubert weite Passagen, die auch von Beethoven hätten geschrieben sein können, doch ansonsten dünkt es uns heutzutage eher so, dass die Komponistinnen und Komponisten singulär in der Geschichte stehen müssen, wenn sie denn überhaupt Werke der Kunst zustande bringen sollen. In den 1950er Jahren gehörten die fortschrittlichsten Werke zur seriellen Musik. Heute hören wir dieselben Stücke nur noch als Werke von Boulez, Stockhausen, Nono etc. – und eben auf gleiche Weise aufmerksam auch diejenigen von Varèse, Schule geschwänzt hin oder her.