Archive für 10. März 2008

Photorevisionen

Montag, 10. März 2008

Nachdem von Ende Oktober 2007 bis Anfang März 2008 jeden Tag mindestens zehn Stunden lang, nie ohne Tagwacht vor fünf Uhr morgens, fast 100% der Bilder von 2003 bis 2006 neu bearbeitet, in besserer Komprimierungsqualität als bisher abgespeichert und korrigiert oder ergänzt neu beschriftet worden waren (Picasso lehrte, die Arbeit nicht vollständig zu machen oder dann auch mal einen Fehler hinzuzufügen), ist gestern eine Anfrage eingetroffen, die unter anderem zum Ausdruck bringt, die Berge seien – leider – nicht immer auf Anhieb eindeutig zu identifizieren, insbesondere auf den Panoramen. Mich dünkt, eine solche Aussage sei Folge davon, dass man sich dem allgemeinen Zeitdruck nicht entziehen will und die Dinge beurteilt, bevor man sich im Klaren ist, ob sie denn nicht eine gewisse Zeit benötigen, um auch dann, wenn sie auf den ersten Blick schon alles von sich preiszugeben scheinen, vernünftig beurteilt zu werden. Die Wahrnehmungsbereitschaft scheint im Internet nicht grösser zu sein als wie sie in den militärischen Kräften, die von den Fachkundigen auch heute noch allenthalben beschrieben werden, nicht sich entwickeln lassen dürfen: alles geschieht auf der nackten Ebene der Befehlsreaktionen und reinen Informationen, die einen sofortigen Reflex auslösen sollen. Mich selbst freut es ernsthaft, dass man in der Bilderflut vergessen und in der Landschaft wieder herumstehen kann, ohne meinen zu müssen, alles Sichtbare bestünde aus Dingen, deren Reiz sich darin erschöpft, auf schönen Bildlis identifiziert zu werden. Mir scheint es gerade begrüssenswert, wenn die Formen im Gesamtbild wieder untergehen können wie musikalische Einzelphrasen, die ein Stück als Teil konstituieren, das im Ganzen aber von einer anderen Struktur getragen wird, in der die Phrase als Melodie gänzlich unbedeutend sein mag. Es hat keine Bedeutung, in jedem Moment Le Pleureur und La Sâle erkennen oder La Luette und La Serpentine eindeutig auseinanderhalten zu können, aber eine grosse, den Platz dessen, was zu sehen ist, im dreidimensionalen Gesamtgefüge spontan richtig auszumachen. Man wird feststellen, dass es immer schwieriger wird, eindeutig zu bestimmen, ob einem das Wallis körperlich als grosses oder als überschaubar kleines Gebilde erscheint. Einen Drang danach, fremde, weitläufigere Berglandschaften anders als nur durch Bildbetrachtungen im Internet kennen zu lernen, verspüre ich jedenfalls immer noch nicht. – Gestern gelesen: La Greina und Flusslandschaften im Wallis, Fotografien von Herbert Mäder, 3. Auflage Chur, Sion, Zürich 2003 und 2004, mit einem Vorwort von Klaus Huber, Regierungspräsident des Kantons Graubünden. Was die Walliser von den Bündnern vielleicht lernen könnten wäre, die Scheu abzulegen und nicht mehr nur den Ausbeutern, sondern auch schon mal den Touris (mich ausgenommen) einen Tritt in den Arsch zu versetzen, statt sie devot mit neuen Pisten und Seilbahnen in noch grösseren Massen an jeden abgelegenen Flecken transportieren zu wollen. Die aktuelle Regierung bemüht sich weniger darum, die existierenden Meinungen der Bevölkerung im politischen Diskurs vernünftig zu artikulieren, als darauf schnell und unterwürfig zu reagieren, was die Tourismusindustrie an Wünschen anmeldet, auch wenn die Gewinne des Tourismussektors immer weniger den Lebensunterhalt der Walliser Bevölkerung zu finanzieren sondern andere, berglandwirtschaftsferne Taschen zu füllen scheinen.

Unrächbar, das Leben im Tod

Montag, 10. März 2008

Die Erfahrung des Lebens nötigt zur Einsicht, dass der Niederträchtige auf Erden nach dem Tod sich seiner dreissig Mädchen erfreuen und der brave, wenig korrupte Mensch in der Hölle schmoren wird. Kaum eine Möglichkeit, dass die lebendige Vernunft ein solches Ansinnen rechtfertigen würde, doch der gegenwärtige Zwang des Realen scheint allmählich seinen Tribut einfordern und die Wundersamkeit zum Ausdruck bringen zu wollen.

Der Niederträchtige ist nicht der Kriminelle, dessen Untaten, als einzelne oder in Serie, im praktischen Rechtszusammenhang gesühnt werden; er wirkt aus einer Position der Stärke, die sich des Rechtswesens bedient, weil sie zuvor schon gesellschaftlich sanktioniert worden ist. Bis vor kurzer Zeit noch gehörte eine solche zum Gefüge der politischen Macht, fast ohne Ausnahme auf Seiten der militärischen Kräfte. Die Position ist aber auf eine Sanktionierung durch den politischen Machtzusammenhang nicht mit Notwendigkeit angewiesen, weil dieselbe Legitimation, nie ohne Ansehen und Anerkennung, auch im isolierten, für sich stehenden Wirtschaftskomplex geschehen kann, sofern ihn die Gesamtgesellschaft, wie seit 25 Jahren quasi offiziell, in dieser Freiheit auch haben will. In solcher Praxis schaut dann die Macht, demokratisch gewählt, bloss noch zu, wie die Welt sich gestaltet ganz ohne sie, und der einzelne im Leben, wie es gegen ihn sich wendet. Wo einer etwas Böses an einem Anderen tut, ist er leicht zur Rede zu stellen; indem der Niederträchtige alles daran setzt, jeden Anderen zu ignorieren wie die Banker und Broker die Bevölkerung auf der ganzen Welt und auf niedrigstem Niveau der Fernseh- und Radiokonsument die Nachbarschaft, bildet sich keine Gruppe, in der die Vernunft an die Regeln appellieren könnte, gegen die der Niederträchtige verstösst. Sei es im Grossen oder im Kleinen: er war immer schon die Figur des Herrschers und des Anmassenden, dessen Handeln, das in gewissen Konstellationen gesellschaftlich grosse Folgen nach sich zieht, nicht vermittelt ist, weil es so tut, als ob es keine Regeln zu kennen und zu berücksichtigen gäbe und weil die Erfahrung des Alltagsmenschen in der Tat nicht imstande ist, ihm zu sagen, wie er an Stelle des Korrupten handeln würde.

Dass dem Niederträchtigen harmlos der nur wenig korrumpierte Mensch gegenübersteht, scheint der religiösen Vorstellung vom Guten und vom Bösen zu folgen. Doch der reine Begriff der Korruption enthält mehr an realistischem Gehalt, als der kritische Verstand ahnen lassen will. Wenn auch der grösste Teil der Bevölkerung ihr nicht eindeutig zuzuordnen wäre, ist von einem Teil indes ebenso gewiss, dass er korrupt ist und Schlechtes bewirkt wie von einem anderen, grösseren, dass er deswegen frei ist von Korruptheit, weil er wie allgemein in Asien, Afrika und Lateinamerika als Opfer des ersten leidet. Zudem verfolgt jedermensch nur zu leicht, wie die Niedertracht als Gift in den Gesellschaftsschichten sedimentiert, und ein Grund dafür, dass sie so schwer wahrzunehmen ist, kann nicht weniger leicht darin gesehen werden, dass sie ebenso die Alltagshandlungen prägt wie seit langem schon das äussere Gebaren der Fernsehstars das ihrer ZuschauerInnen. Nur weil sie auch in der Breite wirkt, ist es der isolierten Vernunft schier unmöglich, die Niedertracht im konkreten Einzelnen festzumachen.

Sofern die Vernunft nicht ganz verabschiedet werden soll, ist die Frage über die imaginierten Wirklichkeiten nach dem Tode allerdings nicht, ob sie die Ungerechtigkeit rechtfertigen oder nicht, ob also, um in der herrschenden Sprache verständlich zu sprechen, der Lohn letztlich den Ungerechten zukommt. Denn so wie der Niederträchtige die Grenzen der Moral überschreitet und da tätig ist, wo es nichts zu rechtfertigen gibt, werden hier die Grenzen der Erkenntnis überschritten. Zur Frage ist nun geworden, ob nicht gerade derjenige ungerecht und auf irdischem, vernünftigem Boden verdammenswürdig erscheint, der die Behauptung äussert, Gerechtigkeit sei nirgends und in langen Zeiträumen nie, weil dieselbe Behauptung nur aus Ressentiment und Bitternis, also ihrerseits durch Anmassung und ohne Vertrauen in das Gute, das praktische Regeln kenntlich macht, schliesslich zu denken wäre. Wer die Stimme erhebt, scheint heute zu einem verlorenen Spiel ansetzen zu wollen. Im Zustand des Communication Breakdowns heisst Sprechen offenbar, es ernsthaft wieder neu zu lernen. Monströs an ihm wäre, dass es im Wahren nicht zugleich das Gute zu sehen vermeinte.