Archive für 21. März 2008

Leopold Bloom (Uli isses)

Freitag, 21. März 2008

Bis vor nicht sehr langer Zeit war das Wissen über den Alltagsmenschen eine Terra incognita auf den Landkarten der Wissenschaften und der Philosophie, und auch der Alltagsmensch selber träumte immer davon, wie es doch wäre, Recht auf Einsicht ins gewöhnliche Verhalten und in die Vorstellungswelten der nächsten und der weiter entfernten Nachbarn bekommen zu dürfen. Inzwischen ist dasselbe da, und es ist so weit wie nur vorstellbar ausgebreitet, alle Einschränkungen auf die Domänen der Wissenschaften und der Philosophie hinter sich lassend. Auf den privaten Homepages war nur zögerlich etwas zu erfahren, und auch die Blogs sind für die gewöhnliche Masse immer noch zu kompliziert in der Bewirtschaftung, weil in ihnen mindestens am Rande auch sprachliche Beiträge erwartet werden. Auf Google’s Picasa schauen die Verhältnisse nun ganz anders aus. Selbst wenn nach ganz eigentümlichen, geografisch abseitigen und intellektuell eher wenig bekannten Objekten gesucht wird, gerät man unverhofft mitten in Fotoalben von Einzelnen hinein, in denen Ausschnitte aus dem Alltag mit ihren Alltagsbekanntschaften aus dem Berufs-, Freizeit- oder Studienleben zur Darstellung gelangen. Doch was für ein Erwachen einem da nun widerfährt! Was für eine Qual der Einsicht, dass bei allen dasselbe zu beäugen wäre, bei Jungen, bei Alten, bei Östlichen und Westlichen, Weiblichen und Männlichen, Lustigen und Frustrierten, Politischen und Sportlichen. So langweilig erscheint der Mensch, wenn er nur Mensch zu sein scheinen will, keinen Deut interessanter und abwechslungsreicher als die Individuen oder Einzelexemplare einer Tiergattung. Wer im Konsum sich dem Sprechen entzieht und nichts tut, das seiner Sichtweise auf die Welt eine Gestalt verleiht, die andere wahrnehmen können, leistet nur den einen Beitrag ans Leben, das zu stärken, was es auslöscht, die Anerkennung des kulturindustriellen Einerleis. Bloom hatte im langen Text von Joyce nichts weiteres zu tun als die äusseren Ereignisse denkend zu begleiten, um das Besondere im Gewöhnlichen begreifbar zu machen. Im Zuge des Ausbaus der Vielfältigkeiten in den Medientechnologien sackt der gewöhnliche Mensch, von dem wir jetzt, nach Picasa, wissen, dass wir alle als dieselben Idioten dastehen, wie eine leere Hülle in sich zusammen, wenn er das nicht nach aussen zu kehren versucht, das ihn auch im Innern nicht mehr als Individuum erscheinen lassen will. Man ist heute häufiger ein Jasager als früher, weil es schneller gegen aussen sichtbar wird, dass man sich der Anstrengung des gewöhnlichen und also kritischen Nachdenkens durch Trägheit entziehen will. Das ist weder als eine griesgrämige Beobachtung über die Faulheit des Menschen im allgemeinen noch als unangemessene Einschätzung zu bewitzeln, die nur den Teufel an die Wand malt; erscheint der Mensch tel quel, also der Alltagsmensch im besonderen, in den Gebilden, die gesellschaftlich entstehen, als Leerheit, fällt es den Niederträchtigen nur um so leichter, die lebendigen Einzelmenschen in ihrem Tun, das gegen sie gerichtet ist, ohne Widerständigkeit zu ignorieren und schliesslich zu opfern.

Interkuhturalität

Freitag, 21. März 2008

Berner Simmentaler Kuh in Afghanistan, 2007:

http://picasaweb.google.com/honzafaltus/Afghanistan/
photo#5061715336437933954

Von diesem Bild aus unbedingt das ganze Picasa Album Afghanistan von Honza Faltus anschauen, 267 Bilder.

„Brockes-Passion“ von Stölzel

Freitag, 21. März 2008

Gestern Abend auf Radio DRS2 die „Brockes-Passion“ von Gottfried Heinrich Stölzel für den Karfreitag 1725 gehört, und noch morgens um Vier ist das Werk frisch im Kopf. Erstaunlich, dass Musik aus der Bachzeit so tiefe Spuren zu hinterlassen vermag, üblicherweise geschieht es eher mit solcher weit vor oder weit nach Bach – oder dann aus geographisch und kulturell entlegenen Räumen. Dass diese Musik so aktuell und modern klingt, zuweilen, jedenfalls gegen den Schluss hin, wie in einem Konzert der Mothers, deren Dirigent bekanntlich auch einen Namensvetter aus Stölzels Nachfolgezeiten hatte, Francesco Zappa, ist auch der Interpretation durch die Schola Cantorum Basiliensis mit Jörg-Andreas Bötticher geschuldet, deren Virtuosität und quasi experimentelle Stilsicherheit dem Zuhören ein Biotop gewähren, in dem es sich unabgelenkt auf die Fülle neuer Einzelereignisse und unvorhergesehener Wendungen einlassen durfte, ohne dass das Ganze, wie bei ähnlicher Musik noch vor dreissig Jahren, wie ein verstaubtes Möbelstück hätte dastehen müssen. Man kann jede Singstimme und jedes Instrument eigens hervorheben, und man könnte an vielen Stellen zeigen, durch was in der Komposition und durch welche subjektive Leistung in der Interpretation dieses musikalische Werk zu zünden vermag. Mischt sich auch, wie im alten Akt des Komponierens intendiert, Ergriffenheit durch die textliche Vorlage des Dichters Barthold Heinrich Brockes hinzu? Wenn das Ziel der Menschheit darin bestehen soll, das Opfer abzuschaffen, ist das grösste Opfer in dieser einen Religionskultur wohl immer noch verstandes- und gefühlsmässig bewegend, im grösseren Zusammenhang aber nur eine Erzählung, die ein Weitergehen blockiert. Was unmittelbar bewegt, ist der Ernst, mit welchem diese Geschichte in ein Werk gefasst werden und wie es eine Gesellschaft geben konnte, die sich davon ernsthaft bewegen liess. Gelingt die Transformation des Opfers in die Kunst, kann darauf gehofft werden, dass die Opferungen im Alltag, die nur die Kehrseite und das innere Band der menschlichen Niedertracht darstellen, als gewöhnliche gesellschaftliche Arbeit erscheinen dürfen und die Hilfsprogramme gegen die Niederlagen in der Weltgeschichte als normale Arbeit hin zu vernünftigen Gesellschaftsverhältnissen, wo keiner den Niederträchtigen abgeben kann, weil mit keinem mehr als Opfer gerechnet werden muss. Trotz der Anhäufung allerhöchster bewundernswürdiger Kunstwerke nach der Zeit von Stölzel kann in einer Epoche der kulturindustriellen Produktion, die auf diejenige der religiösen Erzählungen folgte, von einer Verwandlung des Opfers in die Kunst nur mit äusserster Mühe die Rede sein.