„Brockes-Passion“ von Stölzel

Gestern Abend auf Radio DRS2 die „Brockes-Passion“ von Gottfried Heinrich Stölzel für den Karfreitag 1725 gehört, und noch morgens um Vier ist das Werk frisch im Kopf. Erstaunlich, dass Musik aus der Bachzeit so tiefe Spuren zu hinterlassen vermag, üblicherweise geschieht es eher mit solcher weit vor oder weit nach Bach – oder dann aus geographisch und kulturell entlegenen Räumen. Dass diese Musik so aktuell und modern klingt, zuweilen, jedenfalls gegen den Schluss hin, wie in einem Konzert der Mothers, deren Dirigent bekanntlich auch einen Namensvetter aus Stölzels Nachfolgezeiten hatte, Francesco Zappa, ist auch der Interpretation durch die Schola Cantorum Basiliensis mit Jörg-Andreas Bötticher geschuldet, deren Virtuosität und quasi experimentelle Stilsicherheit dem Zuhören ein Biotop gewähren, in dem es sich unabgelenkt auf die Fülle neuer Einzelereignisse und unvorhergesehener Wendungen einlassen durfte, ohne dass das Ganze, wie bei ähnlicher Musik noch vor dreissig Jahren, wie ein verstaubtes Möbelstück hätte dastehen müssen. Man kann jede Singstimme und jedes Instrument eigens hervorheben, und man könnte an vielen Stellen zeigen, durch was in der Komposition und durch welche subjektive Leistung in der Interpretation dieses musikalische Werk zu zünden vermag. Mischt sich auch, wie im alten Akt des Komponierens intendiert, Ergriffenheit durch die textliche Vorlage des Dichters Barthold Heinrich Brockes hinzu? Wenn das Ziel der Menschheit darin bestehen soll, das Opfer abzuschaffen, ist das grösste Opfer in dieser einen Religionskultur wohl immer noch verstandes- und gefühlsmässig bewegend, im grösseren Zusammenhang aber nur eine Erzählung, die ein Weitergehen blockiert. Was unmittelbar bewegt, ist der Ernst, mit welchem diese Geschichte in ein Werk gefasst werden und wie es eine Gesellschaft geben konnte, die sich davon ernsthaft bewegen liess. Gelingt die Transformation des Opfers in die Kunst, kann darauf gehofft werden, dass die Opferungen im Alltag, die nur die Kehrseite und das innere Band der menschlichen Niedertracht darstellen, als gewöhnliche gesellschaftliche Arbeit erscheinen dürfen und die Hilfsprogramme gegen die Niederlagen in der Weltgeschichte als normale Arbeit hin zu vernünftigen Gesellschaftsverhältnissen, wo keiner den Niederträchtigen abgeben kann, weil mit keinem mehr als Opfer gerechnet werden muss. Trotz der Anhäufung allerhöchster bewundernswürdiger Kunstwerke nach der Zeit von Stölzel kann in einer Epoche der kulturindustriellen Produktion, die auf diejenige der religiösen Erzählungen folgte, von einer Verwandlung des Opfers in die Kunst nur mit äusserster Mühe die Rede sein.

Freitag, 21. März 2008 um 6:05 am Themenbereich: Musik                 RSS 2.0 Both comments and pings are currently closed.

Ein Zusatz für “„Brockes-Passion“ von Stölzel”

  1. ur schreibt:

    Ein Tag später dann am Karfreitag Bachs Johannes-Passion unter Harnoncourt aus Luzern, ebenfalls auf DRS 2 und ebenfalls nur wenige Tage nach der Aufführung gesendet. Wie stark sich diese zwei Werke nur entgegenstehen, die Kompositionen selbst gleichwie die Interpretationen! Schon genervt hat gestern Abend die Ansage, die Harnoncourts Devise für die Wiedergabe, die stark an Stockhausen erinnerte, nicht im Verborgenen gehalten haben wollte, dass kein Mensch über diese Musik sagen soll, sie sei gut, wenn er nicht auch die Glaubensinhalte anerkennen würde, die ihr zugrunde lägen. Es musste so wohl denn alles schief herauskommen: die Solostimmen, und unter ihnen insbesondere die des Evangelisten, benahmen sich wie pubertierende Bekennende in einer Sekte, und die Chöre und Ensemblegruppen skandierten in einem unaufhörlichen und immerwährenden Staccato, als hätte ein Offizier einen Trupp Antisemiten in ein Volksfest gehetzt. Bachs Oratorium zeigt die Hetze der Juden als Volksmasse, und die Luzerner Interpretation zeigt sie, als wäre sie identisch mit der Hatz der Nazis gegen sie wie, und dieser Schluss ist am übelsten, aktuell die Überreaktion der israelischen Regierung gegen ihr engstes Aussen. So schlimm war mir Bach noch nie aufgestossen, nach 90 Minuten machte ich dem Missverständnis ein Ende, nicht ohne bis morgens um 1 Uhr Alpträumen mit Horrormonstern, auch ohne zu schlafen, ausgesetzt gewesen zu sein.