Archive für 9. September 2009

Transformerverkehr

Mittwoch, 9. September 2009

Es gibt in der lebendigen Existenz verschiedene unverhoffte Transformationen, von denen die meisten sich seit 50 Jahren in der menschlichen Gesellschaft artikulieren, um aus der Erfahrung der schlechten Notwendigkeit einen Lebensentwurf aus Freiheit und mit anrufbaren Rechten realisieren zu können. Wenn sich die Art und Weise, wie seit Juli 2009 abends vom Wallis nach Bern zurückgereist wird, nicht zum Guten ändert, muss eine immer grösser werdende Gruppe von Fahrgästen der SBB ihren Empfindungen Ausdruck geben und gesellschaftlich darum kämpfen, dass ihre erlebte Existenz als ein Stück Vieh endlich zur nominellen Anerkennung gelangt. Ich fühle mich nicht mehr einer Gesellschaft von Menschen angehörig, wenn ich als Reisender keinen Platz mehr finde zum Sitzen und um nichts besser einen zum Stehen, wo ich mich an etwas Griffigem, das dafür vorgesehen wäre, festhalten könnte. In den nachmittäglichen und abendlichen Zügen von Visp nach Bern wird der Einzelne, ob Junger oder Alter, ob Behinderter oder Kräftiger, beim Einsteigen in irgendeine Richtung abgetrieben, die ihn ohne sein Zutun in einen Winkel schiebt, wo er sich fallen zu lassen hat. Solche Ausgestossene, die sich häufig auf einer steilen, abgedrehten Treppe wiederfinden, mögen sich tunlichst hüten, für irgendwelche körperliche Versehrtheiten Hoffnungen zu hegen – für die zuzeiten noch grössere Masse der Sitzenden sind sie leblose Gegenstände, auf die getreten oder mit Gepäck gezielt werden kann, gerade wie es kommt, wenn man sich in den Zug hinein-, durch ihn hindurch- oder aus ihm wieder hinausbewegt. Es dünkt mich an der Zeit, dass auf uns neuerlich Transformierte gesellschaftlich abgesichert die Tierrechte zur Anwendung kommen, wo von der Geschundenheit gesprochen wird, vor welcher das Tier zu schützen wäre. Solange ich nicht in die Leblosigkeit abgesunken sein werde, will ich es wagen, an die Gesellschaft den Anspruch zu erheben, wenigstens als Tier betrachtet zu werden. – Man könnte meinen, für spezielle Fälle seien doch Behindertensitze vorgesehen. Klar habe ich solche schon ins Auge gefasst, doch beim Einlass der Masse bin ich noch nie an einen solchen gespült worden, und man ist in der aufgehetzten Gesellschaft gut beraten, Ansprüche durch Vorweisung eines IV-Ausweises zu unterlassen (vor wenigen Jahren gab es auf Seilbahnen noch Vergünstigungen gleich denen für AHV-Rentner, heute frage ich nicht einmal mehr danach). Da die Medien der Kulturindustrie den Trieben der Ökonomie mehr gehorchen als denen der Vernunft, lassen sie die kryptofaschistischen Brüller so umfassend zu Wort kommen, dass man gut daran tut, in einer Meute nicht der naiven Meinung nachzugeben, der Nebenmensch im knalligen roten T-Shirt mit weissem Schweizerkreuz sei kein SVP-Sympathisant und den IV-Ausweis im Portemonnaie verborgen zu halten. Will man schädigenden Hieben ausweichen, sei es denen, die man einsteckt, weil man als Rentner enttarnt wird oder denen, die einen kaputt machen, weil auch ein geringster Stoss an den neugebauten Körperstellen Schaden anrichtet, erfährt man sich als Verlassenen auf sich allein gestellt und angewiesen wie auf den obersten Alpflecken – im tobenden Eissturm. Die Schweizerischen Bundesbahnen werden nächstens ein paar Sitze mit der Anschrift auszeichnen müssen: Reserviert für SBB-Versehrte.

Zusatz: Gestern hatte ich in Visp beim Einfahren des Zuges, der ohne Anmeldung im hinteren Teil Zusatzwagen hatte, die Meute zunächst umeilt und dann durch alle Strömungen querend eine Stelle angepeilt, wo man nur einen halben Meter von der mächtigen Lokomotive entfernt und beinahe schon unter ihr fährt, mit idealem Ausblick auf den Bildschirm über einem, der dem Lokführer alles übers Aussen des Zuges berichtet und ihn gleichzeitig von allem im Innern verschont – und wo es einen echten Sitz gibt! Vom Sound allerdings im Tunnel muss man schweigen; ich versuchte vergeblich, ein Konzert von Glenn Branca zu phantasieren, weil alles Erinnerte nur MRI-Aufzeichnungen entstammte.