Wie zu betrachten
Das Zentrum der Musik ist ihr Schöpfer, der komponierende Mensch. Er entäussert seine Werke, damit auch andere in sie Einsicht nehmen können. Macht er es schriftlich, nimmt diese Form der Entäusserung selbst auch Einfluss auf die Musik. Liegt sie erst einmal stumm vor, kann sie von einzelnen gelesen werden; realisiert wird sie erst im Spiel durch weitere, andere. Und doch kann sie in der Aufführung, die ihr notwendig scheint, Schaden nehmen. Eines ihrer Ideale ist die reine Notation, ein anderes die Interpretation, die als ideale bewundert wird (durch kritisches Beschreiben und möglicherweise durch physikalische Archivierung), ein drittes der hörende Mensch, der das Werk im Verlauf des Zuhörens quasi neu nachkomponiert. Und alle diese Ideale sind gewöhnlicher Bestandteil eines historischen und gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs, in dem sie geschehen. Es macht nicht die geringste Mühe, sich mit der Musik auseinanderzusetzen, ohne dass man wüsste, wann man in einem Werk oder in einem Konzert mit improvisierten Anteilen die Musik wahrhaft begriffen hätte. Entscheidend ist nur, dass man sich bemüht, ihr mit Wahrhaftigkeit die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie zu verdienen scheint. Viel Wagnis ist nie dabei.
Mit den Bildern ist es nicht viel anders, auch dann nicht, wenn man sich in der allgemeinen Bilderflut einer besonderen ausgesetzt sieht. Auch wenn es einen objektiven Inhalt gibt, einen Menschen hinter jedem erstellten Fotobild und sowohl einen engen wie einen erweiterten Zusammenhang, in dem das Bild steht, ist die Frage, wo und auf welche Weise das Wesentliche des einzelnen Bildes aufzustöbern sei, unecht, aufgesetzt, überflüssig. Die Spontaneität in der Betrachtung ist schon Kraft und Garantie genug, dass der sehende Mensch nicht irregeführt wird. Der Betrachter ist frei ausser in dem, dass er sich betrachten muss. Ist sein Aufmerksamkeitspotential klein, so sieht er sich als schwacher, der von jedem Inhalt absieht und sich aufs Technische bescheidet; hat er Lust auf Unterhaltung, gibt er sich dem Spiel der Kontraste, Formen und Farben hin, solange sie ihn reizen; er kann auf denjenigen Ebenen vergleichen, wie es ihn gut dünkt, derjenigen des Fotografierens oder der selbst erlebten beziehungsweise noch zu erlebenden Bildinhalte – und er kann, sofern die Zeit ihm gegeben ist, die weiteren und engeren Kontexte in seiner Aufmerksamkeit berücksichtigen, die immer schon objektiv von den Inhalten und subjektiv durch die Form der Präsentation gegeben sind. Wie in der Musik ist es unsinnig, ein Ideal herauszulösen und die anderen Arten und Weisen des Betrachtens dadurch aggressiv in Frage zu stellen.
Dienstag, 9. November 2010 um 6:46 am Themenbereich: Theorie RSS 2.0 Both comments and pings are currently closed.