Theorie und Praxis
Mit den Symptomen eines unlustigen Körpers naht die Zeit, da man sich Klarheit verschaffen und sogar stückweise Rechenschaft darüber geben muss, wie sich gewisse Entscheidungen und Fährtenwahlen ausgewirkt haben, in welchem Verhältnis zu anderen sie stehen und ob sie möglicherweise nach so langer Zeit heute noch einmal zu ändern wären. Das berufliche Scheitern wird mit dem körperlichen Horror zusammen nur angesprochen, um beide desto eindeutiger auszuklammern, nicht weil sie einer drohenden Selbststilisierung im Wege stünden, sondern zu jeder objektiven Aussage wie auch zu subjektiven über Objektives Zusätze erzwingen würden, die sie zur Unkenntlichkeit verzerrten. Da der Stärke der Interessen für Theorie und Musik früher wie später die Fähigkeiten nicht gleichermassen entsprachen, wurden einstens nur Ziele anvisiert, die etwas vermitteln, ein Gegebenes immer schon voraussetzen und das Schaffen von eigenen Gebilden niemals erfordern würden. Wer sich mit Theorie und den Künsten auseinandersetzt, muss nicht notwendigerweise ein ernstzunehmender Theoretiker oder Künstler sein, auch dann nicht, wenn die Bahn kaum den Bereich der Pädagogik streift. Ein Verhältnis zur Theorie ist aber gegeben, und es muss gehütet werden, wenn das Leben im ganzen nicht als zum Organisieren von Hobbies verkommen gedeutet werden soll.
Sowohl in biederer und seriöser wie auch in tendenziell ausgeflippter und revolutionärer Ausgestaltung leistet der engagierte Intellektuelle einen Verzicht aufs erschöpfende diskursive Darstellen der Theorie, um seinen Einsatz auf die Praxis zu konzentrieren. Auch wenn einem die Welt in einem desolaten Zustand erscheint, sind die Arbeiten dieser Philosophen, Soziologinnen, Schriftstellerinnen und Journalisten in den Medien doch präsent und erscheinen wenigstens aus diesem Grund erfolgreich. Sie stehen mit beiden Beinen in der Welt, und was sie tun, lohnt sich – nur die Lektüre ihrer Werke nicht. Ihre begrifflichen Argumentationen enden in Behauptungen, und ihr Aktivismus missachtet Sartre’s Einsicht in die Schwierigkeit aktivistischer Gruppen, in autoritäre, irrationale umzukippen. Weniger fasslich erscheinen die pragmatischen Intellektuellen, die mehr als die engagierten fast nur an den Universitäten und in den konservativen Büros der Machtinstitutionen wirken. In ihren Arbeiten wäre das eigentlich Falsche und Verschlafene der letzten zwanzig Jahre aufzuspüren, zum Kotzen diejenigen nahe der Fachökonomie mit der Betriebswirtschaft für die Schnösel aus den Villenvierteln und der Volkswirtschaft in ihren täglich wechselnden Theoriekursen, wo jeder Satz für eine Lüge steht: sie verzichten auf die Perspektive der Kritik und darauf, die Theorie als Platz der Auseinandersetzung noch ernsthaft in Erwägung zu ziehen; weder wollen sie die Theorie im ganzen weiterhin darstellen noch implizit auf eine phantasierte Bezug nehmen. Der Status solcher Theorie ist nicht einfach vorläufig, sondern unverbindlich. Um so drastischer wird in diesen Texten das andere der eigenen Position ausgeblendet – es fällt weg, und zwar, kurioserweise, als falsche Theorie, auf die man nicht mehr zurückzukommen hätte. Nicht der dümmste der Alten, Leibniz, behauptete, in nicht klar und eindeutig zu bestimmender Weise hätte jede Position in der Philosophie ihr Recht und stünde nicht ausserhalb der Wahrheit. Das findet kein Gehör, als ob auch hier die heutige Welt, die globalisierte Destruktivität, der Vernunft ins Gesicht schlagen wollte, die eine gewisse Zeit braucht, sich zu entfalten, und nicht beliebig beschleunigt werden kann.
Das Vertrauen in ein begriffliches, an der Gesellschaftstheorie orientiertes Darstellen von Einzelgebilden hat keine Bahn beschrieben, die sich nachzeichnen liesse und zeigt sich als bedauerlichen Fall ins Nichts. Man denkt an ein treibendes Floss im windstillen Ozean als Negativ eines Treutse Bo, eines Bocks in der einsamen Steinwüste – dessen Segelfetzen nur dann vom flauen Wind noch Nutzen ziehen können, wenn dort, wo nichts mehr ist, noch mehr Ballast abgeworfen und der Blick auf noch Kargeres gerichtet wird, immer noch weiter abstrahierend von dem, was das gesellschaftliche Leben und der gesellschaftliche Zusammenhang einem als schlechte Notwendigkeit aufdrängen. Ein solches Terrain wurde im Wallis weit ausserhalb der Dorfränder gefunden, fast schon in der Zone dessen, was peu à peu daran ist, nicht mehr Gletscher genannt werden zu können. Auch diese obersten Flecken sind noch Bestandteil der Gesellschaft, weil ohne sie das Überwintern der Familienkuh, singuläres Kapital der Gesellschaftsteile, unmöglich gewesen wäre. Als materieller Teil der Gesellschaft sind sie Moment der Theorie und zeigen sich in dem, was für die wanderlose Winterzeit zum Thema der Gletschersoziologie wird; sie stehen herum als nichts weniger denn ihr Schlüssel: Ställe.
Dienstag, 16. November 2010 um 8:27 pm Themenbereich: Theorie RSS 2.0 Both comments and pings are currently closed.