Archiv für den Monat Dezember, 2010

Die Neunte & The Survivor

Freitag, 17. Dezember 2010

SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg unter Sylvain Cambreling direkt aus Friedrichshafen mit Beethovens Sinfonie Nr. 9 d-Moll op. 125 und ohne Pause oder Applausmöglichkeit daran angeschlossen Schönbergs Ein Überlebender aus Warschau op. 46 mit unvermittelter Hinzufügung der wiederholten Reprise der Neunten. Wie eindrücklich und wahr das Ganze! Beethoven wurde traditioneller und also leicht pathetischer gespielt als in Paris, wodurch umgekehrt das Schönbergstück, das äusserst präzise gesungen und gespielt wurde, musikalisch um so stärker wachrüttelte – und beide Stücke objektiv, auch aussermusikalisch, wahr wurden. So muss man Beethoven spielen, und so muss man Schönberg verstehen.

Beethovens Achte & Neunte aus Paris

Mittwoch, 15. Dezember 2010

Théâtre des Champs-Elysées vom 28. November 2010, Wiener Symphoniker mit Christian Thielemann, Choeur de Radio France, die achte und die neunte Symphonie von Beethoven auf France Musique. Schon eine Stunde vor Sendebeginn schaue ich, ob „alles in Ordnung“ ist. Keine Ahnung, wann es das letzte Mal war, dass ich so gespannt ein Konzert älterer Musik erwartete. Die vorangegangenen Aufführungen der sieben Symphonien im Pariser November 2010 waren grösstenteils einfach zu gut, als dass die Nummern 8 und 9 verpasst werden dürften.

8.1: Unruhige Tempi, fast bis zum Auseinanderfallen, als würde eine temporale Dekonstruktion erprobt.

8.2: Auseinanderliegendes wird kammermusikalisch gruppiert und sukzessive als neuer Beethoven zusammengesetzt. Beeindruckend.

8.3: Schwere, fast hinkende Metren. Kein Echo auf Haydn, sondern auf Beethoven selbst, die Pastorale. Ländlerhaft, wie eine Vorlage für Mahler.

8.4: Die Flöten schlafen noch, ansonsten superb! Noch nie so wenig laut gehört: das Bestimmte wird in den gedämpften Passagen herausgehoben.

9.1: Die Bläser sind wach, die Streicher homogen wie in den früheren Aufführungen. So kennt man diese Band in Paris 2010. Keine Lecks in der Partitur, dichte gute Musik. Die Erwatungshaltung fürs Kommende ist angereizt, die Spannung da, ganz ohne Pathosfurcht.

9.2: Nicht auf die Spitzen und auf den Drive gezielt, und wieder mit Schwankungen, allerdings ziemlich interessanter, als ob ein Fohlen zum ersten Mal dressiert würde – alle Spannung ist in die leisen Passagen abgelegt. Das ist keine alte bekannte Musik mehr, sondern eine, die zu entstehen versucht. Kein Pathos ist zu befürchten, gerade umgekehrt entfaltet sich Intelligenz.

9.3: Beethoven übte sich in Filmmusik mit einer Landschaftstotale. Hätte man keine angewöhnten Ohren, würde man nicht spontan eifrig zuhören wollen. Das Orchester wird aber nicht kitschig, und der Angefixte bleibt gerne dran. Der Komponist verbrachte eine Zeit mit Varèse in der Gobi Desert. Klar, einmal kippt das Ganze. Doch wer kommt und scheint auf im Bild, die Revolution, das Pathos? Eine Kleinfamilie aus Mexico, durstig – uff, und meine Flasche ist vor lauter Zuhören noch halbvoll. Hat Beethoven den dritten Satz der neunten Symphonie selbst geschrieben?

9.4: Endlich eine Klapperschlange, quasi ohne Pause dem letzten Satz hinzugefügt. Die Ohren sind spitz! Doch wie halten sich die Wiener wieder zurück! Die Melodie, zunächst im Bass, entwickelt sich wie am Anfang des Konzerts kammermusikalisch. Man ist gespannt, weiss aber nicht, worauf die Spannung gerichtet werden soll – sie umgibt einen. Das ist neu. Mit der Stimme wird es … zum erstenmal tänzerisch, leicht, und dann noch leichter. Dies erscheint in der Tat als eine Interpretation, die Stück für Stück Neueres offenbart, der man immer mehr vertraut und in der man sich diesem Neuen immer lieber anvertraut. Jetzt erst wird das Verhältnis von den leisen zu den lauten Stellen klar und wie es aus der Partitur herauszulesen ist, befreit von den staubigen Klischees. Das Folgende bis zum Ende wird so leicht wie Bizet, wunschgesehen von Nietzsche: auf der Oberfläche leicht, innen aufgeschlüsselt um so ernster.

Eroica, Walküre

Dienstag, 14. Dezember 2010

Es läuft gerade der zweite Satz der dritten Symphonie von Beethoven, Eroica, aus dem Théâtre des Champs-Elysées vom 27. November 2010, Wiener Symphoniker mit Christian Thielemann: erstaunlich, wie schamlos Wagner diese Musik für die Walküre hat ausbeuten können, reinstes Copy’n’Paste.

Dusapin: Reverso

Freitag, 10. Dezember 2010

Grosse Faszination wie bei Passion am 11. November, Pascal Dusapin mit Reverso (2006) jetzt live aus dem Salle Pleyel, ein sogenanntes Solo für Orchester. Während des grösseren Teils eine Musik, die sich entschieden von den Prinzipien der Klangschichtung verabschiedet und so etwas produziert wie Klangsäulen oder Klangstelzen, die sich in kleinen, unbedeutenden Schritten fortbewegen. Im langsamen, unvirtuosen Fortschreiten verändert sich die Zusammensetzung der teils komplexen, teils durchsichtigen Säulen, indem die immer klar zu unterscheidenden Etagen in unterschiedlichen Momenten mutieren. Kleinere Teile des Werks sind nicht besonders unkonventionell, alte geschichtete Klänge mit quasi jazzigen Eruptionen.

Der Bund und seine witzigen Freunde

Freitag, 10. Dezember 2010

Der Bund ist eine lustige Zeitung und deponiert seine Spässchen wie Ostereier: heute zeigt er, wie leicht das geht, sich selbst als eigenem Freund einen Dienst zu leisten.

Walküre in der Scala, 3. Akt

Dienstag, 7. Dezember 2010

Nach so viel Wein den Rhein runter kann man wenigstens zur Aussage gelangen, dass die grossen Werke Wagners nur gewinnen, wenn sie mehrmals in einem Leben gehört werden. Sie sind etwas vom Wichtigsten, ohne dass einer mit einer solchen Wertschätzung zum Wagnerianer werden müsste. Sie sind gewöhnliche feste Teile der Welt, mit der jeder Mensch sich auseinandersetzt.

Hoffen wir mit diesem Wust genialen Wagners in den Geweiden, dass der Scheiss, in den Julian Assange mit der Verhaftung heute Morgen im Grossen Britannien geraten ist – wie das an die Schweiz und ihre Erfahrung mit Regisseuren erinnert… – eine gute Kurve findet. Die Welt und die Frauen haben besseres verdient als die zwei schwedischen Narzisstinnen. Mögen sie trotz ihres Unsinns vom CIA mit Befragungen verschont werden wie Fricka umgekehrt Wotan im Spiel eben erst zur Rede stellte. Sollen sie ihrer Wege ziehen – aber der Fliegende Australier den seinigen entlang nicht weniger und, wichtiger, unaufhörlicher. Für sie wird keiner bei Bewusstsein den Speer nicht fürchten.

Im übrigen ist der Applaus in Paris viel ergreifender als in Mailand. Schwache Säcke im Publikum dort.

Walküre in der Scala, 2. Akt

Dienstag, 7. Dezember 2010

Zum ersten Mal so erlebt, dass Spannung auch durch eine lange, quasi langweilige Dehnung der Zeit entstehen kann: der zweite Akt erfährt durch Frickas Giftrede eine ziemlich irritierende Abdrift, aber gerade diese Ablenkung macht die erste und letzte, sehr stille Begegnung zwischen Siegmund und Brünnhilde zum knitternden Spannungsereignis, auch ohne Bühne, nur unter Kopfhörern via France Musique. Weiter gut so! Und keine zu lange Pause jetzt in Mailand, wenn’s geht!

Wagner und Hegel

Dienstag, 7. Dezember 2010

Man kann manchmal Wagners Ring inhaltlich deswegen nicht folgen, weil man meint, ein verlorenes Erinnerungsstück müsse in der Struktur des Ganzen gesucht werden. Das lange Stück ist aber insofern hegelisch komponiert, als die Teile auch in der Zeit situiert sind, nicht nur in einer allgemeinen Struktur. Brünnhilde macht nicht einfach so einen Fehler, aus eigenen Motiven, aus einer individuellen „Menschlichkeit“ oder ähnlichem. Wotan wünscht zunächst, sie hülfe Siegmund – doch dann kommt unverhofft Fricka zugegen und lehrt ihren Mann Göttermores: Siegmund soll nicht durch Tricks und Ränke geholfen werden. Erst jetzt bekommt Brünnhilde, für sie in einem Doublebind, vom Vater die Anweisung, Bruder Siegmund nicht zu helfen.

Walküre in der Scala, 1. Akt

Dienstag, 7. Dezember 2010

Zum ersten Mal, dass ich den ersten Akt der Walküre als spannende Musik höre, soeben in der Scala Milano, unter Barenboim – und nicht als Vorspiel der interessanteren Stücke in den folgenden Teilen. In zehn oder zwanzig Minuten geht es weiter. Gut gut!

UFO

Donnerstag, 2. Dezember 2010

Langer Traum, schliesslich an einem Meeresstrand in einem Strandbad, schaut aus wie am Moossee oder Gerzensee, wie in Eich am Sempachersee, wo ich bis etwa 15 ab und zu war, hier im Traum aber eine kleine Badi eindeutig in Brasilien, wo ich nie war, da niemals ausserhalb Europas. Kein Wort zu verstehen, aber der Sound des Portugiesischen. Viele Leute auf engem Platz, ein Teil am Baden im Wasser, schöne Frauen, eine kommt, quasi von ausserhalb der Badi, eindeutig meine brasilianische Nachbarin vor 15 Jahren, geht ans Wasser, wirft einen Sack mit Getränkeflaschen ins Uferwasser, schwimmt, sieht, wie eine andere knapp bei ihrem Sack darüber hinwegtaucht, ruft ihr drohend oder mahnend etwas zu, dann eine Stimme im Gemenge im Trockenen, nichts Einheimisches, sondern Österreichisch. Die Stimme erzählt etwas, nicht rufend, unaufgeregt, aber deutlich. Was sie erzählt, ist unbedeutend, aber eben auffällig, und nur deswegen verzieht es mir die Lachmuskeln. Ich habe das Gefühl, der einzige zu sein, der das Erzählte versteht. Da es mir peinlich ist, dass ich lächeln muss und mich nicht als Ausländer zu erkennen geben will, der einen Ausländer versteht, drehe ich mich ab, gegen den Himmel, und sehe dort, weit oben, von einer eher kleinen Wolke zur Hälfte verdeckt, ein Gebilde wie eine Spielzeugspinne aus Keramik mit nur kurzen Beinen. Eindeutig ein Flugobjekt, allerdings ruhend. Ich bin nur schwach beunruhigt, weise jemanden, der mir bekannt sein muss, mit dem Finger daraufhin nach oben, wache auf, bevor Unruhe oder Angst sich hätten bemerkbar machen können. Gleich beim Aufwachen dünkt es mich, den Strand am Vortag im Internet gesehen zu haben, es kommt mir aber nichts in den Sinn. (Traum nach Aufwachen notiert, Bildcollage eine halbe Stunde später hinzugefügt.)

Zusatz: Die Spinne könnte ich selbst sein, da ich am Tag mit Schattenbildern experimentierte.