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Beethovens Achte & Neunte aus Paris

Mittwoch, 15. Dezember 2010

Théâtre des Champs-Elysées vom 28. November 2010, Wiener Symphoniker mit Christian Thielemann, Choeur de Radio France, die achte und die neunte Symphonie von Beethoven auf France Musique. Schon eine Stunde vor Sendebeginn schaue ich, ob „alles in Ordnung“ ist. Keine Ahnung, wann es das letzte Mal war, dass ich so gespannt ein Konzert älterer Musik erwartete. Die vorangegangenen Aufführungen der sieben Symphonien im Pariser November 2010 waren grösstenteils einfach zu gut, als dass die Nummern 8 und 9 verpasst werden dürften.

8.1: Unruhige Tempi, fast bis zum Auseinanderfallen, als würde eine temporale Dekonstruktion erprobt.

8.2: Auseinanderliegendes wird kammermusikalisch gruppiert und sukzessive als neuer Beethoven zusammengesetzt. Beeindruckend.

8.3: Schwere, fast hinkende Metren. Kein Echo auf Haydn, sondern auf Beethoven selbst, die Pastorale. Ländlerhaft, wie eine Vorlage für Mahler.

8.4: Die Flöten schlafen noch, ansonsten superb! Noch nie so wenig laut gehört: das Bestimmte wird in den gedämpften Passagen herausgehoben.

9.1: Die Bläser sind wach, die Streicher homogen wie in den früheren Aufführungen. So kennt man diese Band in Paris 2010. Keine Lecks in der Partitur, dichte gute Musik. Die Erwatungshaltung fürs Kommende ist angereizt, die Spannung da, ganz ohne Pathosfurcht.

9.2: Nicht auf die Spitzen und auf den Drive gezielt, und wieder mit Schwankungen, allerdings ziemlich interessanter, als ob ein Fohlen zum ersten Mal dressiert würde – alle Spannung ist in die leisen Passagen abgelegt. Das ist keine alte bekannte Musik mehr, sondern eine, die zu entstehen versucht. Kein Pathos ist zu befürchten, gerade umgekehrt entfaltet sich Intelligenz.

9.3: Beethoven übte sich in Filmmusik mit einer Landschaftstotale. Hätte man keine angewöhnten Ohren, würde man nicht spontan eifrig zuhören wollen. Das Orchester wird aber nicht kitschig, und der Angefixte bleibt gerne dran. Der Komponist verbrachte eine Zeit mit Varèse in der Gobi Desert. Klar, einmal kippt das Ganze. Doch wer kommt und scheint auf im Bild, die Revolution, das Pathos? Eine Kleinfamilie aus Mexico, durstig – uff, und meine Flasche ist vor lauter Zuhören noch halbvoll. Hat Beethoven den dritten Satz der neunten Symphonie selbst geschrieben?

9.4: Endlich eine Klapperschlange, quasi ohne Pause dem letzten Satz hinzugefügt. Die Ohren sind spitz! Doch wie halten sich die Wiener wieder zurück! Die Melodie, zunächst im Bass, entwickelt sich wie am Anfang des Konzerts kammermusikalisch. Man ist gespannt, weiss aber nicht, worauf die Spannung gerichtet werden soll – sie umgibt einen. Das ist neu. Mit der Stimme wird es … zum erstenmal tänzerisch, leicht, und dann noch leichter. Dies erscheint in der Tat als eine Interpretation, die Stück für Stück Neueres offenbart, der man immer mehr vertraut und in der man sich diesem Neuen immer lieber anvertraut. Jetzt erst wird das Verhältnis von den leisen zu den lauten Stellen klar und wie es aus der Partitur herauszulesen ist, befreit von den staubigen Klischees. Das Folgende bis zum Ende wird so leicht wie Bizet, wunschgesehen von Nietzsche: auf der Oberfläche leicht, innen aufgeschlüsselt um so ernster.