Archive für 3. März 2011

Esa-Pekka Salonen 2

Donnerstag, 3. März 2011

France Musique, live du Théâtre du Châtelet Paris, Festival Présences 2011, Portrait d’Esa-Pekka Salonen. Concert donné le 12 février 2011. Orchestre Philharmonique de Radio France, Esa-Pekka Salonen, Direction

Esa-Pekka Salonen, Gambit (1998, Rev.1999). Magnus Lindberg gewidmet, und so im Ton: gosszügig im Bläsersatz soundend, zuweilen schnaufend. Kaum irgendwo ein Ansatz zur Polyphonie, stattdessen solche zur Minimalmusic.

Witold Lutoslawski, Symphonie N°4 (1992). Dem heutigen Dirigenten vor knapp zwanzig Jahren quasi in die Hand gedrückt. Weniger eine Form, die aufgeschlüsselt werden will, als ein existentielles Sprechen ins Ableben hinein, melancholisch aber ohne Verrätselung. Ist das Leben auch nicht von Ewigkeit, kann das Ableben lange dauern und genossen werden. Der Fluss der Zeit erscheint wunderschön und ohne Bedauern.

Esa-Pekka Salonen, Giro (1981, Rev.1997). Keine uninteressante Musik, dennoch denke ich ab und zu daran, dass aus der ersten Fassung vielleicht zu viel ausgejätet worden ist. Zuweilen, mindestens anfänglich, wie eine potenzierte Ambientemusik.

Esa-Pekka Salonen, Body Language, Language, Dance, Ext. des Foreign Bodies (2001). Der Anfang ziemlich erschreckend, wie Adams. Also doch ein Zug zur Minimalmusic? Uff, der war nicht nur am Anfang des Stücks schlecht gelaunt, sondern im Verlauf gänzlich übergeschnappt: Sounds of Aerobics! Die spinnen, die Finnen: so viel Genialität und Blödsinn auf engstem Raum an so vielen Orten im Land…

Intentio obliqua ad Islamismum

Donnerstag, 3. März 2011

Philosophische Begriffe sind Übertreibungen, und hat man einmal ein Wortmonster für sich geklärt, stellt sich nicht selten eine Verwunderung darüber ein, wie Leute ein Leben lang über solche Einfachheiten sich haben die Köpfe einschlagen können. Meistens ist der Begriff bedeutsam nur als Erinnerung, als Mahnung an etwas, das dem Ungezogenen doch eigentlich selbstverständlich und klar sein sollte. Derjenige der Intentio ist äusserst kompliziert, und man tut gut daran, ihn nicht klarstellen zu wollen, wenn man nicht ein halbes Leben dafür zu investieren Lust hat. Der Begriff der Intentio obliqua ist dagegen trivial. Er ist dem der Intentio recta entgegengesetzt, der das meint, was geschieht, wenn wir etwas wörtlich oder im übertragenen Sinn ins Auge fassen. Würde man auf direkte Weise den Gegenstand weiter erforschen wollen, käme man nicht weit – er gäbe nichts von sich preis, jedenfalls nichts Wesentliches. Erkenntnis verlangt, dass man Umwege macht, Hilfsmittel herbeizieht oder im mindesten den Gegenstand etwas schräg, etwas vermittelt weiter untersucht, in einer intentio obliqua. (Möglicherweise ist die Titelkonstruktion falsch, und es müsste ein Dativ oder ein Ablativ folgen, mit „in“ oder ohne, beziehungsweise und momentan am wahrscheinlichsten ein „in“ mit Akkusativ – das dürre Latein war mir immer schon wurst.)

Vor kurzem überliess ich mich einem längeren Gedankenspiel, in dem die Intentio obliqua eine entscheidende Rolle spielte, einer Phantasie darüber, wie es wäre, wenn in einem geistesgeschichtlichen oder sozialwissenschaftlichen Proseminar, in einer ziemlich offenen Veranstaltung also, in der im Prinzip jeder jede Frage zur Diskussion stellen darf, einer mit dem Hintergrund eines rigiden Überzeugungssystems Fragen zu stellen beginnt, in denen der Leiter der Sitzung gefordert wird, weil die MitstudentInnen längst schon aufgehört haben, solche offtopic Fragen ernst zu nehmen und nunmehr darauf verzichten, eine eigene Meinung zu formulieren. Fragen auf einem bigotten Hintergrund und in einer konkretistischen Form zielen immer darauf ab, ein Urteil über eine gesellschaftliche Praxis herauszufordern, das strikt entweder nur gut oder nur schlecht sein kann, das ein vernünftiger Mensch aber niemals freiwillig zu sprechen gewillt ist, weil es die tiefverankerte Haltung der Liberalität auszuhebeln beginnt. Weil sie eine schamlose Herausforderung der Liberalität direkt darstellt, wird die seriöse Antwort darin enden, ihr Grund offenzulegen. Es macht keine Probleme, das, was ist, so zu beschreiben, dass die eigene Meinung die Beschreibung unberührt lässt, und von dem, was ist, zu dem, was es hat entstehen lassen, ist es ein Katzensprung, jedenfalls nichts, das ausserhalb des Gesellschaftszusammenhangs aufgesucht werden müsste. Das, was der herausfordernde Mensch der Diskussion in Frage stellen will, zeigt sich als blosses Moment eines Ganzen, das aus unendlich vielen Vielheiten besteht, gänzlich unüberschaubar und nicht auf den Begriff zu bringen, ausser dem der Gesellschaft tel quel. Nimmt man die mittelalterliche Unterscheidung zwischen der Intentio obliqua und der Intentio recta ernst, ernster als sie in der Disziplin der Philosophie wegen ihrer Trivialität und mangelhaften methodologischen Stringenz gewirkt hat, und vertraut man der eigenen intellektuellen Redlichkeit auch in einem unangenehmen tendenziösen Gespräch, so kann man gewiss sein, früher oder später aus dem zwanghaften Rahmen des religiösen oder kulturell konfliktuellen Diskurses mit einer durch Bigotterie aufgeladenen Begrifflichkeit heraustreten und in der überraschend spannenden der Rechtssoziologie fussfassen zu können, in der wegen der historischen Gebundenheit der beschreibbaren Vorgänge jeder Meinungszwang obsolet erscheint. Ist das erreicht, kann die Veranstaltung ihre vorgenommenen Bahnen ungestört weiter folgen.

Der aufdringliche Fromme: „Die Lehre der Wahrheit sagt, dass es schlecht sei, die Handlung xy zu vollbringen.“
Der rückhaltlose Theoretiker: „Einige tun es an einigen Orten, andere tun es nicht. Der einzelne steht nicht unter Zwang, diese Handlung zu tun oder nicht zu tun, ebenso wenig, dazu eine positive oder eine negative Meinung zu haben.“
Der aufdringliche Fromme: „Weil kein Recht herrscht, muss man es einführen.“
Der rückhaltlose Theoretiker: „Die Teile des Rechts wurden immer schon von denjenigen geschaffen, die von solchen Teilbereichen auch betroffen waren.“
Der aufdringliche Fromme: „Es braucht eine besondere Instanz, ausserhalb des Lebenszusammenhangs, die sagt, was Recht ist.“
Der rückhaltlose Theoretiker: „Die ersten Rechtsdokumente aus dem Innern der Walliser Gesellschaft betrafen die Grenzverläufe von Alpen, zu denen die kleinen Dörfer Zugang hatten. Die Dorfleute hatten selbständig bestimmt, wie die Rechtslage künftig aussehen müsse; der Notar, in der Tat von Ausserhalb der Gesellschaft, hat das von den beteiligten Verlangte nur in eine Form gebracht, die die Zeiten überdauern soll.“

Heute mag das noch als neuartig und ungewohnt erscheinen, weil vom spontanen Anliegen, eine Frage mit religiösem Hintergrund adäquat beantwortet zu sehen, nicht mehr viel übrigbleibt; man ist im Vokabular der Rechtssoziologie aber auf einem Boden, der wie kein anderer für alle an allen Orten derselbe ist. Er bietet Gewähr dafür, aufdringliche Fragen gleichzeitig ohne Gefährdung der intellektuellen Redlichkeit beantworten zu können wie auch ohne im Diskurs der Religionen gefangen bleiben zu müssen, in dem ein Hin und Her von verständigen Begriffen noch nie möglich war. Der Rechtssoziologie begegnete ich zuerst vor über dreissig Jahren in einem gelehrten Buch von Gurvitch, wo mich nur die Form der hyperempiristischen Dialektik interessierte, mit derselben schwachen, aber gefolgsamen Intensität wie die kuriose von Mao, und dann später im dicken Buch von Habermas, wo die lustige Viper der Kritischen Theorie mit gezogenen Giftzähnen darniederlag – kein Wunder, suchte Habermas danach das Gespräch mit dem Papst auf Augenhöhe.