Archiv für den Monat März, 2011

Des Schweizers News als Lyrische Suite

Freitag, 11. März 2011

Das Echo der Zeit sind die grossen Abendnachrichten des Schweizer Radios, über neun Jahre älter als ich selbst und also seit meiner Empfänglichkeit fürs Geschehen in der Nähe und noch mehr in der Ferne die ausschlaggebende Informationsquelle, zu der die Zeitungsberichte nur die Zusätze bilden, ausser sie wären umfänglicher, detaillierter und begrifflich ausgefeilter. Da die Sendung für die meisten DeutschschweizerInnen diesen Status innehat, darf sie füglich als Institution bezeichnet werden, als Relais der Meinungsbildung meistens gegen die drohende Ideologie, selten gewiss auch in ihrem Namen – ein Gebilde ohne Fallstricke aber, das die Ideologie transparent werden lässt, indem es ihre Momente zur Sprache bringt. Um so erstaunlicher, wenn diese Instanz, die über fünfzig Jahre lang nie infrage gestellt werden musste, von sich aus, seit ungefähr zwei Jahren, alles daran setzt, die gute Rhetorik, die die Transparenz verantwortet, weil ihr sich konzentriert folgen lässt, weiter zu verbessern. Man tut dies, indem man einem Regelwerk folgt, das selbst, soweit ich weiss, in den Nachrichten nie veröffentlicht worden ist. Die Korrespondentenberichte, Kern der Sendung und angeliefert aus dem nahen Berner Bundeshaus oder aus den Ländern der ganzen Welt, bleiben wie die Nachrichten selbst, denen sie als Zusatz abends hinzugefügt werden, unangetastet, ihre unmittelbare An- und Abmoderation ebenso. Da es von ihnen jeden Abend zwischen fünf und zehn grössere oder kleinere anzuordnen gibt, werden Highlights aus ihnen schon vor den Nachrichten „ausgerufen“, ihr thematischer Gehalt Stück für Stück dann nach denselben klargemacht, ganz so, wie man ein Inhaltsverzeichnis als Übersicht versteht, das der Konzentration aufs unmittelbar Kommende dienlich sein soll. Die Verrätselung der Highlights in den Spots vor den Nachrichten samt ihrer Geheimnistuerei sind schon mehr als zehn Jahre Usus; obwohl fester Bestandteil der radikalen Lyrisierung der News, gehören diese Manieren noch nicht zur Anstrengung, die jetzt im Gange ist. Denn heute werden nicht nur einzelne Themen und einzelne Beiträge als Sugus, Dessert oder frühes Nachtmümpfeli präsentiert und dem Gwunder ausgesetzt, sondern die ganze Serie der aufeinander folgenden Korrespondentenberichte selbst. Jeden Abend lauscht man mit den Ohren dem Tagwerk der Moderatorin oder des Moderators, das folgsam den Regeln einer instruierten Poetik gehorcht, die wie jede den Sinn hat, vereinzelte Sinnmomente durch Wortkonstellationen in Bilder zu transformieren, wo der begriffliche Gehalt eine Ersetzung durch farbliche Kontraste und konturierte Schärfe- und Unschärfebereiche erfährt, nicht zuletzt mit der Absicht, dem Rezipienten eine Erfahrung zu ermöglichen, die in den Worten allein und für sich selbst nicht ausdrückbar wäre. Teufel, ist das manchmal schön und sind es die Kaskaden von Wortwiederholungen und Wortvariationen ganz wundersamer Art – und in der Tat sind die Einzelworte in einem Gedankenfluss am Schwimmen, wo sie alles tun, um keine vorschnellen Urteile als quasi Vorurteile vor den Korrespondentenberichten aufkommen zu lassen. Das Bewusstsein soll frisch aufnehmen, was als Neuigkeit aus der Welt nach Bümpliz kommt. Nur meines benimmt sich eigensinnig, ist wie nach einem Tippkick auf Lyrik eingestellt und träumt den schönen Worten nach, die Konstellationen eingehen von neuester Weise, wo Sinn und Unsinn ineinander übergehen, als ob es gälte, einem musikalischen Geschehen zu folgen, dessen Logik zerbrechlicher nicht sein könnte. Oft bin ich so verstört und lyrisch verzaubert, dass mich der Bericht wie eine Ohrfeige trifft, von der ich nicht weiss, was sie soll. Klar, dass mein Eigensinn sich wehrt, zu oft und immer immer wieder an den erwähnten Stellen, endlich auch hier gegen das Ganze, sei es gegen die Intendanz der Sendung, sei es gegen das infantile Zurechtstutzen der Fähigkeiten der einzelnen ModeratorInnen. – Dieser Blogeintrag wird ungerechtfertigterweise wohl im Zusammenhang mit Alban Berg gefunden werden, richtiger wären die Namen von Selg, Fatzer, Fillinger, Huber, Jacobi, Oettli, Scholkmann, Ineichen etc., mit der Ausnahme einer Moderatorin, die sich tapfer gegen den Unsinn wehrt und da, wo man spürt, dass der Druck im Nacken zu gross wird, sich verhält wie eine Katze, die einem Pudel die Pfote gibt. Der Ruhm kann ihr leider nur dadurch zugetragen werden, indem ihr Name nicht genannt wird.

Warum ich so klug bin und Gottschalk dumm

Mittwoch, 9. März 2011

Soeben im Echo der Zeit auf Schweizer Radio vernommen, dass die Sendung mit der Maus heute 40 Jahre alt wird. Das hätte mich nicht weiter gekümmert, wenn nicht ein prominenter Akteur der Kulturindustrie, Gottschalk, den ich nur aus Zeitungsmeldungen und von Internetbildern her kenne, zuletzt im Zusammenhang eines Spiels, in dem einer zum Patienten von Nottwil gemacht wurde, in einer absonderlichen Witzigkeit behauptet, er sei so klug (oder was auch immer), weil er so oft wie möglich diese Sendung „angekuckt“ hätte. Ich habe sie im Verlauf der letzten vierzig Jahre kein einziges Mal gesehen, und diese gezeichnete Maus kenne ich nicht einmal von Bildern aus dem Internet. Was aber denkt sich wohl der Spielekandidat, wenn er heute Abend Gottschalks Statement zu hören bekommt? – In der Kulturindustrie bleibt auch der ein Grösster, der in der wirklichen Welt für sein Tun, andere zu Schafen zu machen und in Misslichkeiten zu hetzen, geächtet würde. Im Wallis riefe man ihn den Wolf mit einem Schafskopf, und er würde die dumme Klappe halten.

Fins de l’homme

Mittwoch, 9. März 2011

Im Anzeiger Region Bern von heute wurde diese letzte Wahrheit publiziert. Weiterhin Soziologie zu betreiben wäre kindisch.

Bergnamen

Mittwoch, 9. März 2011

Vor zwei Tagen den Link auf die Website von Ulrich Deuschle erhalten (Merci N. D.!), die in Zweifelsfällen hilft, den Namen eines Berges festzulegen:

http://www.udeuschle.de

Die Seite ist eher für Fortgeschrittene gedacht, die schon einige Berge kennen, da die Panoramen severseitig jedesmal neu erzeugt werden und es demzufolge lange dauern würde, um ein Rundumpanorama anzuzeigen wie es der spieleverwöhnte Mensch gerne hätte. Man legt sich also von Anfang an auf einen bestimmten Ausschnitt fest, in dem man Schwierigkeiten hat, gewisse einzelne Gipfel voneinander zu unterscheiden. Es werden auch kleinere Erhebungen angezeigt als im teuren Programm „Atlas der Schweiz“.

Als Beispiel eine eher schwierige Partie vom Pic d’Artsinol Richtung Dent Blanche, wo auch der Raz d’Arbey angezeigt wird, der auf gewissen neueren Karten fehlt und den ich öfters als Mel de la Niva positioniere, weil dieser Felsvorsprung etwas markanter dreinschaut:

Man stelle sich ein Septemberwochenende unter einem Azorenhoch vor, das Volk der Wanderarbeiter ist von den Aussenposten längst zurück und hat mit Autostitch insgesamt Hunderte von Panoramen hergestellt, die nun alle korrekt beschriftet auf den jeweiligen Websites plaziert werden sollen: werden von allen zur selben Zeit auf Deuschles Server alle Einzelnamen in einem Panoramaabbild naiv erfragt, wird er vor Mitternacht den Geist aufgeben. Sucht man mit eingeschränktem Blickwinkel nur nach wirklich Unbekanntem oder Zweifelhaftem, wird das Tool auf lange Zeit hin gute Dienste leisten können.

Esa-Pekka Salonen 3

Montag, 7. März 2011

Concert enregistré le 6 février 2011 au Théâtre du Châtelet, L’Itinéraire, Jean Derroyer, direction, oeuvres d’Esa-Pekka Salonen:

Prologue (1979). In ein frühes Skizzenbuch hineingeschaut, das der Komponist ruhig nochmals im Ernst studieren dürfte.

Floof (Songs of a Homeostatic Homer) pour soprano colorature et cinq instrumentistes (1982). An Stanislas Lem angelehnt.

Hornmusic 1 pour cor et piano (1976). Erste Komposition überhaupt, ziemlich eindrücklich. Man hat dem Komponisten daraufhin wohl öfters Platz machen müssen.

Catch and Release pour ensemble, I. Tema, II. Aria, III. Games (2006). Gefährlich nah an der Kindertrompete des Histoire du Soldat. Spätestens hier macht sich der Eindruck breit, Salonens Ästhetik verhielte sich kleptomanisch, zuerst dekonstruktiv, jetzt auf den regressiven Strawinsky schielend.

Herchet, Kupsch, Sannicandro, Romitelli

Freitag, 4. März 2011

Direkt live auf Bayern 4: Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Experimentalstudio des SWR, Leitung: Arturo Tamayo.

Jörg Herchet: „sich aufhebend“. Am Rosenkranz angereihte dreissigsekündige Bilder, zunächst austauschbar, dann ein einfältiges Schlagzeug mit Fetzen der bekannten Bilder, dann zeitlich ineinandergeschobene Schichten sowohl der Bilder wie der grundierenden Perlenschnur. Insgesamt unbeholfene Komposition, zu leichtfüssig hingeschrieben. Riesiger Applaus.

Thomas Kupsch: „Elenchus“. Schreckliche Evozierung von Alten wie Debussy, ohne solches in die Gegenwart herüberziehen zu können, Filmmusik, auch hier wieder ein dummes Schlagzeug, zunehmend schmierige Streicherflächen.

Erhellendes Gespräch in der Pause mit dem Dirigenten, das vor dem Hören der ersten Stücke dieselben besser hätte erscheinen lassen.

Valerio Sannicandro: „Forces Motrices“. Das Pausengespräch hat mich sehr gewundrig gemacht. Die ersten Klänge erscheinen aber zahm, nur wenig musikalisch treibend, altbacken. Von der Raumelektronik ist unter den Kopfhörern nur wenig zu erleben. Endlich merke ich, dass das Geschehen in den Klängen selbst geschieht, im Innern, allerdings nur sporadisch. Die Streicher spielen Schlagzeug, dann an- und abschwellender Bocksgesang: wach auf, Komponist! Feine Klänge ziehen dann durch den Raum … mehr davon! Doch das Orchester spielt asthmatisch & mühevoll. Ein Chaos, als ob man es im Kinderzimmer angeordnet hätte. Endlich reizvolle Sonderklänge, die mit dem Orchester kombiniert werden, über eine lange & gute Strecke. Raumeffekte, die man zur Kenntnis nimmt, unter den Kopfhörern aber nicht wirken: man möchte im Raum der Aufführung sein, ein Bedürfnis, das ich nur äusserst selten verspüre. Zusehr eine Mischung von guten und schwachen Eindrücken.

Fausto Romitelli: „Dead City Radio. Audiodrome“. Das beste Stück des Abends, mit einem Ausgangspunk, den es aufsplittert, zwar nicht eindeutig vorwärtstreibend, aber so, dass diese Unbestimmtheit gefangen nimmt. Beim Schluss Unwohlsein, als ob ein technisches Missgeschik geschehen wäre. Es müsste ein zweiter Satz folgen.

Zusammenkünfte

Freitag, 4. März 2011

Gewisse Gruppierungen organisieren für sich ab und zu Zusammenkünfte, wie die Fasnachtszünfte. Soeben ein paar altbekannte Gesichter nächtens in der stillen und verschneiten Stadt getroffen, im Verband, wir hätten ein Treffen. Okay dann, schnell ein paar Esswaren organisiert, Restbestände und Endstücke von italienischen Schinkensorten, um die hervorzuholen die Ladenbesitzerin viel Zeit vertrödelte, so dass es nicht verwunderte, dass auf dem Weg nach oben eine, die mich gar nicht dünkte, zu diesem Troupeau zu gehören, maulend fand, das sei es wohl gewesen und sie mache sich auf den Heimweg, dann aber doch mitkam. Oben plazierten sich alle in irgendwelche Ecken, und ich zog es vor, vor dem Essen aufzuwachen. Wenn auch die anderen das Date im Traum erledigen, wird es gut geklappt haben.

Esa-Pekka Salonen 2

Donnerstag, 3. März 2011

France Musique, live du Théâtre du Châtelet Paris, Festival Présences 2011, Portrait d’Esa-Pekka Salonen. Concert donné le 12 février 2011. Orchestre Philharmonique de Radio France, Esa-Pekka Salonen, Direction

Esa-Pekka Salonen, Gambit (1998, Rev.1999). Magnus Lindberg gewidmet, und so im Ton: gosszügig im Bläsersatz soundend, zuweilen schnaufend. Kaum irgendwo ein Ansatz zur Polyphonie, stattdessen solche zur Minimalmusic.

Witold Lutoslawski, Symphonie N°4 (1992). Dem heutigen Dirigenten vor knapp zwanzig Jahren quasi in die Hand gedrückt. Weniger eine Form, die aufgeschlüsselt werden will, als ein existentielles Sprechen ins Ableben hinein, melancholisch aber ohne Verrätselung. Ist das Leben auch nicht von Ewigkeit, kann das Ableben lange dauern und genossen werden. Der Fluss der Zeit erscheint wunderschön und ohne Bedauern.

Esa-Pekka Salonen, Giro (1981, Rev.1997). Keine uninteressante Musik, dennoch denke ich ab und zu daran, dass aus der ersten Fassung vielleicht zu viel ausgejätet worden ist. Zuweilen, mindestens anfänglich, wie eine potenzierte Ambientemusik.

Esa-Pekka Salonen, Body Language, Language, Dance, Ext. des Foreign Bodies (2001). Der Anfang ziemlich erschreckend, wie Adams. Also doch ein Zug zur Minimalmusic? Uff, der war nicht nur am Anfang des Stücks schlecht gelaunt, sondern im Verlauf gänzlich übergeschnappt: Sounds of Aerobics! Die spinnen, die Finnen: so viel Genialität und Blödsinn auf engstem Raum an so vielen Orten im Land…

Intentio obliqua ad Islamismum

Donnerstag, 3. März 2011

Philosophische Begriffe sind Übertreibungen, und hat man einmal ein Wortmonster für sich geklärt, stellt sich nicht selten eine Verwunderung darüber ein, wie Leute ein Leben lang über solche Einfachheiten sich haben die Köpfe einschlagen können. Meistens ist der Begriff bedeutsam nur als Erinnerung, als Mahnung an etwas, das dem Ungezogenen doch eigentlich selbstverständlich und klar sein sollte. Derjenige der Intentio ist äusserst kompliziert, und man tut gut daran, ihn nicht klarstellen zu wollen, wenn man nicht ein halbes Leben dafür zu investieren Lust hat. Der Begriff der Intentio obliqua ist dagegen trivial. Er ist dem der Intentio recta entgegengesetzt, der das meint, was geschieht, wenn wir etwas wörtlich oder im übertragenen Sinn ins Auge fassen. Würde man auf direkte Weise den Gegenstand weiter erforschen wollen, käme man nicht weit – er gäbe nichts von sich preis, jedenfalls nichts Wesentliches. Erkenntnis verlangt, dass man Umwege macht, Hilfsmittel herbeizieht oder im mindesten den Gegenstand etwas schräg, etwas vermittelt weiter untersucht, in einer intentio obliqua. (Möglicherweise ist die Titelkonstruktion falsch, und es müsste ein Dativ oder ein Ablativ folgen, mit „in“ oder ohne, beziehungsweise und momentan am wahrscheinlichsten ein „in“ mit Akkusativ – das dürre Latein war mir immer schon wurst.)

Vor kurzem überliess ich mich einem längeren Gedankenspiel, in dem die Intentio obliqua eine entscheidende Rolle spielte, einer Phantasie darüber, wie es wäre, wenn in einem geistesgeschichtlichen oder sozialwissenschaftlichen Proseminar, in einer ziemlich offenen Veranstaltung also, in der im Prinzip jeder jede Frage zur Diskussion stellen darf, einer mit dem Hintergrund eines rigiden Überzeugungssystems Fragen zu stellen beginnt, in denen der Leiter der Sitzung gefordert wird, weil die MitstudentInnen längst schon aufgehört haben, solche offtopic Fragen ernst zu nehmen und nunmehr darauf verzichten, eine eigene Meinung zu formulieren. Fragen auf einem bigotten Hintergrund und in einer konkretistischen Form zielen immer darauf ab, ein Urteil über eine gesellschaftliche Praxis herauszufordern, das strikt entweder nur gut oder nur schlecht sein kann, das ein vernünftiger Mensch aber niemals freiwillig zu sprechen gewillt ist, weil es die tiefverankerte Haltung der Liberalität auszuhebeln beginnt. Weil sie eine schamlose Herausforderung der Liberalität direkt darstellt, wird die seriöse Antwort darin enden, ihr Grund offenzulegen. Es macht keine Probleme, das, was ist, so zu beschreiben, dass die eigene Meinung die Beschreibung unberührt lässt, und von dem, was ist, zu dem, was es hat entstehen lassen, ist es ein Katzensprung, jedenfalls nichts, das ausserhalb des Gesellschaftszusammenhangs aufgesucht werden müsste. Das, was der herausfordernde Mensch der Diskussion in Frage stellen will, zeigt sich als blosses Moment eines Ganzen, das aus unendlich vielen Vielheiten besteht, gänzlich unüberschaubar und nicht auf den Begriff zu bringen, ausser dem der Gesellschaft tel quel. Nimmt man die mittelalterliche Unterscheidung zwischen der Intentio obliqua und der Intentio recta ernst, ernster als sie in der Disziplin der Philosophie wegen ihrer Trivialität und mangelhaften methodologischen Stringenz gewirkt hat, und vertraut man der eigenen intellektuellen Redlichkeit auch in einem unangenehmen tendenziösen Gespräch, so kann man gewiss sein, früher oder später aus dem zwanghaften Rahmen des religiösen oder kulturell konfliktuellen Diskurses mit einer durch Bigotterie aufgeladenen Begrifflichkeit heraustreten und in der überraschend spannenden der Rechtssoziologie fussfassen zu können, in der wegen der historischen Gebundenheit der beschreibbaren Vorgänge jeder Meinungszwang obsolet erscheint. Ist das erreicht, kann die Veranstaltung ihre vorgenommenen Bahnen ungestört weiter folgen.

Der aufdringliche Fromme: „Die Lehre der Wahrheit sagt, dass es schlecht sei, die Handlung xy zu vollbringen.“
Der rückhaltlose Theoretiker: „Einige tun es an einigen Orten, andere tun es nicht. Der einzelne steht nicht unter Zwang, diese Handlung zu tun oder nicht zu tun, ebenso wenig, dazu eine positive oder eine negative Meinung zu haben.“
Der aufdringliche Fromme: „Weil kein Recht herrscht, muss man es einführen.“
Der rückhaltlose Theoretiker: „Die Teile des Rechts wurden immer schon von denjenigen geschaffen, die von solchen Teilbereichen auch betroffen waren.“
Der aufdringliche Fromme: „Es braucht eine besondere Instanz, ausserhalb des Lebenszusammenhangs, die sagt, was Recht ist.“
Der rückhaltlose Theoretiker: „Die ersten Rechtsdokumente aus dem Innern der Walliser Gesellschaft betrafen die Grenzverläufe von Alpen, zu denen die kleinen Dörfer Zugang hatten. Die Dorfleute hatten selbständig bestimmt, wie die Rechtslage künftig aussehen müsse; der Notar, in der Tat von Ausserhalb der Gesellschaft, hat das von den beteiligten Verlangte nur in eine Form gebracht, die die Zeiten überdauern soll.“

Heute mag das noch als neuartig und ungewohnt erscheinen, weil vom spontanen Anliegen, eine Frage mit religiösem Hintergrund adäquat beantwortet zu sehen, nicht mehr viel übrigbleibt; man ist im Vokabular der Rechtssoziologie aber auf einem Boden, der wie kein anderer für alle an allen Orten derselbe ist. Er bietet Gewähr dafür, aufdringliche Fragen gleichzeitig ohne Gefährdung der intellektuellen Redlichkeit beantworten zu können wie auch ohne im Diskurs der Religionen gefangen bleiben zu müssen, in dem ein Hin und Her von verständigen Begriffen noch nie möglich war. Der Rechtssoziologie begegnete ich zuerst vor über dreissig Jahren in einem gelehrten Buch von Gurvitch, wo mich nur die Form der hyperempiristischen Dialektik interessierte, mit derselben schwachen, aber gefolgsamen Intensität wie die kuriose von Mao, und dann später im dicken Buch von Habermas, wo die lustige Viper der Kritischen Theorie mit gezogenen Giftzähnen darniederlag – kein Wunder, suchte Habermas danach das Gespräch mit dem Papst auf Augenhöhe.