Archive für 2. Januar 2012

Arditti: Lavista, Torres Saenz, Paredes

Montag, 2. Januar 2012

Soeben auf France Musique concert enregistré le 18 novembre à Paris, à l’Amphithéâtre de l’Opéra Bastille, dans le cadre du Festival d’Automne.

Mario Lavista (né en 1943), Reflejos de la noche pour quatuor à cordes, Quatuor Arditti. – Hübsche Signale in die Nacht hinaus, wie Leuchtkäferchen auf dem Laufsteg.

Jorge Torres Saenz (né en 1968), Por entre el aire oscura pour clarinette et quatuor à cordes, Mathieu Steffanus, clarinette, Quatuor Arditti. – Schüler von Lavista, schreibt an einer Dissertation über Deleuze: Viel Glück…! Die Musik ist mittelstark, dürfte noch verdichtet werden und im selben Zug von Boulez abdriften, zumindest im ersten Teil mit der Klarinette.

Hilda Paredes (née en 1957), Tres Canciones lunáticas (de Pedro Serrano), Jake Arditti, contre-ténor, Quatuor Arditti. – Frühe Schülerin von Lavista. Ein Kontertenor singt, die Mutter ist die Komponistin, der Vater der Primgeiger. Eine luna(z)tekische Constellación, die ich nicht durchschaue, alles zu zahm, oft wie an einem Stuhlbein festgezurrt. Üben die zu dritt am Familientisch, der Hund unter der Kellertreppe, die Katze im Sprung aus dem Fenster?

Jorge Torres Saenz (né en 1968), Cicatrices de luz, Ensemble L’Instant donné. – In allen vier Stücken bis jetzt sind nirgends rhythmische Akzente festzustellen. Die Musik ist gegenläufig zum unbedarften Bild, das man sich über Mexico macht. Oder man komponiert dort in den langen Zeiten der Siesta? Ich möchte gerne von der nachmittäglichen Zugreise träumen, aber es kommen mir nur Bilder in den Sinn aus einer Kneipe in Berlin vor dreissig Jahren, als mir Ursi sagte, ich solle gefälligst ein begeistertes Lächeln aufsetzen, denn dafür seien die zwei täppischen Mexikanischen Sänger mit den umgeseilten Guitarren angestellt, die verschwitzt ihre Schlagerstücke in die abendliche Essensrunde schmetterten.

Hilda Paredes (née en 1957), Altazor pour baryton, ensemble et électronique sur un poème de Vicente Huidobro, Guillermo Anzorena, baryton, Ensemble L’Instant donné, James Weeks, direction. – Paredes sollte die Partiturausschnitte von ihrer Website entfernen: mit diesen windigen Bilderfetzen im Kopf kann sich keine unbefangene Erwartungshaltung einstellen. Eine Somnabulität ergreift mich, gegen die ich mich nicht mehr zu wehren vermag. Trrralllali, trallalallllaa, huuuiiiii…! Schaut nicht herum, der Stockhausenbozu geht um.

Schwesterschrecken

Montag, 2. Januar 2012

Um ein Haar hätte ich auf der Rückfahrt im vollen Zug kraft meines Amtes als Vorsitzender der Freunde gefährdeter Jungschwestern vor den Schwestern des Gifts eingegriffen, als eine ältere ihrer jüngeren das extended Handy wegnehmen wollte, mit dem diese glücklich spielte, worauf ein Kampf entbrannte wie noch nie gesehen, in dem beide ohne mit einer Wimper zu zucken, ohne auf die Lippen zu beissen und ohne ein Zucken weder in der Stirn- noch in der Wangen- oder Halsgegend, den Blick während der ganzen Zeit in coolster Weise geradeaus gerichtet, wo, mir nicht sichtbar, da ich schräg hinten meinen Beobachtungsposten innehatte, eine alte Fremde sitzen musste, der frau auf keinen Fall den Anschein erwecken wollte, in Schwierigkeiten zu stecken, sich in einem unüberschaubaren, unendlichen Gemenge verfingen, in dem die vier Hände an den vier wohlgeformten langen Armen teils in einem Knäuel festzustecken drohten, teils wie in einer Trockenwinde – oder wie im Aerobickurs – rasend schnell parallel sich um die jeweils anderen drehten, die ein Dritter keineswegs noch zu unterscheiden vermochte. Endlich packte die Grosse das Gerät, drückte auf einen Displayknopf, gab es der Kleinen zurück, nahm ihr eigenes Gerätchen, das die Kleine alsogleich artig bewunderte. Was mussten die beiden auf engstem Raum einander antun, eine Kindheit und eine Jugend lang, bis ein solches Streitfeuerwerk in stummer Vollkommenheit der gierigen Meute mit Gewinn präsentiert werden konnte?

Falsche Träume

Montag, 2. Januar 2012

Seit zwei Wochen habe ich fast jede Nacht einen oder mehrere Träume, die ungewohnt nah und unvermittelt auf der Wirklichkeit aufsetzen und die, wäre das Wort nicht von der infantilen Esoterikszene in Beschlag genommen, wahrhafte Parallelwelten suggerieren (wahnhaft wären sie gleichwie zu nennen). Als Kind unter sieben Jahren machte ich mir oft einen Spass daraus, zu denken, was wäre, wenn ich an einer bestimmten Stelle statt nach rechts, zu uns, nach links, zu Grossenbachers, abgebogen wäre. Würde ich in einer anderen Welt weiterleben als in der manifesten? Die Träume in den letzten Tagen erscheinen mir wie eine Variante der Kleinkindphantasien. Eines der Ereignisse am Tag, sei es in Bezug aufs Wetter, auf ein e-Mail, auf den Haushalt oder anderes Gewöhnliches erscheint im Traum völlig identisch und wird erlebt in demjenigen zeitlichen Abstand, den das Ereignis vom Schlaf trennt, durchwegs in Kunstlicht. Ich träume seit jeher äusserst häufig von Wohnungen, aber immer enthalten diese viel Fremdes, Unbekanntes, oder es handelt sich um Mischungen aus allen Wohnungen, in denen ich einstmals hauste. Die Traumwohnung der letzten Nächte zeigt sich indes haargenau als diejenige, in der ich auch tagsüber wohne. Das könnte einem unheimlich vorkommen – aber keiner dieser Träume war beunruhigend.