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Zeit und Stein

Dienstag, 10. Januar 2012

Bekanntlich scheiterte Heidegger im frühen Hauptwerk Sein und Zeit nach dem ersten Teil, weil die epistemologischen und ideologischen Voraussetzungen ihm den Blick auf die Zeit, der dem auf das Sein hätte zu entsprechen vermögen, verstellten. Zumindest epistemologisch leben wir in einer gänzlich anderen Welt, von der ein schweres Buch ein formidables Zeugnis abliefert:

Kurt Stüwe und Ruedi Homberger, Die Geologie der Alpen aus der Luft, Weishaupt Verlag Gnas, Zweite Auflage 2011.

Der stürmische Applaus in den Volks- und Gefolgsrezensionen provoziert nicht wenig dazu, Negatives der Publikation zunächst einmal nicht im Verborgenen zu halten; das Werk ist genügend stark, diese Punkte im Verlaufe des Umgangs mit ihm als Bagatellen erscheinen zu lassen. Der Pilot Homberger fotografierte, „hauptsächlich“, mit einer Canon Mark II und deren Kitobjektiv 24-105 mm. Einige Bilder sind wegen der Objektivschwäche nicht optimal und enthalten in Randbereichen eine Unschärfe, die bei einem so gross angelegten – und grossartig durchgeführten – Projekt unverzeihlich scheint, wenn sie teilweise auch Druckproblemen zugeschrieben werden muss (völlig abgestürzt Seite 49, als wäre der Briançonnais-Mittelkontinent noch in voller Fahrt). Zu bemängeln sind weitere Fehler, die möglicherweise vom Druck herrühren, etwa eine Unschärfe in der Bildmitte, also am Druckseitenrand und unabhängig vom Objektiv, auf der Doppelseite 178f mit einem irritierenden Farbstich auf der linken Gesamtseite (dieses Bild der Zugspitze ist im übrigen eines derjenigen, das einen im Ungewissen hält, ob es sich um ein Panorama handelt oder um einen Bildausschnitt, dem es schlussendlich an Auflösung mangelt), dann auf einigen Seiten am oberen Bildrand viele weisse Dreckpunkte wie früher Staub auf Dias oder Negativfilmen. Die Panoramen sind selbstredend einzigartig (mein Favorit, den ich schon bei der Übergabe des Buchs vor vier Tagen entdeckte, zeigt den Arsch des Wallis, Seiten 56f), kämpfen aber mit gewissen Tücken des Zusammensetzens: der Walensee Seite 254 hat eine westliche und eine östliche Farbhälfte, dasselbe Panorama am rechten unteren Rand zwei Löcher wegen eines unkontrollierten Bildschnitts. Der Geologe Stüwe benutzt ein paar Bergnamen, die mich befremden und die in einer zweiten Auflage hätten korrigiert werden müssen. Ein paar Male schreibt er der Dent de Morcles in Einzahl und männlich, ebenso der Dent du Midi, auch der Gummfluh (234), ebenso als Flüchtigkeitsfehler sind vielleicht erwähnenswert Zwischenbergen statt Zwischbergen, Anzeind statt Anzeinde, Salier statt Sallière und, täppisch, Schigebiet statt Skigebiet. Natürlich bin ich jedem Gutfreund, der mit dem Französischen kämpft – aber wenn einer an Universitäten die Ausbildung mitbestimmt, sollte er sich klarmachen, dass die eigene Verwirrtheit auch die zukünftige sprachlich-begriffliche in der allgemeinen Gesellschaft weiter begünstigt statt aufzuklären. In Verhältnissen, wo jeder Erstsemestrige einer Bergwissenschaft selbstgemachte Bilder ins Netz stellt und aufs Geratewohl, also falsch kommentiert, dünkt mich das nicht mehr verantwortbar.

Der Laie stolpert über viele Begriffe und Namen für die Zeitalter, die Prozesse, die Schichten, die Gesteine mitsamt ihren chemischen Komponenten. Doch schon nach wenigen Seiten fühlt man sich wohl und geborgen, da ihre Korrespondenz mit den Bildern eine vertrauensbildende Sicherheit auslöst nicht ungleich in der Musik, in der die Einzelereignisse auch nicht im Detail bewusst registriert sein müssen, um ihrem Verhältnis zu den Strukturgebilden im eigentlichen musikalischen Verlauf folgen zu können. Wo sich bezüglich der geologischen Begriffe und Namen ein Interesse konkreter ausbildet, gibt das Internet die nötige weiterführende Auskunft. Es dünkt mich ein grosser Vorzug dieses Werks, dass es dem allgemeinen Hang zur Didaktisierung nur im Projektziel überhaupt nachgegeben hat, nicht aber im beschreibenden Begriffszusammenhang. Auch wenn sich einer mit gewissen geografischen Gebieten noch nie abgegeben hat, kann er den brüchigen Traktat in einem Zug und vollständig vom Anfang her bis zum Schluss durchlesen, weil die Buchereignisse nicht konkretistisch am Einzelnen kleben, sondern dem Neugierigen peu à peu Einblick und ein Recht auf Einsicht in theoretische Zusammenhänge gewähren, die sonst nicht nur abstrakt, sondern bis auf ein Weiteres gänzlich leer und unbeachtet geblieben wären. Mir scheint, das Buch würde alle Plätze der Alpen, die ich kenne, fotografisch und analytisch zuvorkommend präsentieren – ausser einem, dessen Fehlen mir aufstösst: auf dem Gandhorn im Binntal hat man ein Panorama um sich herum, dessen geologische Partien vielfältiger nicht sein könnten. Leider fehlen mir auch nach der Kenntnisnahme dieses umfassenden Geologiebrockens die nötigen begrifflichen Materialien, die mir diese wundersame Gegend, wenigstens gegen Westen hin, verständlich machen würden.

Ich bin keineswegs darüber erstaunt, dass die geologische Präsentation der Walliser Alpen aus der Luft zur ästhetischen Analyse ihrer Bergformen nichts beiträgt. Das einzige bislang übersehene Gruppenpaar, das sich neu für mich wechselseitig gewissermassen spiegelt, sind der Monte Rosa und die Mischabel auf Seiten 70f. Ihre Gesteinsformationen gehören aber zwei verschiedenen Komplexen an, die Mischabel ist Teil des schon erwähnten Briançonnais-Mittelkontinents, der Monte Rosa ein Haufen subpenninischer Gneise.

Zu lernen wäre, wie die feurige Mutter Erde immer schon nur ein dünnes Mäntelchen umgezogen hatte, die Asthenosphäre, auf der ihr äusseres steiniges Kleid aufliegt, als Lithosphäre im Gesamten, in sich aufgeteilt in diverse kontinentale und ozeanische Bereiche: die kontinentalen eher weich, die ozeanischen eher hart. Durch diese einfache Differenz stehen sie zueinander in einem prozessualen Verhältnis, das weiter dadurch angetrieben wird, dass ihr Untergrund gleichermassen Spannungen in ihnen selbst erzeugen kann, wie sie simpel die Vulkane auch heute noch zeigen. So kommt es, dass die Einheiten in verschiedenen Zeitaltern verschieden gross und an verschiedenen Orten der Erde positioniert sein können. Kontinente wie Ozeane können sich dehnen und zusammenziehen, senken oder heben, in der Tat so, als ob sie den Prozess selbst auslösen würden. Die Folgen solcher innerer Prozesse sind die Bildung von Meeren und ihr Verschwinden. Da sie allesamt auf der asthenosphärischen Unterlage nicht ein für allemal verankert sind, können sie aufeinander zutreiben, direkt oder seitlich, unter dem einen abtauchen, einen anderen unter sich herabstossen. Aufgetürmte Gesteinsformationen zerfallen in Erosionsgesteine, die in ein tiefes oder in ein flaches Meer abgelagert werden. Alle Gesteine, abgelagerte oder kontinentale, können in Verhältnisse geraten, die aus grossen oder kleinen Drucken mit grosser oder kleiner Hitze bestehen: sie erfahren eine Metamorphose und in derselben chemische Zusätze, Varianten und Defizite – sie werden metamorph. Bestimmt man die solcherart entstandenen Schichten als Decken mit unterschiedlicher Mächtigkeit, versteht man leicht, wie solche Einheiten kompakt über grosse Distanzen verschoben, gefaltet, aufgetürmt, zusammengestaucht, hinuntergestossen, aufgetrennt und zerstückelt werden können, so dass Gesteine, die zeitlich aus gleichförmigen Verhältnissen stammen, geografisch weit entfernt voneinander, auf verschiedenen Höhen und über oder unter widersprüchlichen „Decken“ gefunden werden können.

Es erstaunt, dass GeologInnen so wenig Interesse an der Musik von Pierre Boulez zeigen, die so viel mit dem Konzept der geologischen Decken gemein hat. Wagner definierte seine eigene Ästhetik als Kunst des Übergangs, Adorno diejenige Bergs als Kunst des kleinsten Übergangs. Die Musik besteht aus Komplexen, und es gibt die Übergänge von einem zum anderen. Diese Komplexe sind bei Boulez einem inneren Prozess ausgesetzt, der dem der geologischen Geschichte verblüffend stark ähnelt. Für die nötige Erweiterung des epistemologischen Horizonts heute wären gerade diejenigen Werke zu empfehlen, die schon im Titel eine Affinität zur Geologie vermuten lassen, Le Marteau sans Maître und, insbesondere in der neuesten Fassung, wie sie 2011 mehrmals zu hören war, Pli selon Pli. Auch ohne die Strukturblöcke aus der Partitur eines Werks herauszulesen oder gar ihren Zusammenhang analysiert zu haben, hört man, und das macht sowohl die Kunst der Werke von Boulez aus wie sie sie von Wagner und Berg abhebt, wie die Einzelmomente von einem Ort herkommen, der weit im Vergangenen liegen kann, auf Komplexe verweisen, die alsogleich aufscheinen und in denen sie verschwinden, um in einer ganz anderen Gestalt und in einer anderen zeitlichen Ordnung wieder auf sich aufmerksam zu machen. Die geologische Begrifflichkeit, die Einzelkomplexe – Gebirge – und die Alpen insgesamt analytisch zugänglich macht, kann auch beim Hören der Musik innerlich aktiviert werden. Trotz der gegenteiligen Versicherungen von Lévi-Strauss hatte der ethnologische Strukturalismus eine Tendenz zur Philosophie, in der eine Urstruktur die Momente aller Strukturen dirigiert, statt die Möglichkeit offen zu halten, dass einzelne Strukturen sich eigensinnig verhalten und kommunikativ nicht weiter integrier- und reduzierbar sind. Gerade solches wird mit dem geologischen Begriff der Decke, der metaphorisch den der Schicht ablöst, verständlich: dass ein äusserst komplexes Gebilde, wie die Alpen eines sind und die Stücke von Pierre Boulez immer wieder, seine Momente nicht auf eine einzelne Struktur – einen Kontinenten – reduzieren können muss, um lesbar und verständlich bleiben zu können, sondern von verschiedenen und unterschiedlichen, ja widersprüchlichen, zehren kann. Man gerät dann von der analytischen Rekonstruktion von Strukturen zu einer von Zeiten. Mich dünkt, bei Boulez lernt man das immer schon während des Hörgenusses und in den Alpen beim Spazieren: beim variablen Lesen der Formgebilde aller sichtbaren Berge.

Zusatz: Die Umstellung im Titel, der Sein und Zeit nachäfft, ist bedeutungslos. Ich machte sie, um nicht mit einem Buchtitel zu kollidieren, dessen Inhalt ich nicht kenne. Auch auf Heideggers späte kleine Schrift Zeit und Sein wird nicht angespielt, da ich sie nicht mehr präsent habe.