Archiv für den 'Theorie'-Themenbereich

Redlichkeit und Zeit

Donnerstag, 29. Juli 2010

Nicht selten geschieht es im Bloggen, dem neuen Medium der spontanen und auf blosse Wahrhaftigkeit verpflichteten Entäusserung, dass das Fundament der Wahrheit in Schieflage gerät, die Redlichkeit. Nicht weil das Subjekt sich nicht unter Kontrolle hätte und ständig dazu verleitet wäre, Behauptungen zu posten, die einer objektiven Kontrolle nicht standhalten würden, sondern weil ein Blogeintrag gut daran tut, die Einheitlichkeit einer Intention – eines Themas – nicht zu stören. Aus der Sicht eines Einzelnen wird der Zusammenhang eines Vorgangs oder eines theoretischen Moments beschrieben, in dem eine neue Qualität oder ein neues Besonderes aufscheinen soll, das objektiv als neue Behauptung dasteht. Indem das Format des Blogs den Druck der Zeit in der Weise akzeptiert, dass es für sein Schreiben immer besser ist, auch dann erstellt und vervollständigt – und also veröffentlicht – zu werden, wenn seine einzelnen Elemente noch nicht bis ins Letzte abgeklärt worden sind, ohne den Rahmen der Idee einer vorläufigen Notiz ganz zu zerstören, muss immer damit gerechnet werden, dass zwischen der Zeit der Erstellung und derjenigen der Lektüre entscheidende Vorgänge passiert sein mögen, die dem Gehalt der Behauptung und der Richtung der Intention widersprechen. Will ein einzelner Blogeintrag lesbar bleiben, darf er nicht mit zu vielen Zusätzen verunstaltet werden; weiss aber der Schreibende, dass schon während der Niederschrift oder in unmittelbarem Zeitraum danach Besonderes im vorgestellten Zusammenhang Einsprache erhebt, muss er abwägen, der heiligen Redlichkeit zuliebe alles zurückzuziehen oder das in seiner Intention so schnell Ruinierte stehen zu lassen, weil es trotz des Mangelhaften immer noch zu viele Momente der Dringlichkeit enthält, als dass diese weiterhin im Verborgenen gehalten bleiben sollten. Das Schreiben im Internet eröffnet nicht nur sehr schnelle neue Formen der Aufzeichnung, sondern verlangt auch neue Formen der Lektüre, die die Anforderungen der Redlichkeit insoweit auflockern, dass sie immer schon damit rechnen, dass der Bloggende etwas Zusätzliches zu sagen hätte. – Das Ranzenpfeifen gestern von acht Uhr abends bis ein Uhr morgens war doch zu stark, als dass auf es nicht hätte reagiert werden müssen, in irgendeiner Form.

Es zündet, zündet nicht

Donnerstag, 13. Mai 2010

In letzter Zeit drängt sich mir eine Bewertungsweise von Arbeiten, Werken und Gesamtwerken in den Vordergrund, die mich auch dann nötig und stimmig dünkt, wenn ihre mögliche Negativität nicht im geringsten mit einer Negativität ihres Gegenstandes zu korrespondieren braucht. Prominente Vertreter von Werken, die mir nicht zu zünden scheinen, obwohl sie nicht mit negativer Kritik zu konfrontieren wären, sind Schumann, Kafka, Benjamin, Beckett, Kurtag, Holliger. Obwohl sie alle Passagen, Werkteile, Einzelwerke und womöglich ganze Werkgruppen verfasst haben, die mich nach wie vor packen und die geschichtlich unverzichtbar sind, haben diese etwas in sich aufgenommen, nicht selten einen Typus von Subjektivität, von dem ich nicht mehr zwingend verspüre, dass ich unter dem Druck bestimmter Fragen oder existenzieller Stimmungen bei ihnen nachlesen oder nachhören sollte. Ihre historische und theoretische Absicherung im ganzen erscheint prekär – als müsste man sich bei ihnen unnötigerweise zusätzlich anstrengen, weil sie sich nur dem Schein nach den Fragen der Zeit stellen, um ungeschollten den eigenen, zu intimen, nachzugeben.

Dass etwas nicht recht zünden will, ist nicht nur Effekt einer schnöden Attitüde gegen aussen, sondern legt sich einem auch in der Selbstkritik nahe. Der Vollzug der begriffslosen musikalischen Analyse der Walliser Alpen reist mir fast den Kopf ab, weil für jedes Bild, das in einem abgesteckten Zusammenhang stehen soll, erinnerungsmässig das ganze riesengrosse Archiv abgefragt werden muss, jeder Bergteil von jedem möglichen Standort aus. Wegen eines einzigen Bildes, La Dent du Catogne, musste die Arbeit für drei Monate ausgesetzt werden (wo dann die Vögel am Fenster wie jeden Winter in den Mittelpunkt traten), weil ich zwar wusste, dass es da wäre, aber erst nach dieser langen Zeit bemerkte, dass ich es zwar immer vor Augen hatte und tatsächlich auch mehrmals anschaute, die gesuchte Felsplatte, die einen Viertel des Bildes abdeckt, aber einfach nicht wahrzunehmen vermochte. Die Realisation verlangt äusserste Anstrengung in äusserster Anspannung, nicht selten auch ein peinliches Unterdrücken von Gebrüll, wenn sich ein bestimmtes Bild nicht finden lässt. Und trotz der Qualen, die im Einzelfall die Lösung immer finden lassen, stehen die Seiten, die nun neu am Wachsen sind, weil La Dent du Catogne vorgestern Nacht endlich wieder erschienen war, für mich da ganz ohne zu zünden. Sie gefallen mir und dünken mich gefällig für ein grösseres Publikum, weil sie in der Tat das ganze Wallis in neuen Zusammenhängen verfolgen lassen und auch die Kräfte des Zusammenhangs spürbar machen, genau so, wie ich es mir über Jahre hin zu phantasieren wagte. Aber niemals sind sie wirklich unbelästigt von der Frage, worin die Erkenntnis im einzelnen oder ganzen zu bestimmen wäre. Als ob zu hoch gepokert worden wäre mit der Behauptung, man müsste das Wallis begreifen wie die Partitur eines musikalischen Werkes des vorwärts treibenden 20. Jahrhunderts, sagen sie zu allem immer auch: und jetzt? Wenn die Antwort in der Analyse in keinem Moment zwingend nachvollziehbar wird und die unanständige Frage aus Not wiederkehrt, fallen die Bildfassaden wie ein Kartenhaus zusammen, hinter dem nichts steht als die öde Fläche, auf der die Dramen der Gesellschaft ihre gewöhnlichen Kapriolen schlagen. Man darf aber nicht davon abrücken, ernste Dinge zu tun, die an den Zusammenhang von Existenz und Politik mahnen, um ein Ende der Despotien gegen die Natur und die Lebenden möglich – und zwingend – erscheinen zu lassen.

Teleherrschaft

Dienstag, 13. April 2010

Nach dem Zerhauen der regulierenden Taue der sogenannten sozialen Marktwirtschaft in den 1980er Jahren kommt es zu Veränderungen, von denen die einen der Tendenz nach global stattfinden und die anderen so in die Herrschaftsverhältnisse eingreifen, dass in ihnen die Unterdrücker dazustehen scheinen ganz ohne Unterdrückte. Einige Grossbanken nutzen die neuen Vorgaben dazu, alle Hindernisse der Moral über Bord zu werfen, um das reine Geldhecken zum Leitbild zu machen: die absolute Spekulation realisiert sich dann, wenn die Restmomente des Realen von ihr ausgeblendet werden. Die Kräfte, die sich daraufhin einstellen, sind immens. Die real wirtschaftenden Menschen erfahren sie wie der gewöhnliche Mensch in Afrika die ihn niederhaltende Macht seit dem Kolonialismus, mit einem Sitz immer schon ganz anderswo. Sie herrscht abgetrennt von den Instanzen der Verwaltung, die als demokratische zum Leben der Gesellschaft nach wie vor fruchtbare Beziehungen pflegt. Doch gegen die Herrschaft, die sie dem Wort nach repräsentiert, wirkt sie nur noch als Bollwerk, als ein Zweckbau, der sie absichert, indem er sie unsichtbar zu halten scheint. Dass man an Afrika nicht mehr denkt und Afrika vergessen hat, ist der eigentliche Sündenfall Euroamerikas, und es gibt keinen Zweifel daran, dass viele aus diesem Grund, der ihnen nicht ins Bewusstsein rückt, an einem schlechten Gewissen leiden. Fürs gesellschaftliche Bewusstsein ebenso gravierend ist aber die Ausblendung der historischen Tatsache, dass das Machtverhältnis in den nördlichen Ländern zu demselben geworden ist, das dort seit jenem Zeitpunkt herrscht, als seine Geschichte von aussen geschrieben wurde und nicht aufhört, von da aus der Fremde in Gang gehalten zu werden. Nicht im geringsten liegt die Lösung an einem bestimmten Ort im Parteienspektrum begraben, auf den die anderen negativ sich auszurichten hätten. Alle Parteien, die behaupten, in der Tagespolitik als Akteure mitzuwirken, müssen gleichermassen signalisieren, diese Umstände verändern zu wollen. Gut möglich, dass das Vertragswerk nicht in den einzelnen Staaten, sondern in einer globalen Instanz zu leisten ist, von wo sie es für sich selbst mit lokalen Anpassungen beziehen werden.

www.unctad.org

Zeitliche Horizontverengung

Donnerstag, 1. April 2010

Die chronische Beschleunigung des Informationsflusses in der Kulturindustrie hat unter anderem zur Folge, dass die jeweils nachkommende Generation unter der Schwierigkeit leidet, historisch-gesellschaftliche Phänomene und Komplexe nur noch als Gegebenheiten betrachten zu können, denen eine Zeit der Entstehung in grossem Masse abgeht. Das wäre weniger einem subjektiven Desinteresse als vielmehr der Art und Weise zuzuschreiben, wie man sich in der Flut der Medieninformationen zu orientieren hat: permanent das abwehrend, was sowohl thematisch wie zeitlich ungeordnet als Zusatz oder via eines weiterführenden Links auch noch aufgenommen werden könnte. Die Abwehrhaltung, die vorausgesetzt wird, wenn überhaupt mit einer gewissen Konzentration gelesen werden soll, hat den unerwünschten Effekt, zu Vieles vom Vorlauf des Ereignisses auszublenden, aus dem es resultierte. Im Alter wird man folglich immer häufiger dazu gedrängt, von der Geschichte zu erzählen statt wie gewohnt die strukturellen Zusammenhänge aufzuzeigen. Das macht müde, weil damit die Idee der objektiven Erkenntnis angegriffen wird zugunsten der archaischen von der Lehre.

Poes Pendel und Glutwände zwischen 3 und 4

Dienstag, 16. Februar 2010

Edgar Allan Poe ist ein Autor, mit dem man früh in Kontakt gerät. Seine Geschichten enthalten viel der existentiellen Spannungen, die das Leben in der Pubertät ausfüllen. An die erste Lektüre kann ich mich nicht mehr erinnern, die zweite war ein antiquarisch erstandenes Buch, die letzte folgte 1980 der Gesamtausgabe der Übersetzer Arno Schmidt und Hans Wollschläger. Obwohl das Initialverhältnis nie verschwunden war, in dem dieser Autor nur zwecks Entkrampfung durch Spannung und als veritable Unterhaltung konsumiert worden war, erfahren seine Texte sporadisch neue Schübe der Bewunderung, und die Lektüre des Vierzigjährigen von Zettels Traum machte es zum sträflichen Widersinn, ihn als blossen frühen Zulieferer der Kulturindustrie abzuwehren. Dieses Zusätzliche indes, das uns Schmidt durch den physischen Gewaltakt von Zettels Traum einprügelte, den ich als Buch heutzutage nicht einmal aus einem ebenerdigen Regal mehr herausnehmen und auf dem Boden aufschlagen könnte, hat in der objektiven Geschichte der Theorie keine Entsprechungen, die über Derridas in der Postkarte* veröffentlichte kühne, aber um nichts weniger sorgfältige (und mit voller Wucht einer gesellschaftlichen Institution ignorierte) Auseinandersetzung mit Lacans 1955 verfassten Spielereien über den Entwendeten Brief hinausgingen, in denen Poes Text und die Geschichte seiner Lektüre so entstellt worden waren, bis Lacan an der Spitze eines philosophischen Rechtfertigungssystems zu stehen kam. Die historische Achtung, die Poe geniesst, hat etwas Anrüchiges wie der Achtungserfolg, der einem einmal gezollt wird und von dem in Erinnerung bleibt, dass er nur ein einziges Mal geschehen war. Auf diese Weise dünkt es mich, könne der Geschichte mit dem Titel Das Pendel von heute aus ein Sinn untergeschoben werden, der in gewisser anrüchiger Beschränktheit, die zu bestimmen ist, Allgemeinheit und sogar eine gewisse theoretische Kraft beanspruchen dürfe.

Poes Geschichte Der Entwendete Brief wurde vor Lacan schon von Marie Bonaparte in ihrer 1933 veröffentlichten Poe-Studie wertgeschätzt, die nicht ohne Stolz einen Brief von Freud an sie selbst und über sie wiedergibt, wo er die Wichtigkeit der Lebensereignisse fürs Verständnis der Texte Poes hervorhebt. Der erdichtete Brief an die französische Königin gilt sowohl als Faktor der Macht wie als ihr Stolperstein; unter ihren Augen und denen des Königs wird er von einem Minister entwendet, um ihn per Gelegenheit als Druckmittel einzusetzen. Die Polizei untersucht dessen Haus, ohne den Brief zu finden. Nur der Psychoanalytiker-Detektiv Dupin stöbert ihn auf, ersetzt ihn, den offen daliegenden, durch einen anderen, der seinerseits später den Minister in Verlegenheit setzen wird, und bringt ihn der Königin als deren Wahrheit zurück. Derrida, ohne Lehranalyse, aber bei Abfassung des Textes schon knapp zwanzig Jahre mit einer praktizierenden Psychoanalytikerin verheiratet, zeigt, wie Lacan nicht nur Poes materiell geschichtlichen und individuellen Arbeits- und Lebenszusammenhang gleichwie die Rezeption verschweigt, sondern auch die Geschichte selbst entstellen muss, um dorthin zu kommen, wo er von allem Anfang an hingelangen will: Der Detektiv-Analytiker hat immer schon die Wahrheit, wenn der Patient in die Analyse kommt, er bringt ihm oder ihr auf jeden Fall und mit Garantie die Wahrheit, sie kommt immer an. Indem Derrida das von Lacan Ausgeklammerte, die effektiven Gegebenheiten, neu ins Spiel bringt, verliert das Konzept von Wahrheit jede Möglichkeit, in einem Begriff wie dem des Phallus oder der Kastration verdinglicht zu werden. Der ontologische Status des Briefs in Poes Geschichte mag der der Kastration sein, die Lacan hypostasiert; Derrida hält ihn so offen wie möglich, um dank ihm von der Wahrheit weiterhin sprechen zu können, ohne ihr einen seienden Wert unterstellen zu müssen. Sie steht nun da als Ambiguität ohne fixen Inhalt, und sei er noch so formal ausgedünnt. Wie die Meute sich zur Phantasterei aufpeitscht und es in ihren Augen niemals geschehen sollte, dass sich die Philosophie als immer schon von jedem im Alltag vollzogenes Leben zeigte – dem Ambiguen gegenüber offen oder verbiestert – hat dieser grosse Text nicht nur kein Verständnis gefunden, sondern Derrida als Philosophen der Ambiguität in den Institutionen der Psychoanalyse anzuerkennen a forteriori misskreditiert.

Als ein anderes Sinnbild erscheint mir jeden Morgen zwischen drei und vier Uhr Poes Geschichte Die Grube und das Pendel, die ich das letzte Mal vor dreissig Jahren gelesen hatte. Es ist nichts im Ablauf der Geschichte, das, vermittelt durch Theorie, zu denken gäbe, sondern es sind unvermittelt zwei ihrer mehreren Bilder, die das körperliche Liegen kurz nach dem Erwachen widerspiegeln, ohne dass etwas Weiteres im Kopf geschehen würde als ihre ständige punktuelle Erinnerung, seit drei Monaten ungefähr, als gewisse Symptome sich im Gastgebilde zwischen linkem Bein und Rücken, das medizinisch erst 2006 aktenkundig gemacht wurde (aber gemäss Indizien immer schon da war), vom Gewebe und dessen Nervenbahnen in den Knochenbau zu verschieben begannen, wo sie das ganze Gerüst nun vom Oberschenkel links bis – je nach Lage – zur Schulter rechts spürbar machen, einerseits als die Wände selbst, die in der Geschichte glühend auf den Erzählenden von allen Seiten her langsam heranrücken, andererseits, in einer Art Deutung oder wenigstens Verdeutlichung, als das Pendel, das von oben hin- und herschwingend langsam herabgelassen wird und irgendeinmal den Körper hart aufschneiden wird: die näherrückenden Wände als die eigentlichen, eigenen Körperteile nach langem Liegen, das Pendel als zusätzliche, verschobene Vorstellung und allgemeines Bild der Drohung, das jeder körperlich Gemarterte vom Geschehen machen kann und das den empirischen Vorgängen immer widerspricht, indem es anders ist als sie in ihrer wirklichen Gegebenheit. In meinem individuellen Erleben erfahre ich es als Deutung des ersten, das ich notiere, ohne dass es von diesem sagen könnte, wie es beschaffen sei, wirklich gefährlich – maligne – oder bloss phantasiert gefährlich. Das Schauerliche und Phantasierte ist einmal in der Geschichte, einmal, ohne festgelegten Vorrang, im Phantasierenden. Dass die ganze Geschichte aus einer Serie besteht, deren Teile und Zuordnungen im Gedächtnis verworren erinnert werden, scheint nicht wenig typisch für Alpträume als Echo wirklich erlebter traumatischer Ereignisse, deren Negativität stetig wiederkehrt. Das Lebensgefühl des Kindes nach Operationen war nie anders als dasjenige des Alten vor ihnen, die es doch bessern sollten.

Das Gebilde, das zu denken gibt, ist weder die Geschichte Poes noch das feste als Zusätzliches im Körper, sondern dank diesem der Zwang, an jene zu denken, als ob sie etwas übers Allgemeine heute auszusprechen imstande wäre, als ob sie, analog des Briefes für die Epoche der Metaphysik, ein exemplarisches Stück für die Epoche der Kulturindustrie wäre – als ob ihrer zu gedenken schon bedeuten würde, das Makelhafte der kulturindustriellen Ungebilde in ihr bestimmen zu können. Die Notwendigkeit in diesem Zwanghaften wird kaum genügen, um von einem theoretischen Erkenntnisinteresse sprechen zu können, das eine Deutung des Bildes vom Pendel und von den stetig heranrückenden glühenden Wänden verständlich machen würde. Von einem medizinisch-therapeutischen, das die Ängste beruhigen sollte, kann gleichwenig gesprochen werden wie tel quel von einem praktischen oder emanzipatorischen, das die Voraussetzungen ausser Kraft setzen sollte. Trotzdem lässt sich die Kritik der Deutung einer Geschichte von Poe, gleichzeitig die Motivierung dieser Notiz nur begreifen, wenn ein Erkenntnisinteresse deutlich gemacht wird. Der Interpret einer Schauergeschichte, die er auf eigene Gegebenheiten bezieht, tut gut daran, jedes Lamento radikal infrage zu stellen und als schlechte Selbststilisierung auf Distanz zu halten. Moralisch-praktische Gebote lassen es als tunlich erscheinen, dass einer die Besonderheit von fehlbaren Gegebenheiten in ihrer Intention prüft und so ihr alsdann eine Wendung verpasst, damit sie vom Individuellen absieht und das gänzlich gesellschaftlich Aktuelle in ihr zum Thema zu machen beginnt. Die Besonderheit liegt im Privileg, das, was der Gesellschaft nur abstrakt droht, konkret zu erfahren. In solcher Erfahrung muss es zur Norm werden, das Schauerliche zu bejahen, um seinen Gehalt, empirisch getrennt von der individuellen Existenz, in den gesamtgesellschaftlichen Tendenzen deutlich zu machen. Das wird dann möglich, wenn die Brutalovideos so in einem Diskurs gedeutet werden, bis ihr Wahres kenntlich wird: dass sie die Lebenssicht der Behinderten und der Invaliden zum Ausdruck bringen und nichts anderes sind als deren eigene und eigentliche Repräsentationen. Auch wenn ich zwischen Computergames und Videos nicht unterscheiden kann (das letzte Computergame, das ich selbst gespielt hatte, war vor zwanzig Jahren ein sogenannter Flugsimulator auf einem Ataricomputer), dünkt es mich eindeutig, dass ihre Hersteller die reale Utopie verfolgen, die ganze Welt zu einer von Behinderten zu machen. Es gehört zur Aufgabe dieser Gruppe, den Status der Helden und Heldinnen, der sich in ihnen artikuliert, für sich in Anspruch zu nehmen und der Allgemeinheit, die aus den reinen und absoluten Konsumenten nicht nur dieser Spiele, sondern der Kulturindustrie überhaupt besteht, deutlich zu machen, dass ihr Ideal immer schon real war und von jenen, den Invaliden, gelebt worden war. Möglicherweise ist da, im Lamentoverbot, ein kleiner Murks, ein Dreh zuviel, und von Wahrheit sprechen kann man im Kaputten nicht. Aber der moralischen Lüge, die in den Spielen steckt, lässt sich immerhin, praktisch, eine Irritation verpassen; auf sie sich zu berufen wird letztlich widersinnig werden. Der Mist, in dem die unglücklichen Bewusstseine, die schwachen Iche der Spielenden, ihre Ideale bewundern, wird auf solche Weise in einem gesellschaftlichen Diskurs ausgekarrt, dass die phantasierten Ideale als das dastehen, was verdrängt wird, das real Kaputte und Gescheiterte.

Derridas Auslöser sind Textdeutungen, die sich darin verstiegen haben, durch falsche Tricks metaphysische Legitimation in Anspruch zu nehmen, um die Vorgehen in ihren Objekten, allgemein und absolut, zu verstehen. Adornos Auslöser sind Gebilde, in denen die Reste ihrer Unwahrheit begrifflich zu explizieren versucht werden, damit sie in neueren, von neuem wahren Zusammensetzungen zu neuen Gebilden führen mögen, letztlich zu neuen ästhetischen Werken oder neuen gesellschaftlichen Verhältnissen. Der Zwang zur Pendelphantasie scheint mir präzise ein solches zu sein, empirisch und roh, das tagtäglich zwischen drei und vier Uhr zum Auslöser an die Erinnerung an Poes Geschichte wird. Wir haben sie alle in uns, die Auslöser, die uns zu denken geben. Dass sie in Texten wären oder in Gebilden der Kunst oder Gesellschaftsphantasien, ist nur eine ihrer Besonderheit: alle Wahrheitsphantasien haben auch zu allen einzelnen Körpern Bezüge, in denen sie geschehen. In den Tod abgedrängt zu werden, ohne dass das schuldige Subjekt sich zeigen müsste (die Henker in Poes Pendelgeschichte machen zwar Arrangements, vollziehen aber nicht wirklich eigenhändig das Todesurteil: der Gemarterte soll selbst in die Grube, in den endlos tiefen Schacht hinunterspringen), ist ein Bild, das Allgemeinheit beansprucht. Wir alle sind, in einer anrüchigen Allgemeinheit, die das effektiv Kranke nicht vom Gesunden mehr zu trennen braucht, weil sie mit dieser Unsicherheit umgehen kann, in dieser Situation und erwarten den Tod, aber immer wieder stehen wir ausserhalb dieser Szene, ausserhalb der Anordnung des Pendels und der glühenden Schiebewände, wohlwissend, dass wir nicht in der Distanz zum Unrecht ausserhalb bleiben können, sondern zurück wieder müssen auf den Tisch, angebunden, voller Angst und trotzdem genau wissend, dass wir – immer – auch ausserhalb sein können und – denkend – davon und zu Besserem rennen könnten. Wie etwa zur Musik.

* Zur Abfassung dieser intimen Notiz wurde nur Derridas Aufsatz Der Facteur der Wahrheit in der Zweiten Lieferung der Postkarte (von Sokrates bis an Freud und jenseits), Berlin 1987 wiedergelesen (Übersetzung Hans-Joachim Metzger; Originaltext 1975) sowie der Inhalt der Poegeschichte Das Pendel nachgegoogelt gleichwie Stellen, die Neueres zu Poe-Schmidt-Lacan-Derrida beitragen könnten.

Makros von wilden Vögeln im Kunstlicht

Samstag, 30. Januar 2010

Im Januar 2010 wurden viele Male Aufnahmen von Vögeln am Fenstersims gemacht, immer mit der Olympus E-620 samt Makroobjektiv 50 mm aus einer Distanz kleiner als 70 cm, jedesmal aber mit anderen Einstellungen beziehungsweise unterschiedlichen Hilfslichtern: http://www.ueliraz.ch/2010/index.htm Es war beabsichtigt, irgendeinmal festlegen zu können, welche Anordnungen und Einstellungen zu optimalen Bildern führen und welche man vergessen müsse. Das Resultat entspricht der Absicht ganz und gar nicht: Jedes Licht und jede Einstellung ergeben in Einzelfällen gute Bilder wie sie gleichfalls auch eine Menge schlechter zur Folge haben. Nimmt man nur die spontan besten einer Aufnahmesession, braucht es, solange jedenfalls die Bilder am Bildschirm verglichen werden, viel Gefühlsarbeit, um das eine gute vom anderen, das an einem anderen Tag gemacht wurde, nachvollziehbar zu differenzieren. Möglicherweise würden Ausdrucke auf Papier mit viel zusätzlichem Aufwand doch noch entscheidbar machen, dass eine der gewählten Einstellungen besser ist als die anderen. Aber sowohl der eingebaute Blitz der Kamera wie der externe im TTL und im FPP-Modus, der auch kleinste Verschlusszeiten wie 1/4000s zulässt, sind auf so kurze Distanzen einsetzbar; nur die Theaterleuchte mit 400 W scheint mir suboptimal, weil sie zwar, anders als die Blitze, Serienbilder ermöglicht, wider Erwarten aber viel zu wenig Licht abgibt, um mit kurzen Verschlusszeiten und grossen Blendenwerten zu fotografieren. – Im übrigen ist das Objektiv bis in die äusseren Winkel so gut, dass man irgendwo in den Bildern Ausschnitte machen kann, ohne dass uninformierte Betrachter an der Idee hängenblieben, es würde sich bei ihnen um Ausschnitte handeln: alle Makros vom Januar 2010 sind Ausschnitte.

Bald ist Februar und Tag für Tag die Sonne morgens besser dafür positioniert, dass aufs Sims ein paar Strahlen fallen, und sei es anfangs nur für wenige Minuten. Ohne Blitz und Theaterlicht, aber mit dem der Natur, werden die Versuche realistischer, von Erlenzeisigen Makros zu machen wie auch von den andern Arten, die sporadisch vorbeischauten, entweder den Kunstlichtern, den aggressiven Zeisigen oder dem fetten Klicken der Kamera aber auch nicht in Ansätzen Vertrauen entgegenbringen wollten: Distelfinken, Kernbeissern, Blau- und Kohlmeisen, Bergfinken.

Existentielle Schuld

Samstag, 23. Januar 2010

Nicht selten erwachsen ungute Gefühle in Momenten, wo nach der Zeit gefragt wird, was denn einer Schlechtes getan oder geredet hätte, dass er heute wie schuldig dastünde. Vielem von solchem Unmut brauchte nicht begegnet zu werden, wenn man frühzeitig sich mit der Einsicht auseinandersetzte, dass wohl nur in seltenen Fällen die Schuld darin besteht, überhaupt etwas Falsches geredet zu haben, indes die grösste Schuld eines Lebens oft darin nachzuzeichnen wäre, nicht geredet zu haben – nicht geredet, weil nicht und auf nichts gehört. Im Ausweichen gegenüber dem Reden verleugnet ein Lebender nicht nur die eigene Existenz, sondern auch die der anderen. Das empfinden diese, später, als seine Schuld. Man muss hören und reden, noch ganz ausserhalb und vor aller Moral, wenn man ihr nicht widersprechen will.

Soziologie der Vogelfotografie

Dienstag, 12. Januar 2010

Bergfink (Kundschafter) mit Systemblitz durchs ungereinigte Fensterglas

Da mir im Winter der Aufenthalt im Feld nicht möglich ist (mit Ausnahmen), knapp dreissig Meter vor dem Fenster aber ein grosser Ahorn steht, der sich bei einigen Vogelarten als Rückzugsplatz für die nervöse Fresserei grosser Beliebtheit erfreut, gebe ich mir alle erdenkliche Mühe, das Fotografieren der Vögel am Fenster stetig zu verbessern. Dieses Jahr sollen die Tiere auf den Bildern nicht mitten im Futter sitzen, sondern auf einem Zweig oder Stecken aufgenommen werden, und zwar aus nächster Nähe mit dem Makroobjektiv. Durchs Fensterglas konnten erste Testaufnahmen realisiert werden; der Systemblitz produziert auch in der momentanen nebligen Düsternis gute Resultate. Wenn es wärmer wird und morgens für eine Stunde die Sonne den Platz beleuchtet, soll wie letztes Jahr bei offenem Fenster fotografiert werden. Da der Apparat und ich selbst nun nicht mehr über einen Meter weit von den Tieren entfernt platziert sind, sondern höchstens noch dreissig bis vierzig Zentimeter weit weg, ist eine Tarnung unerlässlich (bei geschlossenem Fenster kann man die Nase an die Scheibe drücken, und auf der anderen Seite tut dasselbe mit dem Schnabel ein Erlenzeisig). Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Tarnung zu realisieren, und die Zeit drängt nicht. Beim Phantasieren leistete ich mir den Luxus, auch an ein Tarnzelt zu denken, das im Zimmer direkt am Fenster aufgestellt würde. Teufel, in was für schauderhafte Gefilde einer gelangt, der nach Tarnzelt oder Tarnnetz googelt! Man möchte die ganze existierende Soziologie als Kinderkram beiseiteschieben, die einem ein Leben lang die ungeschönte gesellschaftliche Realität so erfolgreich vorenthalten hat. Man will es nicht glauben, auf was für Seiten man landet, die schamlos in der Öffentlichkeit eine Sache propagieren, von der der Bürger denkt, nur Kriminelle würden ihr frönen, an abseitigen Orten, zu denen man nie gelangen würde, wenn man der teuflischen Sache durch Regression nicht schon verfallen wäre. Das europäische Volk ist nicht einfach durch die Medienmasse verblödet und geilt sich nicht einfach an seinen Maurerblochers, Haiders, Berlusconis, Le Pens und Konsorten auf – es will ganz sec und ohne alle Zutat Krieg. „Panzer und Uniformen“ ist nicht weiter ein sprachlicher Ausdruck, der eine ideologische Malaise bezeichnet, die alle moderne Gesellschaften wider Erwarten vergiftet, sondern zentraler Bestandteil der Wirklichkeit, nach der sich das Volk als Meute ausrichtet. Meine Vogeltarnung wird wie die Szenerie eines Kasperlitheaters ausschauen – in was ich mittels Google getreten war, habe ich traumatisch alles wieder vergessen.

Metaphysik, Gewalt und Kulturindustrie

Montag, 20. April 2009

Keimzelle und Urtrieb der Metaphysik ist die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft; sie treibt das Ganze der Geschichte an, steuert es und gibt ihm Gestalt. In der äusseren Form erscheinen ihre Kräfte als Religion, im einzelnen Menschen als familiäre Bindungen, die ein Ich sich ausbilden und ein verbindliches Verhältnis zur Realität sich schaffen oder scheitern lassen.

Da es in dieser Epoche Gesellschaften gab, die andere materiell vernichteten, ohne dass es zu einem vermittelnden Austausch von Gütern welcher Art auch immer gekommen wäre, kann man über sie keine allgemeine Aussagen machen, die ihren Vergesellschaftungsprozess beschreiben würden. Doch auch wenn von den Einzelnen, sowohl mit Rücksicht auf dieses Problem wie auf die Einsicht in die existenzielle Irreduzibilität, gesagt werden muss, sie realisierten sich in unendlichen, nicht reduzierbaren Vielheiten, sticht ein Typus markant hervor, so wenig die Typen, wie angetönt, im Gesamt begriffen werden sollen: derjenige des autoritären Charakters. Bemerkenswert ist, wie ein Negatives im Realen eine Struktur zu repräsentieren scheint, die im Innersten von der Idee der Idee als der eines Guten zusammengehalten wird. Der autoritäre Charakter ist immer zur Stelle gewesen und hat sich schnell in Meuten gebildet, wenn in der Epoche der Metaphysik die Katastrophen, Reversbilder der Vergesellschaftung, stattgefunden haben, überaus deutlich im zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts, in einer Zeit und an einem Ort, wo die grosse Kultur am weitesten entwickelt, entfaltet und in alle Bevölkerungsschichten hinein verbreitet schien. Deshalb gibt es nichts Dringenderes, solange diese Epoche währt, als von der Dialektik der Anerkennung wegzukommen, diesem Kräftespiel, das immer einen Sog der Regression freisetzt, in dem die Katastrophe sich als blinde Gewalt vollzieht.

So wenig von einem abgeschlossenen Ende der Metaphysik gesprochen werden kann, so schwierig ist die Behauptung, es gebe als neue so etwas wie eine Epoche der Kulturindustrie, und sie wäre schon daran, sich in der Weise als Metakultur breit zu machen, indem sie die Metaphysik ersetzte. Allerdings ist es unübersehbar, wie ihre technologischen Elemente sich vervielfältigen und wie sich die Gehalte, die ihren Stempel tragen, global ausbreiten. In ihr verändern sich die materiellen Verhältnisse gleichzeitig mit den kommunikativen, so dass die Beschleunigung der spekulativen Finanzströme in den letzten dreissig Jahren nur möglich erscheint dank der Verfeinerung der Aufzeichnungsverfahren, die den Wert auch dann aufblähen, wenn er noch gar nicht begonnen hat, wirklich zu sein. Die so gewonnene Macht der Banken liess die demokratischen Mächte der Gesellschaften lächerlich erscheinen, ihre Vertreter als Trugbilder der Kulturindustrie. In diesen neuen Verhältnissen, die nicht eindeutig durch Veränderungen in der Ökonomie als der materiellen Basis der Gesellschaften herausgewachsen waren, erscheint der autoritäre Charakter in einer neuen Gestalt oder, um diese Festlegung vorneweg zu machen: in neuen, multiplen Gestalten. Die Bildung von Meuten, die sich einem Aggressor unterwerfen, um Hatz auf die Träger eines Feindbildes zu machen, ist zugleich leichter geworden wie sie sich auch leichter kontrollieren liesse, wenigstens solange, als es einen gesellschaftlichen Konsens gibt, den eine Gesellschaft nicht aufgeben will. Nicht die Herren der Fabrik und die Männer des Staates produzieren die gefährlichen Situationen, die der Destruktion freien Lauf lassen, sondern die Vielen, denen es gelingt, in den Medien präsent zu sein. Die neuen Gestalten erscheinen in einer unendlichen Vielfalt, angefangen vom schwierigen Fall, dass der unterbrochene Finanzstrom die LohnarbeiterInnen freisetzt, die Parteien entscheidungslahm dastehen und die Verzweifelten Volksverführern folgen, die ihre Macht Finanzspekulationen verdanken und sie innehalten, indem sie mit ihr in den Medien protzen und die Meute, der man den Boden unter den Füssen weggezogen hat, daran sich aufgeilt, bis zum einfachen Fall des modischen Nachäffens geisttoter Medienstars. Mit dem Aufkommen einer verallgemeinerten Industrie, die das Glück da verspricht, wo Unterhaltung genossen wird, realisieren sich unendlich viele Gestalten der Regression und ersetzen die eine alte aus einer Kultur, die doch vom Guten sprach und deren Typus der Regression als der der Faschisten bekannt wurde. Der gefürchtete Typus des autoritären Charakters scheint sich in Richtung vieler Typen der Regression zu verändern, teils ebenso gefürchtet, teils bloss kindisch und lächerlich.

Das Problem ist deswegen schwierig, weil es keine historischen Ereignisse gibt, die das Ende der einen Epoche und den Anfang der anderen festlegen würden. Im Gegenteil scheint der rabiate Diskurs der Religionen demonstrieren zu wollen, dass keineswegs vom Ende der Metaphysik zu sprechen wäre, und die ungeheure Brutalität in den Konflikten der letzten 40 Jahre deutet ebenso wenig darauf hin, dass die paranoische Gewalt sich in einer Welt der Kommunikation abschwächen liesse. Trotzdem: wenn der Epoche der Metaphysik als paradoxer Idealtypus der autoritäre und paranoische Charakter innewohnt, der nur das Eine wünscht, sich selbst und den Anderen einem Ersten zu unterwerfen – ist die Epoche der Metakultur daran, einen vergleichbaren und in gleicher Weise eindeutigen Sozialcharakter auszubilden? Ist er genauso problematisch und gefährlich, selbstzerstörerisch und katastrophisch fürs Allgemeine? Gehört er derselben Ordnung an oder unterläuft er sie gerade umgekehrt in einer quasi anarchistischen Lebenssicht, die in einem scheinbaren Hedonismus das Gewünschte in seinen vielen Abstufungen bloss imitiert und aus diesem Grund der spielerischen Scheinhaftigkeit keineswegs davon gesprochen werden müsste, Kulturindustrie und allgemeine Globalisierung hätten eine Art Gleichmacherei zur Folge, die die Vielheiten der menschlichen Individualcharaktere auf ein bescheidenes Durchschnittsniveau reduzieren würde? Man sieht die Verhältnisse schnell einmal zu pessimistisch, dann ebenso schnell zu optimistisch. Da es keine Anzeichen dafür gibt, dass sich die Idee des Militärischen ächten liesse, sondern die Kulturindustrie geradezu als fester Teil ihres Antriebs begriffen werden muss und da im Hinblick auf Lohnarbeit und Einkommen der Verwirklichung eines Modells, das die Zwanghaftigkeit des gegenwärtigen prekären überwinden würde, alles entgegenzustehen scheint, solange Macht und illegitimer Reichtum zusammengehen, können keine Thesen zur Kulturindustrie gemacht werden, die ihr Verhältnis zur Lebenswelt im Allgemeinen betrifft, ausserhalb der speziellen Einflüsse von Bankengeld und militärischer Staatsgewalt. Neben den diffusen Typen der Regression, die bloss kindisch erscheinen, sind aber zwei Gestalten herausragend geworden, die ohne die Techniken und Technologien der Kulturindustrie undenkbar wären: Zu fürchten heute sind die sogenannten Amokläufer und die globalen Terroristen, Erscheinungsweisen der Gewalt, die mitnichten gedämpfter, sondern in der Tat explosiver dastehen, wenn sie für die Epoche der Metaphysik nicht gar undenkbar sind und sowieso unvorstellbar gewesen wären.

Die unaufhörliche Produktion von Gütern in der Kulturindustrie wie die globale Gier nach denselben macht es aus, dass Meuten zwar schneller gebildet werden, aber genau so, dass sie schneller auch wieder unter Kontrolle geraten und grössere Katastrophen eher als früher vermieden werden können, sofern ein Wille dazu vorhanden ist. Die Masse braucht indes keine Meute zu sein, sondern geniesst die Güter in einem Alltag, dessen praktische Seite den demokratischen Rechten und Pflichten und dessen kulturelle Seite den Medien folgt, so wie sie die Wissenschaften und die Künste vermitteln, stetig mehr von Lokalitäten unabhängig, stetig mehr allen Einzelmenschen zugänglich. Ein Stück weit aber erinnert, neben der Tendenz, alles wieder kommerziell einzufrieren, die positive Vielfalt der Kulturindustrie an die Geschlossenheit der Vielfalt in der indischen Musik; es fliesst etwas Formales in sie ein, das uralt ist und, man glaubt es kaum, nicht als europäisches Erbe zum Zuge kommt. Keine Musik in den sogenannten Hochkulturen konnte sich vor 2000 Jahren so frei von Direktiven der Macht entwickeln wie die indische. Die gleichzeitige Anwendung von pythagoreischen und natürlichen, den Obertönen gefolgten Stimmungen führte zu einer Verfeinerung des Tonsystems, die unendlich viele Abstufungen erlaubte, über sechzig statt nur zwölf wie im temperierten. Da dieselben theoretisch begründet und, wie konsequenzlos da ohne durchgeführte Kritik auch immer, diskutiert wurden, erwuchs eine künstlerische Tradition, in der die Vielheiten nicht nur abstrakte Grössen blieben, sondern in den einzelnen Stücken als unendliche Vielfalt genutzt und ins Spiel gebracht werden konnten. Keine andere Musikkultur entfaltete sich in solch freien Verhältnissen – und trotzdem erwuchs mangels praktischer Kritik keine Geschichte, von der man sagen könnte, dass in ihr die indische Musik sich entwickelt hätte. Die äussere, sogenannt ästhetische Freiheit, die prinzipiell alles zulässt, realisiert sich nur gegen innen. Je weiter der Prozess der Realisierung der Freiheit vorangetrieben wird, desto stärker erwächst der Eindruck, das Ganze geschähe in einer Abgeschlossenheit oder Abgedichtetheit, die wie ein Alpdruck lastet. Die Realisierungen sind alle gleichwertig und vermeiden es tunlichst, auf besondere Richtungen hinzuweisen. Man steht immobil und als Gefangener in einem Raum, den man nicht mehr weiter erfahren darf, weil es keine Richtungen gibt, denen folgend man ihn durchschreiten könnte, um über ihn hinaus Entwicklungen voranzutreiben. In ähnlicher Weise immobilisieren sich die Vielheiten der kulturindustriellen Medien, wenn sie zu jeder Zeit und an jedem Ort prinzipiell jede Äusserung und jede Diskussionen erlauben, die Objekte und Gegenstände der Auseinandersetzungen aber immer schon zur Hauptsache von der Kulturindustrie vorgegeben sind. Wie in der indischen Musik gibt es im Mythos der Kulturindustrie eine Freiheit nur gegen innen, weil die Ansprüche ans Ganze der Existenz und der Realität, wie die grossen Werke sie enthalten, nicht weiter in Ausgestaltungen erhoben werden. Alles Geschehen erscheint als ein Stück Regression, und es wird zum Sinn der Metakultur, nicht das Leben, die Einzelnen oder die Meinungen, sondern eben die Prozesse der Regression unter Kontrolle zu halten, indem sie sie sowohl fördert und unterstützt wie umgekehrt auch aufhebt, insbesondere dort, wo der autoritäre Charakter sich manifest über weite Bevölkerungsschichten auszubreiten droht.

Wenn es in der Tat einen Übergang von der Epoche der Metaphysik zur Metakultur gibt, dann gibt es auch einen Fortschritt, der weder pessimistisch noch optimistisch einzuschätzen wäre und der im Übergang von den Abstufungen der manifesten Regression, die im autoritären Charakter gipfelten, hin zu einer verallgemeinerten kontrollierten Regression bestünde, die von der Kulturindustrie sowohl genährt und gefördert wird, für dieselbe diese sich gleichzeitig aber so einsetzt, dass sie einen gewissen Rahmen, der geschichtlich immer zur Gewalt führte, nicht mehr zu überschreiten vermag.

Lumpenmusik der Geplünderten

Sonntag, 5. April 2009

Seit 17 Jahren habe ich keine CD mehr gekauft (auch kein Buch, keinen Konzerteintritt, kein Filmbillet etc.), und seit vier Jahren höre ich eher selten ab Scheibe, obwohl ich mich in den kurzen Jahren vor der langen, unfreiwilligen Anschaffungspause gut mit ihnen eingedeckt hatte, später ab und zu kopierte und jetzt die geschlossenen Funkkopfhörer zwischen fünf und sieben Stunden am Tag übergestülpt habe. Diese maximalen, aber keineswegs seltenen sieben Stunden enthalten auf Radio DRS 2 (deutsche und rätoromanische Schweiz) höchstens vier Stunden Wortsendungen, ohne die kleinen, beleidigenden Stundennachrichten: Kontext, Reflexe, Aktuell, Rendezvous, Echo der Zeit, Hörspiel oder Diskothek im Zwei, Wissenschaft Aktuell, Musik für einen Gast, International etc. Alle Sendungen können durch solche von Swiss Classic ersetzt werden, wo keine Wortbeiträge belästigen. Nicht zum Zuge kommen die Sender SWR 2, OE 1, Bayern 4 und France Musique, die von Cablecom zwar angepriesen, aber in einer technischen Qualität gesendet werden, dass ein Hören zur Zumutung wird. Espace 2 wäre sowohl technisch wie inhaltlich empfehlenswert, meide ich aber auf irrationale Weise, wohl weil ich mich per pedes schon zuviel in dessen äusseren, landschaftlichen Räumen aufhalte. Zwischen 22.00 Uhr und 8.30 Uhr höre ich kein Radio, weil ich bis um 3.00 Uhr oder knapp darüber hinaus schlafe und dann eher konzentriert tätig bin. Ein paar Male im Monat geschieht es, dass ausschliesslich Musik gehört wird, ohne Wortsendungen; in diesen Fällen ist der Anteil an Swiss Classic zwischen 50 % und 90 %. Da dieser Sender kaum mehr als fünf verschiedene CDs im Angebot zu haben scheint, halten es mit Bestimmtheit nur wenige Melomane aus, ihn in dieser fast reinen Form mehr als zwei Tage hintereinander zu verfolgen. Nebentätigkeiten zum Radiohören sind Kochen und Essen, in Ausschnitten Fotos Bearbeiten (eine Arbeit, die sich in der Saison bis zu zwölf Stunden am Tag hinzieht), automatisches Durchstöbern von Blogs – nie aber Lesen oder Schreiben. Sobald Musik zu hören ist, muss ich sie verfolgen, und selbst blosses Betrachten von Bildern ist dann völlig undurchführbar.

Der gewöhnliche Musiktrieb zielt, ist er in einem Menschen erst einmal entwickelt, bei jedem musikalischen Ereignis auf die Beantwortung der Fragen, ob er dem Gebilde folgen kann, ob es unerwartete Wendungen oder Klangkomplexe enthält oder ob es gar in der ganzen Substanz als neu erscheint. Keineswegs findet er sein Glück allein im radikal Neuen. Aber die Dialektik von Entdecken und Wiedererkennen, in deren Gestalt er lebt, wird mit Gewalt erstickt, wenn es in einer Musik überhaupt nichts zu entdecken gäbe, auch dann, wenn die Entdeckungen in ihrer blossen Wiedergabe zu machen wären; eine längst bekannte Musik kann immer Neues freisetzen, wenn sie lebendig zur Interpretation gelangt. Die Frage ist, wie in einem Gefäss der Kulturindustrie dieser Trieb befriedigt wird, wenn es doch zu diesen Programmen gehört, nichts vor Händel und nichts nach Dvorák zu senden, also in einer unangetasteten Repetition nur diejenige Musik dem Hören anzubieten, deren sogenannt klassische Struktur nichts Unbekanntes verschlossen hält? Was geschieht mit dem Musiktrieb in der Kulturindustrie, mit demjenigen grossen Anteil des Lustprinzips, der wie dasselbe mit immer mehr Taten immer Neueres erleben, aber im Grunde nur eines ernsthaft will, nichts weniger als neue Welten entdecken? Wird er dank den Techniken und Technologien der Kulturindustrie verfeinert und dadurch rationeller, so dass das Musikleben insgesamt immer interessanter wird? Klar, wer so fragt, meint es gar nicht gut. Er fragt danach, ob derjenige die Ware Musik liebt, mit der er unverfroren dealt und die dort, wo sie wahr ist, immer nur eines sagt, keine Ware zu sein.

Da die beiden Sender DRS 2 und Swiss Classic in der Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft SRG institutionell miteinander verbandelt sind, profitieren sie von der Verwertungsregel, dass Musikstücke innerhalb eines gewissen Zeitrahmens mehrmals ohne weiteren Preisaufschlag gesendet werden dürfen, wenn ihre Autorenrechte schon abgegolten worden sind. Obwohl zu erwarten wäre, dass dieselben Stücke in derselben Interpretation und Aufnahme mehr oder weniger gleichzeitig auf beiden Sendern gehört werden müssten, habe ich das nur selten erlebt. Klammert man die Nachtsendungen und bei DRS 2 zusätzlich die Wortsendungen aus, pflegen die beiden Sender jeweils ein Musikprofil, dem eine gewisse Eigenständigkeit nicht abgesprochen werden kann. Es kommt zwar vor, dass ein Hit auf Swiss Classic in zeitlicher Nachbarschaft auch auf DRS 2 gesendet wird und dies, für den Hörer in ärgerlicher Weise, in derselben Interpretation, aber eine solche Häufung geschieht erstaunlich selten. Noch stärker unterscheiden sich die beiden in der Berücksichtigung des historischen musikalischen Zusammenhangs und der geschichtlichen oder stilistischen Nachbarschaft der einzelnen Werke. Können Werkpassagen der historischen Eckpfeiler Händel und Dvorák auf Swiss Classic Rücken an Rücken vom Stapel laufen gelassen werden, erfährt man auf DRS 2 stilistische Blöcke, die eine ganze beziehungsweise eine halbe Stunde währen können, oder diese halbe wird leicht kontrastierend noch einmal gehälftet. Dank der Moderation werden die Auswahleinheiten kommentiert, wodurch sowohl die Aufmerksamkeit wie der Hörgenuss, mit Ausnahme der Schlagersendung eine halbe Stunde vor Mittag, gesteigert werden. Und doch erscheint diese Differenz weniger entscheidend als die Gemeinsamkeit, die Werke nur in Teilen zu senden, von der Bachsuite den Hut, von der Händelsonate die Unterhose, vom Sammartini die Glacéhandschuhe, sogenannt schöne Stellen, die einen nach ihrem Ende nach Luft japsen lassen, weil nicht kommt, was nach musikalischer Logik zwingend kommen müsste.

Just in dem Moment hatte ich das Gefühl, im Zentrum der Kulturindustrie angekommen zu sein, als ich mich nicht in einem Museum, sondern in einem Altkleiderladen mit Billigstprodukten eingeschlossen wähnte, wo alle Stücke nur zu leicht als Lumpen begriffen werden müssen, nicht als Stücke von Kleidern, die einen Menschen in einem besonderen Licht erscheinen lassen. Ich will nicht behaupten, beim Musikhören auf diesen Sendern immer in eine solche Stimmung zu geraten, als hätte man mich, im Traum eine Strafe ausübend, in einen Verkaufsladen mit abgetragenen Lumpenkleidern gesteckt – aber ist einem dieser Geruch, der auf dem Ganzen lastet, erst einmal in die Nase gestiegen, fühlt man sich in eine tiefe Unstimmigkeit hineinversetzt, als ob man in einem Troupeau mitmarschierte, von dem man weiss, dass er nur Lügen verbreitet. Das bedeutet, dass die musikalische Notlage der Kulturindustrie, der wir nota bene den Zugang zur Musik überhaupt verdanken, ernster ist, als man füglich meint, eine Krise, die sich durch ein paar entschiedene Eingriffe und Korrekturen meistern liesse. Dass das Raubgut der geplünderten Komponisten, der musikalischen Werke und der historischen kulturellen Materialien wahllos aufgetürmt wird, ist nur die eine Seite, die man nicht im geringsten missen möchte; dass beim akustischen Konsum aber die Sinne Stück für Stück eine Abstumpfung erleiden und darin in gleicher Weise als Geplünderte dastehen wie die Gehalte, die doch mit der Absicht vermittelt werden, dass sie sich entfalten können – das ist das wesentlich Falsche der Kulturindustrie. Das Lebendigste, der Trieb, betrachtet die Dinge in der Vermittlung durch die Kulturindustrie nicht mehr so, als ob er mit ihnen, indem er sie untereinander vergleicht, über sie hinausgehen könnte, sondern richtet es sich so ein, dass er sie einfach erträgt, ganz so, wie sie sind. Aber will einer solches, solange er sich als Mensch fühlt und nicht nur als gut versorgter Warenkonsument? Will ich denn das, beim Musikhören verklärten Sinnes einer Lüge gedenken, derjenigen von der Existenz einer gelungenen Kultur, unserer gelungenen Kultur? Will ich im Geniessen von Musik, dem Höchsten, mich ineins fühlen müssen mit dem Gespenst der Abscheulichkeit höherer und insgeheim an nationale Völker gebundenen Kultur, dem dumpfen Wir, von dem mich alles trennt?

Die Bemäkelung der Form der Kulturindustrie ist das letzte Hemd, das einem gelassen wird. Was würde aber von der Kulturindustrie bestehen bleiben und weiter negativ wirken, wenn an jedem Ort ein oder mehrere Sender empfangen werden könnten, die die musikalischen Werke wie gewünscht als ganze senden, ihre historische Einbettung in benachbarte Werke vom selben wie von anderen Komponisten berücksichtigen und, als wichtigstes, im gleichen Masse wie die barocke, klassische und romantische die Musik der früheren Zeiten wie auch diejenige nach Dvorák spielen würden? Würde ein Anstössiges der Kulturindustrie bestehen bleiben, wenn die manifesten Wünsche erfüllt würden und also die Musikvermittlung nicht mehr in so gravierender Weise dem Diktat der kommerziellen Verwertung unterworfen schiene? Oder gibt es nicht in der Tat eine so tief liegende Struktur in der modernen Gesellschaft, dass man sagen muss, die Kulturindustrie herrsche mit Notwendigkeit starr und fest, weil ein anderer Austausch der musikalischen Güter den Vorgang der Vermittlung selbst behindern würde und keinen längeren Bestand haben könnte? Natürlich haben die Fragen eine polemische Seite, die daran mahnt, noch längst nicht alles ausprobiert zu haben, was man im Bereich der Kunstmusik tun könnte. Man muss möglicherweise die Ebene wechseln, wenn man dem Ernst ins Auge sehen will. Angesichts der Seltenheit, in der eine wirklich neue Musik als Kunstwerk noch zur Aufführung gelangt und im Radio gesendet wird, ist der Frage mit mehr Reserve nachzugehen, also ohne eine Antwort jetzt schon bereitstellen zu wollen, ob die Kulturindustrie, derem Wirken auch die KomponistInnen ausgesetzt sind, die Verhältnisse nicht so zurechtzimmert und zurechtbiegt, dass sie ihr schon dann entgegenkommen, wenn noch gar nichts zu ihrer Verwertung geschaffen wurde und also das, was ausserhalb ihrer Instanzen geschehen will, nur als Eigenbrötelei, als Privatkunst ohne Recht auf gesellschaftliche und zeitgenössische Anerkennung passiert, als unbeabsichtigtes Nebengeräusch, das man geschehen lassen kann, weil sowieso keine Einzelnen die Fähigkeit und Lust mehr hätten, das Besondere seiner Beschaffenheit wahrzunehmen. Man weiss nicht, ob überhaupt noch etwas geschieht; vermittelt wird es jedenfalls nicht. Wo man von Kulturindustrie redet, ist es langweilig und muffig; aber da wären keine Fenster und keine Türen im Betrieb, so dass man sowohl aussen wie innen stehen könnte. Dass es so still ist in Gegenden, wo Stücke Neuer Musik einst blühten, zeigt, dass die Kulturindustrie mit ihren Kräften stärker am Spielen ist als einem recht sein sollte.

Unwissen in der Kulturindustrie

Donnerstag, 2. April 2009

Den Begriffen des wahren Wissens und der geglückten Erkenntnis steht derjenige des blossen unverbindlichen und subjektiven Meinens gegenüber; in regulierten Zusammenhängen, in denen es darum geht, verlässliches Wissen zu schaffen, heisst er Hypothese, in denen des unregulierten und unbegrenzten Alltags ist er der unaufhörliche Begleiter aller äusseren und inneren Empfindungen, wenn über sie, wie nachlässig auch immer, nachgedacht wird und aus ihnen Schlüsse gezogen werden, auch so primitive wie „ich sitze hier und schreibe“ oder „Teufel, die Worte kommen nicht wie gewünscht!“ etc. Der Übergang von der Meinung zum Wissen ist fliessend, und wo jene genügend deutlich gebildet ist und sich dadurch der Kritik exponiert, verwandelt sie sich ohne Zusätzlichkeit in mehr oder weniger allgemein anerkanntes Wissen. Dank gewisser Apparaturen und Technologien der Kulturindustrie öffnet sich auf der anderen Seite des Verhältnisses von Meinen und Wissen ein Graben, der zwar immer schon da war, dessen Ungeheuerlichkeit aber erst heute zum Vorschein kommt und um einiges deutlicher dasteht als eine romantische Ahnung. Die Wendung „sich eine eigene Meinung bilden“ drückt aus, dass es auch ein zumindest zeitliches Vorfeld der Meinung gibt und dass dieselbe in diesem Zusammenhang, auf diesem Terrain, eine Ausnahme, eine Besonderheit oder ein Sonderfall darstellt. Der Normalfall des gewöhnlichen Bewusstseins besteht in diesem neuen Licht nicht aus dem bewussten Meinen und dem triebhaften Verzehren von Launen, sondern aus einem Gemisch, dessen Erscheinungsformen und gesellschaftlich praktische Wirkungen heute erst wenig deutlich und distinkt zur Sprache gekommen sind. Von der Meinung unterscheiden sie sich dadurch, dass sie nicht spontan sind, sondern blosse Impulse oder Reflexe darstellen und, nicht weniger wichtig, dass sie nur lose mit dem einzelnen Subjekt verbunden sind und schnell wieder von sich gestossen und in Abrede gestellt werden. Aber sie sind objektiv da, und löst man sie aus ihrer zeitlichen Gebundenheit, erscheinen sie wie eine normale Meinung, in der immer auch ein Stück Weltsicht und eine politische Disposition zum Ausdruck kommt. Man findet sie in den Internetforen und als Kommentare von Artikeln der Onlinepresse oder von Blogs, in Chatrooms (ich war aber noch nie in einem) und auf Plattformen wie MySpace oder Facebook. Sie bilden sich nicht ausschliesslich im Schutz der anonymen Meute, sondern gleichfalls im freundschaftlichen Gespräch auf Augenhöhe, online oder offline. Und es findet sie jeder in Redlichkeit Geübte als ganze Misthaufen in sich selbst – wo sie ihre biologischen Funktionen ausüben, ohne mit Notwendigkeit ans Licht des gesellschaftlichen Zusammenlebens gezerrt werden zu müssen. Wo ihr Erscheinen in der Gesellschaft geschieht, passiert auch eine Regression und damit die Drohung, als Gewalt eine materielle Gestalt anzunehmen. Wie es umgekehrt einen kontinuierlichen Weg von der Meinung zum Wissen gibt, gibt es nicht die geringste Verbindung zwischen den Pseudomeinungen und wahrer Erkenntnis.

Ein gutes Beispiel dafür, wie über die Bewusstseinsphänome des regressiven Vormeinens zu diskutieren ist, bieten Lukas Gschwend und Christoph Good im Artikel „Rache und Sühne – Wenn Volkes Zorn wächst“ in der heutigen WochenZeitung WoZ: http://www.woz.ch/artikel/2009/nr14/schweiz/17719.html

Dialektik des kulturindustriellen Schlechten

Freitag, 27. März 2009

Sind die Gebilde, mit denen man sich auseinandersetzt, nicht lose Einheiten, die ab einem gewissen Mass an Unterqualifiziertheit tel quel von sich geschoben werden können, sondern in unendliche Serien festgebunden, die als Ganzes zu begreifen wären, macht sich einer schnell lächerlich und wird zum blossen Stänkerer, wenn er in ihnen das Schlechte und Falsche bei jedem Erscheinen von neuem dingfest macht.

Um vom Mist in der anstehenden Zeit kulturindustrieller Analysen schweigen zu können, muss er bezüglich a) den Websites und Blogs und b) der verfolgten Radiostation DRS 2 (mit einem Wechsel bei akuter Blödheit zu Swiss Classics) nach den Gewissensfragen von möglichen persönlichen Verletzungen erst mal in seinen Teilen auf einen Haufen geworfen werden. Solche Teile wären a) im Internet die Favorisierung der Themen und Stile aus der Werbe-, Religions-, Militär- und Fernsehwelt, Scraps, Stamps und andere Bastelidiotien, Frischgeborenenvisagen und Tellergerichte, Inszenierung der eigenen Person und Infantilisierung der AdressatInnen, b) im Radio Wiederholungen von Ankündigungen, Wiederholung von Nachrichten bis zu einer solchen Verstimmung, die dann ein Hören der Hauptnachrichten nicht mehr zu ertragen vermag und so Uninformiertheit nach sich zieht, Pointengier in Nachrichten, die einen nicht zum Lachen bringen sondern zu denken geben sollen, Wiederholung von Betonungsfehlern, die offenbar so eingeübt werden mussten, Aufzählung von Sendethemen in einer auf eine Pointe abzielenden Serie, die inhaltlich durch nichts Verbindendes motiviert ist und deshalb die Intention der Liste, einen Überblick zu verschaffen, ins Leere laufen lässt, Rätselspiel und Überraschungen in einer Sendung, in der man sich während 45 Minuten konzentriert mit dem Weltgeschehen auseinandersetzen will, Schnutenbildung und Pflege von persönlichen Ticks bei männlichen Ansagern, die zuweilen in misslungener Abwehr auf den Knien ihrer Grossmutter phantasiert werden, Verbannung aller ernster Musik vor Händel und nach Dvořák, allmähliche Ersetzung der Kunstmusik durch Gershwin und Bernstein, Jazz, Marschmusik und Schlager. Die Kategorien des Schlechten in der Kulturindustrie setzen ein unterschiedliches, aber nie geringes Mass an Professionalität voraus und beruhen keineswegs in persönlichen oder technischen Unzulänglichkeiten, über die man hinwegsehen würde. Mit der alten Erfahrung der Fribourger wird ein Zaun um den Misthaufen gezogen, damit keiner in Versuchung gerät, bei der Durchführung der philosophischen Kritik davon zu schnausen.

Es ist wie in der grossen Politik im Zuge der transkontinentalen Wertvernichtung durch die Spekulanten. Da immer irgendwo ein sachliches Moment als unzugänglich erscheint oder wie die schon in Gang gekommene Massenarbeitslosigkeit sich noch weiter zu intensivieren droht, steht einer schnell in der Ecke der Schwätzer, der die Entscheide der Tagespolitik kritisiert. Sie geschehen seit einem halben Jahr wie unter dem Schutz eines geheiligten Tabus, und wer in diesen objektiven Verhältnissen zuständig wäre, die sozialdemokratischen Parteien, agitiert auf irrationalen Nebenschauplätzen wie der partiellen Verteidigung des Bankgeheimnisses, wo die Kategorien der Macht, der Bevölkerung, der Ökonomie und der Verwaltung so durcheinander gewirbelt werden, dass durch Vereinnahmung der Eindruck erweckt wird, auch der verachtete, aus der Gesellschaft ausgeschiedene Rentner zeige gleich allen Verführten Empörung darüber, dass mit dem Bankgeheimnis Momente seiner geistigen Substanz aus dem Weg geräumt würden. Was seit dreissig Jahren zu tun wäre, wird auch fürderhin auf die lange und ideologisch vernebelte Bank geschoben, Handelsregeln auszuformulieren verknüpft mit einem komplexen Subventionensystem auch mit Ländern in Afrika, die einem gewöhnlichen Bürger einer europäischen Gesellschaft nicht weiterhin das Gefühl vermittelten, bei jedem getauschten Franken würden den Ländern aus dem Süden 100 Rappen als supplementäre Beute aus den Taschen gezogen.

Die Verhältnisse müssen besser werden, wenn sie die Würde der Kritik wieder durchgängig erfahren sollen. Die Thematisierung der Kulturindustrie wird folglich das, was offensichtlich schlecht ist in ihr und auf irgendeine Weise immer einem Effekt der Regression geschuldet ist, nicht an die grosse Glocke hängen. Die eigentümliche Art der Kulturindustrie, die historisch vorliegenden herausragenden Gebilde so zuzurichten, dass sie nicht mehr kritisch mit einer substantiellen, die Unterhaltung überschreitenden Gier auf weitere wahrgenommen werden, ist schauerlich genug; die weitere Herausstellung der trivialen Missstände, die den Konsum gewisser Medien für eine ernsthafte Person unerträglich machen, würde sie nur unnötig künstlich skandalisieren. Als Zusatz sind sie allerdings in jedem schlechten Moment mit angesprochen. Uns so hat man der Kulturindustrie in einer gewissen Positivität gegenüberzutreten, die wie gegenüber einem Gott ein Hadern zwar erlaubt, dessen Negativität sich wie im theologischen Zusammenhang aber in einem leeren Umsichnegieren erschöpft. Ihre Momente sind die stärksten der gesellschaftlichen Realität und weitaus ernster zu nehmen als die der Ökonomie, weil sie direkten Zugriff auf die Massen ausüben, die empirisch zwar die Ökonomie beherrschen könnten, als Meute der Kulturindustrie aber, gezogen von den Kräften der Regression immer schon, dunkleren Pfaden folgen.

Geschärfter Blick und gehobenes Augenmass

Donnerstag, 19. Februar 2009

Häufiges und regelmässiges Durchstöbern der Blogs weltweit hat die erfreuliche Folge, das Überlebte am Blick aufs Fremde kenntlich zu machen und zu erneuern: ich sage mir bei den entsprechenden Seiten immer seltener, dass es sich bei ihnen um den Ausdruck von Fun handele, den die Mädchen halt einfach haben wollen, weltweit in gleicher Weise, und den man zu akzeptieren habe, sondern beäuge mit kritischem Blick und, entscheidender, in zunehmendem Masse befreit von paternalistischen Attituden, wie die technische Realisierung mit den Gehalten und den in ihnen geleisteten Reflexionen korrespondiert – denn solche Komplexität ist, neben allem Trash nach wie vor, immer mehr anzutreffen. Nur die gehobene Kritik mit geschärfter Aufmerksamkeit würdigt ihre Verdienste und kommt ihr zupass.

Begriff, Instrument, Medium

Dienstag, 10. Februar 2009

Begriffsverhältnisse, die die Erkenntnis konstituieren und sich nicht aus empirischen menschlichen Gesprächssituationen ableiten lassen, sind nicht rein logisch und überhistorisch, sondern aus den Strukturverhältnissen der Gesellschaft herauszulesen, deren Entzifferung sie Stück für Stück ihrerseits erst möglich machen, nicht ohne Einflussnahme auch auf die anderen, von anderen, nicht theoretischen Interessen geleiteten Erkenntnisformen. Sowohl die Werke Adornos wie Derridas sind umfangreich; beide thematisieren sie umfassend das Verhältnis von Begriff und Instrument in der Form der Instrumentalität des Begriffs und seiner sprachlichen Teile.

Wenn auch die methodische Haltung der negativen Dialektik eher aus der spontanen Auseinandersetzung des frühen Adorno mit der Musik denn als enge Variante der Hegelischen oder Marx’schen begriffen werden muss, ist das späte Hauptwerk „Negative Dialektik“ aus der Notwendigkeit einer philosophischen Begründung der „Dialektik der Aufklärung“ entstanden, der geschichtsphilosophisch geprägten Gesellschaftstheorie des zweiten Viertels des 20. Jahrhunderts und folglich auch noch auf die Zustände, die den Faschismus ermöglichten, fixiert. Das gibt dem Werk, das lange Zeit als Projekt einer materialistischen Dialektik mit dem früher publizierten eng zusammen gedacht war, eine Rigidität, die ein Weitergehen und Weiterentwickeln schwierig macht. Aber es gibt ihren Formulierungen, die eine Logik beschreiben sollen, umgekehrt einen Impuls, der nicht davon ablässt, die Oberflächenphänomene der Gesellschaft im Zusammenhang eines Ganzen zu sehen, der sich stetig benennen lässt; dieses permanente Referieren bewahrt die Theorie davor, selbst paranoische Züge anzunehmen. Und eine Philosophie zu schreiben, die sich weigert, zur verführerischen Lehre zu geraten, ist eine der ersten Devisen, deren logischer Mechanismus des öfteren in der Formulierung nerven mag, dass man erst dann wird Verfahren vorschlagen können, wie die Verhältnisse zu ändern sind, wenn sie sich geändert haben (2009 klingt solches indes wie ein Realismus zum Greifen nah, und man möchte fast sagen, dass mit der sogenannten Finanzkrise der Bann, von dem in der „Negativen Dialektik“ nicht weniger oft die Rede ist, jetzt gebrochen wäre). An einem Ort dieses Zusammenhangs steht immer noch die Warenproduktion und der profitorientierte Tausch, darin eingelassen und darüber aufgesetzt die Disziplinen der instrumentellen Vernunft und des praktischen Regelwissens. In diesen massiven Realitäten, die das Sichtbarmachen der philosophischen Theorie so stark erschweren, die Darstellung des Begriffs, in der seine sprachlichen Momente nicht blosse neutrale Instrumente sind, sondern sowohl Teile des Begriffs wie der Ablagerungen der realen Geschichte und der empirischen Realität, tritt als Vermittlungsinstanz die Kulturindustrie hinzu, die die äusserlichen Verhältnisse maliziös und trotzdem ohne Strategie so hoffnungslos abdichtet, dass es immer schwieriger wird, künstlerische oder theoretische Gebilde gesellschaftlich in Erscheinung treten zu lassen – nicht weil dieselben unterdrückt würden, sondern weil der kulturindustrielle Output sie in seiner schieren Masse mit sich spült. Als solches prekäres Gebilde stehen Darstellung und Methode der negativen Dialektik in einem äusserst gespannten Verhältnis zur Gesellschaft, sofern diese als strukturierter Lebenszusammenhang verstanden wird, in dem Kommunikation und Diskurs als das Andere der Disziplinierung und Autorität von Bedeutung wären.

Eine Theorie mit einem vergleichbaren Status gibt es von Derrida nicht; dass seine Philosophie der Medienöffentlichkeit unter dem Namen der Dekonstruktion bekannt geworden ist, hat periphere Gründe. Auch wenn seine unendlichen Analysen des Verhältnisses von Begriff und Instrument sich ganz eng am Zeichen orientieren und die ökonomische Realität nur in abgeleiteten, sekundären Textkomplexen berücksichtigt, produzieren sie eine Fülle von Strategien, innerhalb derer das Falsche zum Thema gemacht werden kann: im Umfeld der Grammatologie die falsche Eigentlichkeit der Stimme, die den Text zum blossen Instrument macht, im Umfeld der Differenz die angemasste Hierarchie, wenn die Zeit in der scheinbar rein logischen Unterscheidung nicht berücksichtigt wird etc. Es sind nicht beliebig viele Themenbereiche, in denen sich die Arbeiten Derridas bewegen, aber doch zu viele, als dass der eine bekannte, die Dekonstruktion, alleine diese Philosophie bezeichnen dürfte. Immer zeigen sie darauf, wie der Anspruch in einer begrifflichen Erkenntnis etwas Falsches auf sich nimmt, wenn ein Moment in ihm, das in unbestimmbar vielen Gestalten erscheinen kann, auch in gespenstischer, als neutrales Instrument sowohl vorgeschoben wie auch im Versteckten gehalten wird. Weit mehr als bei Adorno, wo die Logik des Zerfalls als Kern der negativen Dialektik ausgegeben wird, versanden die Analysen Derridas nicht selten oder zerbröseln unter dem Blick der Lektüre, als ob dem Recht auf Einsicht zugleich auch ein Schutz davor dazugegeben worden wäre, dass aus ihr eine grosse, verführerische Lehre werden könnte. In einer solch schitteren Gestalt kann eine Philosophie kaum weiter entwickelt werden – viel an Energie setzt sie nichtsdestotrotz frei, wenn ihre Momente in der aktuellen Analyse neu entstandener Gebilde, sofern sie überhaupt aufgestöbert oder als solche rekonstruiert werden können, zum Zuge kommen und, praktisch, ihren Einsatz leisten.

Wie der Begriff steht auch das Medium, das heute in jedem Fall eine elektronische Form annehmen kann, in einem engen Verhältnis zur Instrumentalität, wenn auch nachgerade in einem umgekehrten. Es täuscht vor, mehr zu sein, und drängt sich als Plattform, ja als ganzen Markt auf, in dessen auf Perfektibilität getrimmten Verhältnissen die Kommunikation leichter als früher vonstatten gehen soll und jeder seinen Fähigkeiten entsprechend sich darstellen darf, auch über jede narzisstische Motivierung hinaus. Doch so wie in den universitären Instituten der Betriebswirtschaft ohne Unterlass die Ideologie der letzten 60 Jahre mit Nahrung versorgt worden ist, bilden jetzt diejenigen der Wirtschaftsinformatik die Troupeaux für die unerschöpflichen Tricks aus, dank denen nicht der Markt sich entfaltet, sondern seine ihm unterstehende Werbung für die einzelnen das Internet lahmzulegen droht, wenn sie sich nicht mit den neuesten Technologien dagegen zu wehren verstehen (mit IE7Pro bin ich seit einer Woche befreit von aller visuell zwitschernder Aufdringlichkeit). An die Werbung angeschlossen sind die zwei Vektoren der reinen Information und der selbst verfertigten Präsentation von Materialien, die nur selten ganz ohne Selbststilisierung dastehen; beide gegenläufigen Tendenzen werden nicht nur durch die Werbung, sondern mit denselben infantilen Mitteln durch die Unterhaltung bis aufs Verstummen festgeknebelt. Dabei korrespondiert die Primitivität der Werbung und der narzisstischen Selbstdarstellung in den Medien vorzüglich mit der Banditenmentalität der Chefbanker und der einzelnen Politiker, die ihnen mit billigen Sprüchen ans Volk den Rücken freiklopfen, mit dem Unterschied, dass einmal erstellte Websites oder Blogs im Lauf der Zeit und der unwillkürlich ausgelösten Selbstkritik verbessert werden können, die falsche Macht hingegen, die die legitime gängelt, sich nicht so schnell in die Wüste schicken lässt. In den Medien scheint die private, mit dem Leben verknüpfte Seite dank dem Potenzial der Selbstkritik alles andere als verloren. Auch die entgegengesetzte Seite hat zwar ihre Tücken, die aber gleichwie in den Griff zu bekommen sind. In der Tat wundere ich mich fast jeden Tag über den Fluss von Informationen, der einem die mühsamen und zeitraubenden Gänge auf die Bibliothek erspart. Doch die Fülle an Informationswissen als Stütze intensiverer Kommunikation auszugeben, wäre ein falsches Versprechen. Denn der Informationsgehalt einer Aussage macht diese in ihrem eigenen Kontext noch nicht zu einem gedachten Gedanken, dessen Aufnahme weitere zur Folge haben würde: für sich ist er tot. Als Biotope, in denen dieses Wissen lebendig gehalten werden soll, erscheinen die Diskussions-, Beratungs- und Informationsforen. Die löbliche Idee der Foren und der kommentierbaren Blogs realisiert sich indes allenthalben in der regressiven Form aller Stupidokratie, in der wie unter Naturzwang ein interessanter Beitrag mit Unverständigkeit und Niederträchtigkeit beantwortet wird (ich habe noch nie einen Satz irgendwo deponiert). Das Erfahrungswissen, dass die Medien bis zur Vollständigkeit mit Unsinnigem besetzt sind, braucht einen allerdings nicht zu beunruhigen und wäre mitnichten als Argument gegen ihre Nutzung ernsthaft einzusetzen. Die Gewissheit, dass das konventionelle Schreiben keine gesellschaftlichen AdressatInnen anzusprechen vermag, weil keine vorhanden wären, die durch den Typus der Arbeit die Erfahrung machten, nur dank ernsthafter Solidarität geschehe überhaupt Sinnvolles und Gutes, wird in den Medien dadurch unterlaufen, dass jene als Einzelne per Zufall es werden können, gerade weil die Medien unrein sind und in dem Brei der Unterhaltung dem Zug freien Lauf lassen, alles, was sich irgend in Information fassen lässt, auch der globalen Öffentlichkeit zugänglich zu machen, nicht zuletzt auch durch die vielfältigen und sich stetig verbessernden Übersetzungsmöglichkeiten. Das Subjekt der zwar befreiten, indes unbedarften Suche nach Information sieht sich mitunter solchen Formen des Wissens gegenüber, auf die es in keiner Weise vorbereitet scheint. Es gibt aber keinen Grund, daran zu zweifeln, dass die Fähigkeiten zur Auseinandersetzung mit solchen dieselben sind wie die mit dem Fremden im Realen: durch die ideologische Deformierung häufig zum Scheitern verurteilt, umgekehrt durch aktive Kritik derselben, durch Selbstkritik und folglich lustvolles Aufstöbern der eigenen Interessen nie bis ins Letzte verbarrikadiert.

Derridas Analysen bewegen sich auf dem exponierten Grat des Abschlusses oder des Abschliessens der Metaphysik, der Epoche der Metaphysik, dieweil Adorno mit dem Konzept der Kulturindustrie einen Stollen weit in die Epoche der Kulturindustrie hinein vorangetrieben hat, der es allmählich erlaubt, detailliertere Analysen von ihr anzugehen. In der Tat ergibt sich ein Wechsel in der Einschätzung ihrer Momente, der nicht mehr von einer Abwehr gebannt ist, sondern der Forderung nachgibt und ihr folgt, die Medien weitaus mehr und in vielfältigeren, auch kleinen Formen zu nutzen als bislang. Es ist nur weniges, das man anders sehen muss, um wieder aktiv werden zu können. Zielt Erkenntnis auf den Begriff und leistet als Prozess in dessen Konstellationen Vermittlungsarbeit, so darf man im gleichen Zug die Medien, die uns in Beschlag nehmen und vorgeben, dem Recht auf Einsicht zu dienen, nur als Krücken verstehen, denen man mit Bedacht nicht zuviel Vertrauen entgegenbringt – sie sind um so nützlicher und wertvoller, wenn sie als Instrumente und nicht als Ziel gesehen werden. So sehr es wahrhaftige Erkenntnis fälscht, wenn ihre Verfahren, Mittel und Methoden als reine Instrumente verstanden werden, so sehr wirkt es befruchtend auf den Entstehungsprozess neuer Gebilde, wenn die Medien als blosse Instrumente genutzt werden, vor denen Argwohn und Abwehr Zeichen eines aus den Fugen geratenen Realitätssinns wären. Man steckt nun zwar mitten in der Meute und alles andere als im Elfenbeinturm – aber eher hat man Einfluss auf sie als dass sie einen zu erwischen vermöchte.

Zusatz: Die leicht euphorische Stellungnahme gegenüber den Medien entstand im Verfolgen des Auswahlverfahrens bei der Bildung eines Orchesters: auf unzähligen einzelnen Videos sieht man die einzelnen, zumeist jugendlichen InstrumentalistInnen, wie sie sich, fast auf der ganzen Welt verstreut, von zuhause aus mit dem obligaten Vorspiel, auf das sie Jahre hin alleingelassen übten, bewerben: http://www.youtube.com/sinfonieorchester?gl=DE&hl=de. Die Komponisten, die als erste die Computer sinnvoll nutzten, verschlafen die ganze Epoche von heute, die Soziologinnen und die Philosophen sind vom Aussterben bedroht und produzieren nur noch wie in geschützten Werkstätten, aber die BühnenmusikerInnen, zu oft als tumbe Musikanten geringeschätzt, zeigen ohne falsche Scham, wie die Medienverhältnisse zu nutzen wären.

Google gesprochen

Freitag, 16. Januar 2009

Musste (recte: durfte!) heute einen chinesischen Kurztext deponieren. Beim Hin- und Herübersetzen sah ich, dass Google selbst auch schon aus zwei chinesischen Zeichen besteht:

Eine nähere Untersuchung zeigt, dass wir dieses Wort möglicherweise immer falsch ausgesprochen haben, denn hier wird klargemacht, dass es keineswegs guugäl gerufen werden will, sondern, ganz ohne L, .
Das erste Zeichen bedeutet übrigens auf Englisch valley (= Tal), das zweite song (= Lied). Meine windeseiligen Chinesischkenntnisse legen nahe, das Ganze nicht voreilig als Tal der Lieder zu deuten, was einen natürlich freuen würde; denn das Chinesische unterscheidet sehr wohl zwischen Einzelwörtern, die tel quel zusammenstehen können und solchen, die in einer definierten Beziehung, etwa mittels eines Genetivs, einen speziellen Ausdruck bilden.

„Finanzkrise“

Donnerstag, 27. November 2008

Der brave Bürger und die brave Bürgerin fragen sich in letzter Zeit jeden Tag, warum von uns nur so wenige etwas zu sagen haben gegen die erlittenen Schocks durch die Taten unserer Bankenräuber. Aus der Warte der Gletschersoziologie lässt sich immerhin vorbringen, dass der Grund des Schweigens ihrer Subjekte weniger theoretisch als konstitutionell wäre: Die Welt als Wallis und Eisenbahnwagen hat keinen Platz für Shopin‘ Hours; man hat gar nie dazugehört. Schiebt man an den Kulissen, Bildern, Meinungen und möglichen Thesen, bleibt, bis ins letzte Buchhalterstübchen der Schweine, nichts als – der Wille zur Macht. Diskursiv kann dem nur unter Anrufung des Pfadfinderworts des Alten begegnet werden: nicht wegen dieser Tatsachen und gegen sie, sondern trotzdem. Doch hierfür muss man vom Kinderglauben der Demokratie abrücken, als sässe in der Schweiz die Macht im Bundeshaus und die Bankers würden sonstwie werkeln.

Kurz nach den multiplen Eklats, noch bevor die Europäer und die Schweizer aktiv wurden, gab es einen Schub der Hoffnung, in der Annahme, die Krise sei nicht national und also nicht mit nationalen Volksvermögen zu bewältigen, sondern auf einer der Ebenen der UNO; zu hoffen wäre gewesen, dass in diesem Prozedere, das alle betrifft, die am Weltgeschehen beteiligt sind, sämtliche Handels- und Marktregeln zur Kritik kommen würden, auch die haarsträubenden, die es den Produzenten auf dem afrikanischen Kontinent verunmöglichen, Überproduktion zu leisten, um die Ergebnisse in der Nachbarregion zu verkaufen – denn die subventionierten billigeren aus dem Norden sind immer schon vorher da. Doch die euroamerikanischen Regierungen, die jahrzehntelang von ihren Bankern lächerlich gemacht worden sind, sehen nur in solchem Vernünftiges, das die unter Schock auch im politischen Allgemeinen jetzt erkannten Mängel des Systems korrigiert – die weitergehenden Überlegungen werden a priori als irrational diskreditiert, als regressives Gebrüll aus dem Sumpf des Ressentiment. Soll man die ewige Wiederkunft des Gleichen bejahen? Nein. Wenn die Behauptung Lüge war, es gäbe Prozesse in der Finanzökonomie, die nur von Spezialisten, die den Banken vorstehen, theoretisch durchschaut und praktisch beeinflusst werden können, sollen diese Posten als Funktion der politischen Administration und also ohne zusätzliche private Gewinnmöglichkeiten geregelt werden, nicht privatwirtschaftlich. Die anderen Bankenprozesse brauchen dann nicht in demselben politischen Akt gestaltet zu werden.

Uwe Tellkamp, ein Kulturindustrieller oder nicht

Dienstag, 25. November 2008

Der Büchergutschein des letzten Jahreswechsels konnte leicht durchs ganze Jahr gehortet werden, weil die Philosophie untätig erscheint und die Soziologie sich aus dem ungemütlichen öffentlichen Raum zurückgezogen hat. Ein Gespräch mit Uwe Tellkamp am Radio vor zwei Wochen über sein Opus Magnum „Der Turm“, das soeben mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden ist, erweckte den Eindruck, einen Autoren kennengelernt zu haben, mit dessen Werk sich auseinanderzusetzen einen vielleicht aus der Lektüreabstinenz, die beim sommerlichen Konsum der Bildermassen nicht zu beunruhigen brauchte, herauslocken könnte. Neben dem tausendseitigen Turm, der zurzeit die Lieraturliste(n) anführt, wurde gleichzeitig der Romanvorgänger „Der Eisvogel“ (2005) angeschafft, weil der unverhütbare Blick ins Internet über dieses Werk mehr Seitenhiebe als Schmeicheleinheiten zutage förderte, was der Neugierde bekanntlich nur noch mehr Feuer gibt.

Und in der Tat liest man nun von Uwe Tellkamp zwei Werke, die nicht unterschiedlicher zu bewerten wären. Der Eisvogel, über dessen Titelsymbolik kaum Nachvollziehbares verlautet wird (45, 78ff, 186), ist nichts weniger als eines derjenigen Produkte, gegen die sowohl in diesem Roman wie auch im Turm und nicht zuletzt in Tellkamps Interviews voller Kraft angeredet wird: die Vorlage eines Stückes ziemlich seichter Fernsehunterhaltung. Die erste Zumutung ist der Hauptdarsteller. Vielleicht war dem Autoren einmal zu Ohren gekommen, dass es Leute mit einem Philosophieabschluss eher schwer haben, eine Lohnarbeit zu finden, sind sie erst einmal aus dem Universitätsbetrieb herausgespült. Flugs leistet er sich die Unterstellung, ein solcher Mensch verkomme moralisch im Ressentiment und sei bald schon zum Letzten bereit, zur Aufgabe des verantwortungsvollen Denkens zugunsten einer Gier nach Mitgliedschaft in saudummen reaktionären Gesellschaftszirkeln. Ob sich Tellkamp darüber wundert, dass sich ein paar RezensentInnen auf die Zehen getreten fühlen und ihm das auch zu verstehen geben wollen? Die Beschreibung der Beschaffenheit einer solchen Clique – von der immerhin stimmt, dass sie sozial unendlich in die Breite gehend begriffen werden müsste, bis in die unmittelbare Nachbarschaft des gesellschaftlich Anerkannten hinein – ist die zweite substantielle Zumutung. Man wünschte sich Tellkamp einmal über soziologische Texte gebeugt. Die Sprechweise des Terroristenführers und dessen Schwester, in die sich der Protagonist verliebt, sowie der Professoren (natürlich ist auch sein Philosophiechef darunter, der ihn vor die Türe stellte, weil er zu antiaufklärerisch argumentieren würde), Politiker und Kirchenvertreter in diesem Verschwörungstroupeau ist so hohl und idiotisch, dass man davon ausgehen muss, der Autor tappte täppisch in dickstem Nebel, wenn er sich eine Gesellschaft und die Abläufe in ihr vorzustellen habe. Dass bei den Beschwörungen der grossen Kultur nur Bach und Mozart den Kopf herhalten müssen, ist eine ungewollte Beleidigung auch der primitivsten Radio- oder Fernsehstationen, weil sie doch alles von Monteverdi bis Strauss in ihre Sauce unterzuziehen imstande sind und infolgedessen das niedere Publikum heute über sämtliche Passagen der Musikgeschichte orientiert wäre und dieselben unverblümt vom konservativen Kulturverständnis angerufen werden können. Das Namedropping mit Bach und Mozart ist lächerliches Fernsehkabarett, wenn doch Vivaldi, Beethoven, Schumann, Weber und Brahms kulturell dieselbe Funktion erfüllen. (Wie wundersam das Missverständnis einen doch immer noch aus der Bahn werfen kann, in dem Plebejer meinen, erst dann auf dem Feld der Kultur zu debattieren, wenn sie einige Heroen und Stücke aus ihr besonders werbewirksam hervorheben. Tellkamp hätte dann sein Ziel erreicht, wenn eine Figur des Romans über ein spezifisches musikalisches Problem irgendeines Werks aus der Musikgeschichte ernsthaft gesprochen hätte, das ihn selbst interessiert; mit dem Vorschieben der Müllmänner Bach und Mozart gibt er sich die Blösse, nur in der Kulturindustrie zuhause zu sein und von den ernsthaften Gebilden der Kultur, die es tatsächlich zu verteidigen gilt, keine Ahnung zu haben.) Zu diesen Ärgernissen gehören noch die romaninternen Zeitverläufe, die beim besten Willen nicht durchwegs auf die Reihe zu bringen sind: Personen besprechen Vertrauliches, auch wenn sie einander noch gar nicht vertraut sein können. Vom Schlechten der Gehalte bleibt indes die Form verschont, in der überzeugend der agierende Exphilosoph nach seiner Totschiessung des Terroristenführers und nach erlittenen schweren Brandwunden im Spitalbett das ganze Geschehen mit dem Vorlauf auch der Kindheit für den Gerichtsprozess in ein Gerät diktiert, stückweise unterbrochen durch die direkte Rede anderer Mitbeteiligter; es entsteht dadurch ein Gedankengewebe, das plausibel das beschädigte Bewusstsein eines Spitalpatienten entfaltet, das zwar nicht wenig vernebelt vorwärts- und rückwärts manövriert, formal aber doch sehr einleuchtend einen Einblick darin gewährt, wie so etwas Verquastes überhaupt hat zustandekommen können. Formal, in keiner Weise inhaltlich. Denn die letzte Zumutung macht das Unternehmen vollends zum bösen Fall: dass der Autor nicht zu erkennen gibt, ob es sich beim Verein nun wirklich um ein real sich vorzustellendes rechtsradikales Gebilde handelt oder um eine billige Theaterposse – und wie er selbst sich dazu verhalte. Der Autor wäre gut beraten, die Dialoge neu zu setzen und sämtliche Signale auszublenden, die zeigen, dass das Personal des Eisvogels zwar konservativ und radikal antidemokratisch denkt, keineswegs aber als faschistisch zu denunzieren wäre. Eine Belastung durch diese schmierige Lüge, als wäre rechts der herrschenden Rechten anderes als der Faschismus ausdenkbar, kann er sich als Künstler nicht leisten – nicht weil wir so argwöhnisch wären und ihm auf längere Zeit hin solches unterstellen wollten, sondern weil ihn die real existierende Rechte nur umso leichter in den Sack stecken würde. Es gehört wohl zu seinem Glück, dass die erste Verfilmung des Eisvogels nicht vom Fernsehen geleistet wurde, sondern von Jungspunden, die auf YouTube eine überzeugende Interpretation deponieren, die man nicht weiter zu überbieten braucht.

Nichts zu überarbeiten gibt es im Turm. Stilistisch ist dieses grosse Werk unspektakulär, weil geradlinig und in einfacher, zuweilen banaler Sprache beschrieben wird. Die Literatur leidet nicht an der Empfindlichkeit der Musik, in der eine Ästhetik schnell einmal zusammenbricht, wenn sie den Zusammenhang des intendierten Gehalts unterbricht, weil der sich nicht von einem festgelegten Stand des historisch geprägten Materials abgelöst gestalten lässt. In ungebrochener Weise wird die Lektüre zu erkenntnisreichen Einblicken und Einsichten in die Denk- und Verhaltensweisen einer Gesellschaftsschicht in Dresden ein paar Jahre vor bis knapp zum Mauerfall 1989 hingeführt, die sowohl mit der Kunst, der Medizin, den Natur- wie peripher auch mit den Gesellschafts- und Geisteswissenschaften, gewollt und ungewollt aber auch mit der Machtausübung direkt verbandelt ist. Ich spreche aus der Warte eines Schweizers, einer Art des Tellenkämpens, die sprachlich nur wenig von der DDR entfernt ihr Leben führte, doch ohne Fernseher und ansässige Verwandte nur wenige Möglichkeiten hatte, sich mit dieser Gesellschaft auseinanderzusetzen, zumal das fehlende Kulturabkommen Reisen erschwerte und Studienaufenthalte verunmöglichte, wenn sie nicht dem Verfolgen einer Einzelfrage galten, meist im Bereich der Germanistik. Falls denn je ein Interesse mehr als eine Laune überdauerte, verschwand die DDR als Gesellschaft wie alle Länder des politischen Ostens im Dunst von Lebensweisen geführt in einer grauen Schuhschachtel aneinander vorbei, aus der nur die Nachrichten über Dissidentenschicksale Informationsgehalte freisetzten, die dann allerdings auch theoretische Diskussionen zu streifen vermochten. Ein Bild der Gesellschaft, in dem der Existenz der Einzelnen hätte Rechnung getragen werden können, ergab sich nie. Nichts weniger als dieses Gemälde präsentiert nun Tellkamp, und zumal Walliserprobte fühlen sich hier schnell wie zuhause, da sie auf Schritt und Tritt ihren bewunderten Suonen zu folgen meinen, ihren Wasserleiten mit den nunmehrigen Dresdener Namen Wolfsleite, Weinleite, Holländische Leite, Mondleite, Plattleite, Rissleite etc.; aber auch ein Mülti erscheint (736), ja sogar eine Viper, wenigstens dem Namen nach. Wenn schliesslich im Umland Dresdens die Kartoffeln als Apern verspiesen werden (438), bekommt man hierzulande Appetit auf Häpere. Das sind nur Spielereien, und eine Rezension könnte sie leicht nur deswegen in den Vordergrund schieben, um darunter dem Ganzen den Boden desto leichter wegzuziehen. Nein. Dass solche Äusserlichkeiten im Gedächtnis bleiben, zeugt gerade von der Tragfähigkeit des Ganzen, in dem sie überhaupt bemerkt werden. Die Fülle der Einzeldinge, die auch dann mit Sorgfalt zur Sprache kommen, wenn sie keine dramatische Funktion erleiden müssen, ruht in einem komplexen Ganzen, das nicht konstruiert ist, sondern in seiner Lebendigkeit vom Autor peu à peu erkundet wird. Noch ausserhalb des Romanwerks, auf der inneren doppelten Umschlagsseite, zeigt eine Skizze die Hauptplätze des Geschehens in den drei Teilen a) Quartier der Turmstrasse weit entfernt im Osten des Stadtzentrums, östlich davon b) die Elbe mit ihren Bauten in Ufernähe und ein paar Brücken und noch weiter östlich c) Ostrom als eine die amerikanische Gegenwart vorwegnehmende Secure City der Nomenklatura nicht ohne ein paar Sonderplätzen des Romans, die entschieden ausserhalb Dresdens liegen, wenn denn, wie das höllische Samarkand, überhaupt irgendwo. Ein Blick über Google’s Schulter zeigt schnell, dass hier nicht alles wie vom Zeichner angegeben im Massstab 1:1001 genommen werden darf, zumal er die Frechheit besitzt, die Nordrichtung festzuschreiben. Soll die Drahtseilbahn (neben welcher ganz in der Nähe noch eine Schwebebahn existiert) richtig positioniert werden, muss Tellkamps Skizze um 110° westwärts gedreht werden, wodurch die Elbe im Norden des Quartiers statt im Süden zu fliessen käme. Die Signale sehen wir klar: die Elemente des Vorgeführten entstammen der Wirklichkeit, ihr konkreter Zusammenhang ist in künstlerischer Freiheit konstruiert, nicht zuletzt daraufhin, damit die Mentalitäten in ihrer Brüchigkeit lebendig und eben nicht konstruiert erscheinen können. Aus der geografischen Distanz lassen sich einige Dinge nicht auf ihre empirischen Entsprechungen hin überprüfen, ob es zum Beispiel in der Tat Wohnquartiere wie Ostrom gegeben hat, die militärisch abgeschlossen nur dank zeitlich beschränkter Aufenthaltsscheinen und ständigem Passwortabfragen besucht werden durften; einige indes leichter gerade aus der Ferne. Das örtliche Zentrum des Romans ist die Turmstrasse, um die herum gruppiert die verschiedenen Akteure wohnen, nie einzeln in einem Haus, sondern mehrere Familien, Paare und Singles zusammengesperrt in den alten Villen, die mehr als Bruchbuden erscheinen denn als Objekte des sozialen Prestiges (als welche sie nichtsdestotrotz in Wirklichkeit galten). Legt man die gedrehte Skizze über einen publizierten Plan Dresdens und folgt der Turmstrasse, verbirgt sich in Tat und Wahrheit dahinter die Plattleite. Plattleite? Tellkamps Verrätselung ist leicht auf die Schliche zu kommen: Hinter den Leuten vom Turm stehen die von der Platte, die Blatters in allen ihren Formen, als die Aufdenplatten oder, man ahnt es doch endlich, die Supersaxo als die Höchsten und zugleich Dunkelsten des Wallis, die ihr Spiel hier treiben in Sachsens Dresden, und bekennt nicht einer der drei Protagonisten mehrmals, sich in der Schweiz am wohlsten zu fühlen, der Sächsischen? Ist man sich erst einmal über das Spiel mit der Materialität im klaren, kann man sich ganz den Triebkräften der Handlungen, Widerstreite und Reflexionen hingeben, wie sie im Verlauf dieser Jahre sich teils unterschiedlich, teils auf ein einziges Ziel hin, dass der graue Staat der DDR sich so radikal wie irgend denkbar ändere, entfalten. Und das ist die bewundernswürdige Leistung Tellkamps: dass man den Dingen ohne Widerstreben folgen will und die ganze Dynamik Dresdens dieser Jahre in extenso als glaubhaft erfährt. Doch trotz der durchgängig äusserst beeindruckenden und spannenden Lektüre sollen wenigstens zwei Punkte kritisch erwähnt werden, von denen der zweite gegenüber Tellkamp nun schon zum zweitenmal vorgetragen wird. Das Autoritäre der heutigen Gesellschaften zeigt sich unter anderem in der Allgegenwart des Militärs. Diesbezüglich geschieht eine grosse Partie des Turms zunächst in einem paramilitärischen Ferienlager des jungen Hauptakteurs, dann während seiner wegen eines Ausrufs in ungünstigem Moment durch eine ungemein brutale Strafe auf vier Jahre ausgedehnten Militärdienstes. Wer in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer Militärkaserne aufgewachsen ist, braucht keine Soziologie, um zu verstehen, wie das träge Bewusstsein über den Tisch gezogen wird. Nur zu schnell ist einer, der beim Ausblick aus der Wohnstube zusieht, wie die militärischen Frischlinge sich unfähig gebärden, wenn sie einen Purzelbaum oder eine Rolle zu schlagen haben, zum einverständigen Murmeln bereit, wenigstens dazu sei der Militärdienst ja zu gebrauchen. Erst spät, da man schon an des Autors Haltung gegenüber dem Militärischen zu zweifeln beginnt, kippt die Szenerie ins Gespenstische, als die ungerechtfertigte, ewig dauernde Strafe den Dienst ausschliesslich als Hölle zeigt. Die zweite Kritik zielt nicht auf die Gehalte oder ideologischen Haltungen, sondern auf die Ästhetik, und sie läuft nicht so leicht ins Leere wie die erste. Ob aus falscher Scham vor der Allmächtigkeit der Kulturindustrie oder aus Mangel an Wissen, lässt sich nicht entscheiden, aber der Autor wagt es nirgends, ästhetische Gehalte zu Diskussionspunkten ausreifen zu lassen. Das Spässchen mit der Maxime einer sozialistischen Musiktheorie kommt erst am Schluss, zündet aber immerhin ordentlich: Eins, zwei, drei, wieder ’n Takt vorbei. (818) Wieso hat Tellkamp nicht nachgegriffen und die supponierte These über den Haufen geworfen, weil sie doch, indem sie insgesamt eben zwei und nicht nur einen Takt beschreibt, furchtbar falsch geraten ist? Sehr früh im Roman gibt es schon ein Zaudern, das Kopfschütteln hervorruft: Es wird Wagner mit dem Tannhäuser ins Spiel gebracht ganz ohne die Chance am Kopf zu packen, in Form von Zusätzen über seine Gesellschaftstheorie, die in bezug auf die DDR nicht uninteressant wäre, oder über die Diskussion seiner Ästhetik in diesem Land etwas zu sagen – war er doch nie wirklich Bayreuther, umgekehrt aber 150 Jahre vor dem Romangeschehen Dresdener Aufständischer, um alsbald als Flüchtiger ein halber Walliser, wenigstens ein versierter Kenner davon zu werden. Ich sage nicht, man müsse eine Beziehung zwischen den Aufständen in Dresden vor nunmehr 170 Jahren und denjenigen Ende der 1980er Jahre herstellen und Richard Wagner mitten hinein als Antrieb in diese Vorgänge setzen. Wenn aber die grosse Kunst ständig im Begriffe ist, angerufen zu werden, soll sie doch ruhig auch im Expliziten zum Zuge kommen dürfen. Denn ist es nicht letztlich falsch, davon auszugehen, dass Menschen, die die Werke schon erfahren haben, in Momenten einer Auseinandersetzung mit Gesprächspartnern oder umgekehrt in der Einsamkeit einer Gefängnis- oder sonstigen Isolation, etwa hospitalis propter, nicht ganz konkret den Werken entlang phantasieren und nur die Namen murmeln von James Joyce, Arno Schmidt u.a. wie Herbert Achternbusch? Joyce’s Werke sind Wühlkisten von Kultur- und Kunstgebilden, mit denen sie sich auseinandersetzen, und die musikalischen sind so stark durchklingend, dass John Cage es scheinbar leicht fallen musste, aus dem Finnegans Wake ein Roaratorio zu schaffen. Schmidt grämte sich ernsthaft darüber, dass die musikalische Welt mit ihm Down Town fällt, so dass er nur mit grossem Lachen Kolderupchen dessen Schallplattensammlung dem kleinen Publikum mit Suse und Nipperli vorspielen liess (Schule der Atheisten 25 und dann jeden Abend wieder) – immerhin zeigte er Mut, Schmidt, gegen die Kulturindustrie, die ihm den Musikgeschmack mit Petula Clark diktieren wollte.

Brand’s Haide heute

Samstag, 9. August 2008

Das frühe kleine Werk von Arno Schmidt über einen Frühlingstag und je einen des Sommers und des Herbstes des Jahres 1946 in einem winzigen Kaff am Rand eben der Brands Haide (auch Brandshaide), einem literarischen Ort geschaffen von Fouqué, dessen Biographie und Werkausschnitte selbst wiederum den Schmidt-Text in nicht bescheidener Breite durchziehen, beeindruckt noch wie vor 57 Jahren, als es erschienen war oder, in meinem Fall, wie vor über dreissig Jahren, als ich es zum erstenmal gelesen hatte. Deutlich wird nun, wie das Widerborstige oder Schwierige nicht nur als Stilmittel oder als eine Verfahrensfrage dasteht, sondern zur innersten Technik des Werkes gehört, die allein seinen intendierten Gehalt zutage schaffen kann. Denn das Spannende heute dieses Werks liegt weniger in der Art und Weise, wie es gemacht ist, weil man sowieso in Kenntnis davon liest, dass die späteren interessanter gebaut sind; den ganzen Nachmittag lang verfolgte ich gebannt, wie die politische und soziale Gefühlslage sich in den Einzelnen zeigt und wie ihr existentielles Weltbild Konturen annimmt. Das geschieht nicht durch Beschreibungen, Zuschreibungen und Deklarationen, sondern durch Konstellationen von bescheidenen Beschreibungsbruchstücken und desto weiteren Auslassungen, die sie zusammenhalten. Das unverhoffte Nichtverstehen einer Passage erscheint als Signal dafür, dass vom Gehalt her Substantielles passiert, das aber so ungeheuerlich ist und so wenig nachvollziehbar erscheint, dass man es nur in der erlebten Spannung zu ertragen vermöchte. Das Ungeheuerliche liegt darin, dass keineswegs davon ausgegangen werden darf, dass faschistische Reaktionsweisen und Dispositionen uns als vergangene erscheinen, die man aus Distanz und innerlich unbeteiligt verfolgen würde. Auch der frühe Arno Schmidt porträtierte für uns allergegenwärtigste Gesellschaftsmitglieder.

Aug in Aug mit dem Angelus novus

Dienstag, 3. Juni 2008

Der Engel der Geschichte, der als Bild Klees mit dem Namen Angelus novus (1920) Walter Benjamin gehörte, von dem er via Bataille zu Scholem und von diesem ins Israel Museum in Jerusalem gelangte, ist seit vorgestern und noch bis übermorgen im Berner Paulkleezentrum nicht nur zu sehen, sondern wegen des diskursiven Gehalts, den er 1940, den Schock über den Verrat der Revolution durch Stalin bestätigend, freigesetzt hat, vielmehr auch zu bestaunen. Man tritt in einen drei Meter hohen schwarzen, geschlossenen aber ziemlich grossflächigen Raum ein, wo das Bild am anderen Ende direkt vis-à-vis auf Kopfhöhe hängt, nur schwach beleuchtet, und selbst diese schwache Beleuchtung teilt ihre Zeit mit Unterbrüchen völliger Lichtlosigkeit. Es ist bunter, als ich es von Reproduktionen oder vom Internet her kenne, und die Zeichnung selbst etwas hässlicher als erwartet. Das Bild ist mit mehr als doppelt so vielen anderen Bildern und Filmwänden umgeben wie auf der Skizze oben eingetragen; gefüllt sind auch die beiden Seitenwände, und, nicht übermässig, der Raum selbst mit Vitrinen, Objekten und weiteren Videostationen. Links neben ihm ist eine ungefärbte Studie mit demselben Motiv; wegen den bislang nicht erlebten Farbtönen verführt das Original zu einer ernsten längerwährenden Betrachtung, die indes nicht wenig irritiert wird durch ein Auto, das unmittelbar dahinter, also an der Seitenmauer des Kleemuseums vorbeifährt. Nach mehreren Minuten merke ich, dass dieses akustische Ereignis nur in einem der vielen Filme, die im Raum ablaufen, vonstatten geht. Das ist wie zuhause im Internet, wo man kaum noch auf Seiten stösst, die einen nicht durch eine infantile Werbung ablenken und einem das Denken rabiat auslöschen wollen. So schaue ich sie mir an, auch die Bilder, Picasso (passend), Hodler (wozu?), Wölfli (wozu?), etc. Aus den Filmen Gewalt und immer wieder nur Blödheit, das Verlorene Paradies (Lost Paradise – Der Blick des Engels, wie die Ausstellung im Ganzen heisst). Die Bilder, Filme und Objekte klären nicht viel auf, aber sie stören auch nicht, und man gewöhnt sich schnell an die Atmosphäre, in der der Angelus novus ganz angemessen sich betrachten lässt und gut seine Wirkung auf einen ausüben kann. Mit tamilisch-schweizerischer Pünktlichkeit wird knapp nach sieben Uhr ein Stromkabel ausgelegt, das einen Staubsauger nährt, der nun gemächlich seine Runden zieht. Die Filmgeräusche zerbröseln unter dem einförmigen Geräusch des windigen Putzgerätes. Der Vorgang entspricht nicht ganz der Intention Benjamins – und es ist längst sein Engel, nicht der von Klee – die Idee der Gleichförmigkeit einer Zeit, in der Geschichte passieren würde, ausser Kraft zu setzen; um so leichter macht er deutlich, dass Benjamins Haltung kaum mehr die unsere ist. Seine Insistenz darauf, dass man über Zeit tel quel sprechen könnte und dass sie in der Geschichte als uneinförmig zu verstehen sei, rechnet damit, dass derjenige eingreift, der die Katastrophen, die der Fortschritt mit sich bringt, als medial mitgeteilte erfährt, wo sie gedeutet werden als Momente des Fortschritts, als Momente derjenigen Verhältnisse, die ihn antreiben. Nie hatte es eine historische Phase oder eine Gesamtgesellschaft gegeben, in der so viel Fortschritt wie heute passierte und ein Bettler, wie ich selbst, von ihm in so hohem Masse profitierte. Obwohl im Fahrwasser der Fortschritte die Katastrophen an Grösse stetig zugelegt haben – man kann die inflationäre Zahl der Menschen nicht mehr aussprechen, die unmittelbar wegen den existierenden gesellschaftlichen Praktiken täglich den vorzeitigen Tod erleiden müssen – und obwohl die Medien professionell täglich von ihnen den KonsumentInnen Bericht erstatten, haben wir weltweit Gesellschaften, in denen die Hälfte der Wählenden denjenigen zujubeln, über die nicht der geringste Zweifel besteht, dass sie als die Akteure und Urheber der Katastrophen zu gelten haben. Dieses Ruinöse der inneren Natur korrespondiert mit dem drohenden vorzeitigen Versagen der äusseren, in dem die Geschichte ist – als ihre beschränkte eigene Zeit. Statt die Aufklärung vorwärts zu treiben und den Menschen das Nachdenken erst einmal möglich zu machen, gebären die Medien fortlaufend das unendlich Viele, in dem das eine vom anderen ablenkt, um auch das Katastrophische vergnüglich zu machen. Wären die grausligen Fernsehsender für einmal wie im Paul Klee Zentrum morgens um sieben Uhr stillgestellt und mit ihnen die abstruse Hoffnung der Rede an die Verdooften durch sie, möchte langsam die Einsicht sich entfalten, dass nicht nur verschiedene Zeiten in der Geschichte zugegen sind, sondern dieselbe, ganz unähnlich der Idee der Zeit, der Natur und ihrer monströsen Gleichgültigkeit, der äusseren wie der inneren, ausgesetzt ist. Vielleicht stünde der Engel der Geschichte nicht wieder so lange betreten im Israel Museum zu Jerusalem.

Fluchtkinder

Freitag, 30. Mai 2008

Ob es eine Vermessenheit wäre und eine Ignoranz gegenüber der Geduldigkeit des psychoanalytischen Wissens, bei einem Kind, das in der Wüste und quasi mutterseelenallein geboren wurde, ausserhalb des Herkunftlandes und noch viel weiter entfernt vom Land des Heranwachsens, nach zwanzig Jahren angesichts der lebenspraktischen Schwierigkeiten aufs Geratewohl zu behaupten, die Art des Geborenwordenseins sei Sinnbild des Lebens, in dem sich laufend wiederhole, sich selbst einer menschenleeren Welt gegenüberzusehen, in der niemand sei, mit dem man in vernünftiger Weise und mit guten Gefühlen in Kontakt treten könnte? Oder soll man es aussprechen, weil das Bild des Fluches der Flucht nur so lange wirksam ist, als es nicht als selbständiges Gebilde erscheint, das man deuten und folglich der Möglichkeit nach auch selbständig als bloss phantasmatischen Unstern zurückweisen könnte?