Es zündet, zündet nicht
In letzter Zeit drängt sich mir eine Bewertungsweise von Arbeiten, Werken und Gesamtwerken in den Vordergrund, die mich auch dann nötig und stimmig dünkt, wenn ihre mögliche Negativität nicht im geringsten mit einer Negativität ihres Gegenstandes zu korrespondieren braucht. Prominente Vertreter von Werken, die mir nicht zu zünden scheinen, obwohl sie nicht mit negativer Kritik zu konfrontieren wären, sind Schumann, Kafka, Benjamin, Beckett, Kurtag, Holliger. Obwohl sie alle Passagen, Werkteile, Einzelwerke und womöglich ganze Werkgruppen verfasst haben, die mich nach wie vor packen und die geschichtlich unverzichtbar sind, haben diese etwas in sich aufgenommen, nicht selten einen Typus von Subjektivität, von dem ich nicht mehr zwingend verspüre, dass ich unter dem Druck bestimmter Fragen oder existenzieller Stimmungen bei ihnen nachlesen oder nachhören sollte. Ihre historische und theoretische Absicherung im ganzen erscheint prekär – als müsste man sich bei ihnen unnötigerweise zusätzlich anstrengen, weil sie sich nur dem Schein nach den Fragen der Zeit stellen, um ungeschollten den eigenen, zu intimen, nachzugeben.
Dass etwas nicht recht zünden will, ist nicht nur Effekt einer schnöden Attitüde gegen aussen, sondern legt sich einem auch in der Selbstkritik nahe. Der Vollzug der begriffslosen musikalischen Analyse der Walliser Alpen reist mir fast den Kopf ab, weil für jedes Bild, das in einem abgesteckten Zusammenhang stehen soll, erinnerungsmässig das ganze riesengrosse Archiv abgefragt werden muss, jeder Bergteil von jedem möglichen Standort aus. Wegen eines einzigen Bildes, La Dent du Catogne, musste die Arbeit für drei Monate ausgesetzt werden (wo dann die Vögel am Fenster wie jeden Winter in den Mittelpunkt traten), weil ich zwar wusste, dass es da wäre, aber erst nach dieser langen Zeit bemerkte, dass ich es zwar immer vor Augen hatte und tatsächlich auch mehrmals anschaute, die gesuchte Felsplatte, die einen Viertel des Bildes abdeckt, aber einfach nicht wahrzunehmen vermochte. Die Realisation verlangt äusserste Anstrengung in äusserster Anspannung, nicht selten auch ein peinliches Unterdrücken von Gebrüll, wenn sich ein bestimmtes Bild nicht finden lässt. Und trotz der Qualen, die im Einzelfall die Lösung immer finden lassen, stehen die Seiten, die nun neu am Wachsen sind, weil La Dent du Catogne vorgestern Nacht endlich wieder erschienen war, für mich da ganz ohne zu zünden. Sie gefallen mir und dünken mich gefällig für ein grösseres Publikum, weil sie in der Tat das ganze Wallis in neuen Zusammenhängen verfolgen lassen und auch die Kräfte des Zusammenhangs spürbar machen, genau so, wie ich es mir über Jahre hin zu phantasieren wagte. Aber niemals sind sie wirklich unbelästigt von der Frage, worin die Erkenntnis im einzelnen oder ganzen zu bestimmen wäre. Als ob zu hoch gepokert worden wäre mit der Behauptung, man müsste das Wallis begreifen wie die Partitur eines musikalischen Werkes des vorwärts treibenden 20. Jahrhunderts, sagen sie zu allem immer auch: und jetzt? Wenn die Antwort in der Analyse in keinem Moment zwingend nachvollziehbar wird und die unanständige Frage aus Not wiederkehrt, fallen die Bildfassaden wie ein Kartenhaus zusammen, hinter dem nichts steht als die öde Fläche, auf der die Dramen der Gesellschaft ihre gewöhnlichen Kapriolen schlagen. Man darf aber nicht davon abrücken, ernste Dinge zu tun, die an den Zusammenhang von Existenz und Politik mahnen, um ein Ende der Despotien gegen die Natur und die Lebenden möglich – und zwingend – erscheinen zu lassen.
Donnerstag, 13. Mai 2010 um 9:42 am Themenbereich: Theorie RSS 2.0 Both comments and pings are currently closed.