Unwissen in der Kulturindustrie

Den Begriffen des wahren Wissens und der geglückten Erkenntnis steht derjenige des blossen unverbindlichen und subjektiven Meinens gegenüber; in regulierten Zusammenhängen, in denen es darum geht, verlässliches Wissen zu schaffen, heisst er Hypothese, in denen des unregulierten und unbegrenzten Alltags ist er der unaufhörliche Begleiter aller äusseren und inneren Empfindungen, wenn über sie, wie nachlässig auch immer, nachgedacht wird und aus ihnen Schlüsse gezogen werden, auch so primitive wie „ich sitze hier und schreibe“ oder „Teufel, die Worte kommen nicht wie gewünscht!“ etc. Der Übergang von der Meinung zum Wissen ist fliessend, und wo jene genügend deutlich gebildet ist und sich dadurch der Kritik exponiert, verwandelt sie sich ohne Zusätzlichkeit in mehr oder weniger allgemein anerkanntes Wissen. Dank gewisser Apparaturen und Technologien der Kulturindustrie öffnet sich auf der anderen Seite des Verhältnisses von Meinen und Wissen ein Graben, der zwar immer schon da war, dessen Ungeheuerlichkeit aber erst heute zum Vorschein kommt und um einiges deutlicher dasteht als eine romantische Ahnung. Die Wendung „sich eine eigene Meinung bilden“ drückt aus, dass es auch ein zumindest zeitliches Vorfeld der Meinung gibt und dass dieselbe in diesem Zusammenhang, auf diesem Terrain, eine Ausnahme, eine Besonderheit oder ein Sonderfall darstellt. Der Normalfall des gewöhnlichen Bewusstseins besteht in diesem neuen Licht nicht aus dem bewussten Meinen und dem triebhaften Verzehren von Launen, sondern aus einem Gemisch, dessen Erscheinungsformen und gesellschaftlich praktische Wirkungen heute erst wenig deutlich und distinkt zur Sprache gekommen sind. Von der Meinung unterscheiden sie sich dadurch, dass sie nicht spontan sind, sondern blosse Impulse oder Reflexe darstellen und, nicht weniger wichtig, dass sie nur lose mit dem einzelnen Subjekt verbunden sind und schnell wieder von sich gestossen und in Abrede gestellt werden. Aber sie sind objektiv da, und löst man sie aus ihrer zeitlichen Gebundenheit, erscheinen sie wie eine normale Meinung, in der immer auch ein Stück Weltsicht und eine politische Disposition zum Ausdruck kommt. Man findet sie in den Internetforen und als Kommentare von Artikeln der Onlinepresse oder von Blogs, in Chatrooms (ich war aber noch nie in einem) und auf Plattformen wie MySpace oder Facebook. Sie bilden sich nicht ausschliesslich im Schutz der anonymen Meute, sondern gleichfalls im freundschaftlichen Gespräch auf Augenhöhe, online oder offline. Und es findet sie jeder in Redlichkeit Geübte als ganze Misthaufen in sich selbst – wo sie ihre biologischen Funktionen ausüben, ohne mit Notwendigkeit ans Licht des gesellschaftlichen Zusammenlebens gezerrt werden zu müssen. Wo ihr Erscheinen in der Gesellschaft geschieht, passiert auch eine Regression und damit die Drohung, als Gewalt eine materielle Gestalt anzunehmen. Wie es umgekehrt einen kontinuierlichen Weg von der Meinung zum Wissen gibt, gibt es nicht die geringste Verbindung zwischen den Pseudomeinungen und wahrer Erkenntnis.

Ein gutes Beispiel dafür, wie über die Bewusstseinsphänome des regressiven Vormeinens zu diskutieren ist, bieten Lukas Gschwend und Christoph Good im Artikel „Rache und Sühne – Wenn Volkes Zorn wächst“ in der heutigen WochenZeitung WoZ: http://www.woz.ch/artikel/2009/nr14/schweiz/17719.html

Donnerstag, 2. April 2009 um 6:33 pm Themenbereich: Theorie                 RSS 2.0 Both comments and pings are currently closed.

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