Lumpenmusik der Geplünderten
Seit 17 Jahren habe ich keine CD mehr gekauft (auch kein Buch, keinen Konzerteintritt, kein Filmbillet etc.), und seit vier Jahren höre ich eher selten ab Scheibe, obwohl ich mich in den kurzen Jahren vor der langen, unfreiwilligen Anschaffungspause gut mit ihnen eingedeckt hatte, später ab und zu kopierte und jetzt die geschlossenen Funkkopfhörer zwischen fünf und sieben Stunden am Tag übergestülpt habe. Diese maximalen, aber keineswegs seltenen sieben Stunden enthalten auf Radio DRS 2 (deutsche und rätoromanische Schweiz) höchstens vier Stunden Wortsendungen, ohne die kleinen, beleidigenden Stundennachrichten: Kontext, Reflexe, Aktuell, Rendezvous, Echo der Zeit, Hörspiel oder Diskothek im Zwei, Wissenschaft Aktuell, Musik für einen Gast, International etc. Alle Sendungen können durch solche von Swiss Classic ersetzt werden, wo keine Wortbeiträge belästigen. Nicht zum Zuge kommen die Sender SWR 2, OE 1, Bayern 4 und France Musique, die von Cablecom zwar angepriesen, aber in einer technischen Qualität gesendet werden, dass ein Hören zur Zumutung wird. Espace 2 wäre sowohl technisch wie inhaltlich empfehlenswert, meide ich aber auf irrationale Weise, wohl weil ich mich per pedes schon zuviel in dessen äusseren, landschaftlichen Räumen aufhalte. Zwischen 22.00 Uhr und 8.30 Uhr höre ich kein Radio, weil ich bis um 3.00 Uhr oder knapp darüber hinaus schlafe und dann eher konzentriert tätig bin. Ein paar Male im Monat geschieht es, dass ausschliesslich Musik gehört wird, ohne Wortsendungen; in diesen Fällen ist der Anteil an Swiss Classic zwischen 50 % und 90 %. Da dieser Sender kaum mehr als fünf verschiedene CDs im Angebot zu haben scheint, halten es mit Bestimmtheit nur wenige Melomane aus, ihn in dieser fast reinen Form mehr als zwei Tage hintereinander zu verfolgen. Nebentätigkeiten zum Radiohören sind Kochen und Essen, in Ausschnitten Fotos Bearbeiten (eine Arbeit, die sich in der Saison bis zu zwölf Stunden am Tag hinzieht), automatisches Durchstöbern von Blogs – nie aber Lesen oder Schreiben. Sobald Musik zu hören ist, muss ich sie verfolgen, und selbst blosses Betrachten von Bildern ist dann völlig undurchführbar.
Der gewöhnliche Musiktrieb zielt, ist er in einem Menschen erst einmal entwickelt, bei jedem musikalischen Ereignis auf die Beantwortung der Fragen, ob er dem Gebilde folgen kann, ob es unerwartete Wendungen oder Klangkomplexe enthält oder ob es gar in der ganzen Substanz als neu erscheint. Keineswegs findet er sein Glück allein im radikal Neuen. Aber die Dialektik von Entdecken und Wiedererkennen, in deren Gestalt er lebt, wird mit Gewalt erstickt, wenn es in einer Musik überhaupt nichts zu entdecken gäbe, auch dann, wenn die Entdeckungen in ihrer blossen Wiedergabe zu machen wären; eine längst bekannte Musik kann immer Neues freisetzen, wenn sie lebendig zur Interpretation gelangt. Die Frage ist, wie in einem Gefäss der Kulturindustrie dieser Trieb befriedigt wird, wenn es doch zu diesen Programmen gehört, nichts vor Händel und nichts nach Dvorák zu senden, also in einer unangetasteten Repetition nur diejenige Musik dem Hören anzubieten, deren sogenannt klassische Struktur nichts Unbekanntes verschlossen hält? Was geschieht mit dem Musiktrieb in der Kulturindustrie, mit demjenigen grossen Anteil des Lustprinzips, der wie dasselbe mit immer mehr Taten immer Neueres erleben, aber im Grunde nur eines ernsthaft will, nichts weniger als neue Welten entdecken? Wird er dank den Techniken und Technologien der Kulturindustrie verfeinert und dadurch rationeller, so dass das Musikleben insgesamt immer interessanter wird? Klar, wer so fragt, meint es gar nicht gut. Er fragt danach, ob derjenige die Ware Musik liebt, mit der er unverfroren dealt und die dort, wo sie wahr ist, immer nur eines sagt, keine Ware zu sein.
Da die beiden Sender DRS 2 und Swiss Classic in der Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft SRG institutionell miteinander verbandelt sind, profitieren sie von der Verwertungsregel, dass Musikstücke innerhalb eines gewissen Zeitrahmens mehrmals ohne weiteren Preisaufschlag gesendet werden dürfen, wenn ihre Autorenrechte schon abgegolten worden sind. Obwohl zu erwarten wäre, dass dieselben Stücke in derselben Interpretation und Aufnahme mehr oder weniger gleichzeitig auf beiden Sendern gehört werden müssten, habe ich das nur selten erlebt. Klammert man die Nachtsendungen und bei DRS 2 zusätzlich die Wortsendungen aus, pflegen die beiden Sender jeweils ein Musikprofil, dem eine gewisse Eigenständigkeit nicht abgesprochen werden kann. Es kommt zwar vor, dass ein Hit auf Swiss Classic in zeitlicher Nachbarschaft auch auf DRS 2 gesendet wird und dies, für den Hörer in ärgerlicher Weise, in derselben Interpretation, aber eine solche Häufung geschieht erstaunlich selten. Noch stärker unterscheiden sich die beiden in der Berücksichtigung des historischen musikalischen Zusammenhangs und der geschichtlichen oder stilistischen Nachbarschaft der einzelnen Werke. Können Werkpassagen der historischen Eckpfeiler Händel und Dvorák auf Swiss Classic Rücken an Rücken vom Stapel laufen gelassen werden, erfährt man auf DRS 2 stilistische Blöcke, die eine ganze beziehungsweise eine halbe Stunde währen können, oder diese halbe wird leicht kontrastierend noch einmal gehälftet. Dank der Moderation werden die Auswahleinheiten kommentiert, wodurch sowohl die Aufmerksamkeit wie der Hörgenuss, mit Ausnahme der Schlagersendung eine halbe Stunde vor Mittag, gesteigert werden. Und doch erscheint diese Differenz weniger entscheidend als die Gemeinsamkeit, die Werke nur in Teilen zu senden, von der Bachsuite den Hut, von der Händelsonate die Unterhose, vom Sammartini die Glacéhandschuhe, sogenannt schöne Stellen, die einen nach ihrem Ende nach Luft japsen lassen, weil nicht kommt, was nach musikalischer Logik zwingend kommen müsste.
Just in dem Moment hatte ich das Gefühl, im Zentrum der Kulturindustrie angekommen zu sein, als ich mich nicht in einem Museum, sondern in einem Altkleiderladen mit Billigstprodukten eingeschlossen wähnte, wo alle Stücke nur zu leicht als Lumpen begriffen werden müssen, nicht als Stücke von Kleidern, die einen Menschen in einem besonderen Licht erscheinen lassen. Ich will nicht behaupten, beim Musikhören auf diesen Sendern immer in eine solche Stimmung zu geraten, als hätte man mich, im Traum eine Strafe ausübend, in einen Verkaufsladen mit abgetragenen Lumpenkleidern gesteckt – aber ist einem dieser Geruch, der auf dem Ganzen lastet, erst einmal in die Nase gestiegen, fühlt man sich in eine tiefe Unstimmigkeit hineinversetzt, als ob man in einem Troupeau mitmarschierte, von dem man weiss, dass er nur Lügen verbreitet. Das bedeutet, dass die musikalische Notlage der Kulturindustrie, der wir nota bene den Zugang zur Musik überhaupt verdanken, ernster ist, als man füglich meint, eine Krise, die sich durch ein paar entschiedene Eingriffe und Korrekturen meistern liesse. Dass das Raubgut der geplünderten Komponisten, der musikalischen Werke und der historischen kulturellen Materialien wahllos aufgetürmt wird, ist nur die eine Seite, die man nicht im geringsten missen möchte; dass beim akustischen Konsum aber die Sinne Stück für Stück eine Abstumpfung erleiden und darin in gleicher Weise als Geplünderte dastehen wie die Gehalte, die doch mit der Absicht vermittelt werden, dass sie sich entfalten können – das ist das wesentlich Falsche der Kulturindustrie. Das Lebendigste, der Trieb, betrachtet die Dinge in der Vermittlung durch die Kulturindustrie nicht mehr so, als ob er mit ihnen, indem er sie untereinander vergleicht, über sie hinausgehen könnte, sondern richtet es sich so ein, dass er sie einfach erträgt, ganz so, wie sie sind. Aber will einer solches, solange er sich als Mensch fühlt und nicht nur als gut versorgter Warenkonsument? Will ich denn das, beim Musikhören verklärten Sinnes einer Lüge gedenken, derjenigen von der Existenz einer gelungenen Kultur, unserer gelungenen Kultur? Will ich im Geniessen von Musik, dem Höchsten, mich ineins fühlen müssen mit dem Gespenst der Abscheulichkeit höherer und insgeheim an nationale Völker gebundenen Kultur, dem dumpfen Wir, von dem mich alles trennt?
Die Bemäkelung der Form der Kulturindustrie ist das letzte Hemd, das einem gelassen wird. Was würde aber von der Kulturindustrie bestehen bleiben und weiter negativ wirken, wenn an jedem Ort ein oder mehrere Sender empfangen werden könnten, die die musikalischen Werke wie gewünscht als ganze senden, ihre historische Einbettung in benachbarte Werke vom selben wie von anderen Komponisten berücksichtigen und, als wichtigstes, im gleichen Masse wie die barocke, klassische und romantische die Musik der früheren Zeiten wie auch diejenige nach Dvorák spielen würden? Würde ein Anstössiges der Kulturindustrie bestehen bleiben, wenn die manifesten Wünsche erfüllt würden und also die Musikvermittlung nicht mehr in so gravierender Weise dem Diktat der kommerziellen Verwertung unterworfen schiene? Oder gibt es nicht in der Tat eine so tief liegende Struktur in der modernen Gesellschaft, dass man sagen muss, die Kulturindustrie herrsche mit Notwendigkeit starr und fest, weil ein anderer Austausch der musikalischen Güter den Vorgang der Vermittlung selbst behindern würde und keinen längeren Bestand haben könnte? Natürlich haben die Fragen eine polemische Seite, die daran mahnt, noch längst nicht alles ausprobiert zu haben, was man im Bereich der Kunstmusik tun könnte. Man muss möglicherweise die Ebene wechseln, wenn man dem Ernst ins Auge sehen will. Angesichts der Seltenheit, in der eine wirklich neue Musik als Kunstwerk noch zur Aufführung gelangt und im Radio gesendet wird, ist der Frage mit mehr Reserve nachzugehen, also ohne eine Antwort jetzt schon bereitstellen zu wollen, ob die Kulturindustrie, derem Wirken auch die KomponistInnen ausgesetzt sind, die Verhältnisse nicht so zurechtzimmert und zurechtbiegt, dass sie ihr schon dann entgegenkommen, wenn noch gar nichts zu ihrer Verwertung geschaffen wurde und also das, was ausserhalb ihrer Instanzen geschehen will, nur als Eigenbrötelei, als Privatkunst ohne Recht auf gesellschaftliche und zeitgenössische Anerkennung passiert, als unbeabsichtigtes Nebengeräusch, das man geschehen lassen kann, weil sowieso keine Einzelnen die Fähigkeit und Lust mehr hätten, das Besondere seiner Beschaffenheit wahrzunehmen. Man weiss nicht, ob überhaupt noch etwas geschieht; vermittelt wird es jedenfalls nicht. Wo man von Kulturindustrie redet, ist es langweilig und muffig; aber da wären keine Fenster und keine Türen im Betrieb, so dass man sowohl aussen wie innen stehen könnte. Dass es so still ist in Gegenden, wo Stücke Neuer Musik einst blühten, zeigt, dass die Kulturindustrie mit ihren Kräften stärker am Spielen ist als einem recht sein sollte.
Sonntag, 5. April 2009 um 4:24 pm Themenbereich: Musik, Theorie RSS 2.0 Both comments and pings are currently closed.