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Musikgeschichtlich Abschliessende

Donnerstag, 18. Februar 2010

Nach dem mehrmaligen Hören der zwei Streichquartette Bergs mit dem LaSalle Quartett gestern verfolgte ich diejenigen Weberns, nicht mit den Partituren, die in den Büchergestellen vergraben sind, aber immerhin mit den Tempobezeichnungen aus dem grossen Booklet. Wieder einmal kam es zur Erfahrung, von der schon einige meiner Generation zu erzählen wissen, dass derjenige, den man in der Jugend am meisten favorisierte, Webern, peu à peu verblasst und die Musik von Berg einen immer stärker und gehaltvoller dünkt. (Das Verhältnis zu Schönberg ist von dieser Spannung nicht betroffen – phasenweise setzt man sich mit ihm auseinander, mit unangetasteter Begeisterung, darauf folgen Zeiten, wo seine Musik im Hintergrund bleibt und, weil die Radiostationen verantwortungslos programmieren, auch „zufälligerweise“ gar nicht mehr gehört wird.)

Diese Erfahrung ist über die ganze Geschichte der Musik verstreut zu machen, dass Komponisten, deren Werke objektiv in keiner Weise von negativen Qualitäten betroffen wären, trotz unbestrittener Meisterschaft einem erscheinen, als ob in ihnen die Musikgeschichte zum Erlahmen komme und nicht mehr weitergehen wolle – als ob sie nicht vom künstlerischen Willen besessen gewesen wären, dass Musik immer darin bestehen müsse, zu neuen Horizonten aufzubrechen. Mit etwas Peinlichkeit und ohne Vermögen, die Urteile in den Kompositionen als Texten selbst nachvollziehbar machen zu können – als wäre im Detail falsch komponiert worden – dünkt es mich nichtsdestotrotz erhellend, die historischen Komponisten in zwei Typen einzuteilen, in diejenigen, die die Musik vorwärtstreiben und diejenigen, die eine Phase abschliessen. Die Vorwärtstreibenden treten hinaus an die frische Luft, die anderen schliessen die Tür hinter ihnen zu oder, um Poe noch nicht ganz zu verlassen, die einen schliessen die Musik ein, als ob sie sich nicht mehr weiter entwickeln dürfe, andere treten die verschlossene Türe wieder auf, wie General LaSalle. Entscheidend ist nicht, was im Material herauszulesen ist und was eine nachfolgende Generation daraus für Schlüsse zieht, sondern was der Künstler in den einzelnen Werken daraus gemacht hat; entscheidender als das Material ist die ästhetische und philosophische Haltung, in der die Töne gesetzt worden waren.

So kommt es, dass heute, nachdem der Materialstand in Weberns Musik keine Unbekannte mehr enthält, anders als in der Mitte des 20. Jahrhunderts Webern stärker in den Sog der unprogressiven Komponisten und Komponistinnen zu geraten droht und denjenigen zugeordnet wird, bei denen die Vorstellung während des Hörens ihrer Musik schwierig ist, wie denn aus derselben etwas Neues entstehen sollte. Webern empfinde ich heute eher auf der Seite stehend von Händel, Mozart, Schumann (diese Musik erscheint mir seit je wie geschichtlich vakuumisiert), Mendelssohn, Tschaikowsky, Mahler, Sibelius, Strawinsky, Boulanger, Rihm. Umgekehrt macht es keine Mühe, Berg den Vorwärtstreibenden beizugesellen wie Monteverdi, Bach, Beethoven, Schubert, Wagner, Mussorgsky, Debussy, Ravel, Schönberg, Varèse, Cage, Boulez, Stockhausen, Nono, Saariaho.