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Wahrheit

Mittwoch, 22. August 2018

[Weil Quora noch nicht bekannt ist, poste ich hier einen frischen eigenen Text. Die Frage steht anonym im „Forum“, die Antworten werden mit Autorennamen daruntergestellt. Die Frage hier lautete (und stammt also nicht von mir): „Existiert so etwas wie die absolute Wahrheit, und falls es so etwas wie die absolute Wahrheit nicht gibt, was ist dann die „Wahrheit“?“]

Von der Wahrheit sagen, dass es sie gibt, heisst die menschliche Vernunft rechtfertigen. Bevor man die Rechtfertigung durchführt und also Philosophie betreibt, innerhalb der Institution der Universität, in der Obhut einer Gruppe oder allein, muss man sich klarmachen, dass die Vernunft, die zur Wahrheit fähig ist und Wahrheit garantiert, jedem Menschen an jedem Ort und jederzeit zugeschrieben werden muss. Die philosophische Wahrheit, die Wahrheit in der Vernunft oder die Vernunft selbst kann nur als universelle begriffen werden – oder sie wäre nichts. Auch wenn Kulturen an verschiedenen Orten und zu verschiedenen historischen Zeiten sich völlig unterschiedlich entfalten und nicht auf ein einziges Modell der menschlichen Vergesellschaftung zurückgeführt werden können, ist die Vernunft in jedem weiblichen oder männlichen Neugeborenen, Varianten inklusive, auf identische Weise angelegt. Die Identität der Vernunft betrifft nicht nur die Verschiedenheit von Gesellschaften, sondern selbst der Individuen in ihren Vielfältigkeiten. Die Geschichte der Philosophie hat schon früh das Wahre mit dem Guten zusammengedacht; trotzdem ist ohne Umstand den Bösen und Asozialen Vernünftigkeit zuzusprechen. Auch Menschen, die nicht fähig sind, sich selbst ohne Beistand am Leben zu erhalten, verkörpern die Vernunft. Am schwierigsten ist vielleicht die Frage nach dem Wahnsinn, den man spontan immer noch als das Andere der Vernunft versteht: ist es nicht schon ein befriedigender Fortschritt einer Gesellschaft, wenn sie die Wahnsinnigen fürsorglich behandelt statt vom Gesellschaftsleben auszuschliessen? Nein. Selbst der Wahnsinn muss als Moment der Vernunft gerechtfertigt werden, wenn Vernunft tel quel und also überhaupt gerechtfertigt werden soll. Sein Einschluss muss deswegen im Auge behalten werden, damit das philosophische Subjekt, das die Rechtfertigung durchführt, den eigenen Wahrheitsanspruch nicht verabsolutiert. Wenn der Wahnsinn ausgeschlossen bliebe, wie in aller traditioneller Philosophie, würde die philosophische Vernunft, die sich rechtfertigen soll, eine Art Selbstermächtigung durchführen: sie wäre die alleinige Instanz zur Beurteilung der Gültigkeit ihrer Behauptungen, weder durch Tatsachen noch durch Argumentationszusammenhänge in Frage zu stellen.

Man sieht leicht, dass die Anforderungen an die Theorie durch die Erfahrungen der Geschichte heute heikler sind als vor 2500 Jahren. Trotzdem muss man sich auch auf die alte Philosophie beziehen, wenn man nicht triviale Fehler wiederholen will. So bewegt man sich also, wenn die Wahrheit das Ziel ist, in einer Art Flickwerk, in dem kein glatter Optimismus zu erwarten wäre und keine Lehre in der Theorie, die die Praxis erlösen würde. Aber es ist nichts anderes als ein Zeichen der Lebendigkeit der Vernunft, wenn sie nicht perfekt ist oder sich nicht perfekt darstellen lässt. Denn schlimmer als die blosse Vorläufigkeit oder Unvollkommenheit in der Darstellung ist die explizite Verleugnung der Wahrheit im scheinbar so offenherzigen, quasi bescheidenen Skeptizismus. Er ist schlaff da, wo Menschen es nicht mehr sein dürften: wenn Scharlatane sich formieren und ein Gaukelspiel vom Zaun brechen, das ohne Scham die Wahrheit, und damit die Menschen, mit Füssen tritt.

Das Verhältnis zur Idee der Wahrheit ist weniger das eines Wissens als das des Vertrauens: in die Natur, in den Gesellschaftsprozess, in sich selbst. Vertrauen ist nicht Glauben und stellt sich gegen die Verführung, Wahrheit absolut zu denken; solche Wahrheit war schon in der traditionellen Philosophie eine blosse Unterkategorie, ein Eindringling aus der Domäne der Theologie, der in der Theorie zu Fehlschlüssen führte.