Archive für 31. Oktober 2010

Mahler, Strauss & Straw

Sonntag, 31. Oktober 2010

In der Philosophie gehören die widerständigen Autoren und Autorinnen deswegen zu ihrer Geschichte, weil sie das Diskursive des Begriffs erst ermöglichen; dadurch sind sie notwendig und wecken das Interesse für eine subversive Lektüre der Philosophie überhaupt. Eigenständige, durchgestaltete, wenn auch unabgeschlossene Philosophien bilden sie erst nach dem Ende der Philosophie als System. Nach Hegels Tod wird jede Philosophie verdächtig, die ein System intendiert, einen Standpunkt fixiert oder eine Lehre beabsichtigt. Keine Philosophie repräsentiert diese noch einmal insgesamt; jede ernst zu nehmende widerspricht ihr – oder macht ihre eigene Begrenztheit zum Thema.

Die musikalische Geschichte enthält zwar auch widersprüchliche Tendenzen, immer aber innerhalb eines begrenzten Zeitraums. Einem Zeitstil widersprechende Musik ging jeweils rasch wieder verloren, weil es in der Kunst Lust machte, Neues zu schaffen, sobald technische oder ästhetisch-legitimatorische Schranken fielen. Erst seit wenigen Jahrzehnten werden KomponistInnen, die nicht gemäss den herrschenden Standards Werke schufen, als historische Trouvaillen verdienstvoll zu Bewusstsein gebracht. Nach Wagner (mit Debussy und Ravel) aber vermochte sich neu eine Musik gegen die neue, wahre und zeitgemässe, gegen Schönberg zu etablieren, die sich nicht nur bruchlos halten konnte, sondern nach wie vor die ernste Kunstmusik künstlerisch wesentlich konkurrenziert. Obwohl der geschichtsphilosophische Wahrheitsbegriff auf dem Feld der Musik nicht mit dem der gesellschaftlichen Theorie zu vergleichen wäre, ist das Verhältnis der musikalischen Kunst von Mahler, Strauss und Strawinsky zu derjenigen von Schönberg, Nono und Boulez, zur Geschichte der Musik als Kunst überhaupt, doch erstaunlich – als ob eben etwas unverleugbar Unwahres über eine scheinbar unabschliessbare Zeit hin mit dem Wahren einen Konkurrenzkampf zu bestreiten vermöchte. Gustav Mahler hatte keinen leichten Start, wurde aber nach dem Zweiten Weltkrieg immer offensichtlicher zu einer künstlerischen Grösse, die mit dem Älterwerden unablässig künstlerische Schätze freisetzt, auch solchen, die ihm anfänglich nicht recht trauen wollten. Strauss hatte einen fulminanten Start, beeindruckte alle von Anfang an (unverzeihlich, wie Varèse ihm huldigte) und genoss den Ruhm durch alle Reiche hindurch. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine kurze Schweigezeit – heute wird seine Musik nicht nur den ganzen Tag lang auf deutschen Sendern gespielt, sondern im musikalischen Diskurs peu à peu auch gegen die von Mahler aufgewertet. Das stärkt den Unangenehmen auf unangenehme Weise, denn auch geschätzte Künstler wie Rihm und Lachenmann sitzen diesem Trend auf. Strawinsky steht anders da, weil er in einer offenen Auseinandersetzung mit der Kunst seines Gegenparts spielte. Leider unterstützte seine künstlerische und menschliche Souveränität die frühe Tendenz in ihm, die neu zu schaffende Musik nicht mit der aktuellen Gesellschaft verschwistert sehen zu wollen und das Neue generell nicht als wesentliche Kategorie zu anerkennen. Diese forcierte Apathie drückte mir gestern Abend wieder auf den Magen, als France Music ein Konzert brachte, auf das ich mich tagsüber freute, mit frühen Stücken, vor 1920, am Schluss noch den Rossignol, eine Kurzoper, die ich musikalisch eigentlich ganz gut mag, wenn auch den Kitsch in ihrer Geschichte entschieden nicht. Obwohl L’Histoire du Soldat gar nicht gespielt wurde, war mir dieses missratene Stück ständig in den Ohren, und ich bezog alles Geschehen und alle Wendungen in diesem Konzert, die mir ansonsten eher gut gefallen, mit Widerwillen auf es. Es gibt kein glückliches Zuhören im Unwahren, zuweilen nicht einmal ein interessiertes.

„Experimentelles“ Traumdispositiv

Sonntag, 31. Oktober 2010

Vorbemerkung: Diese Notiz geschieht allein wegen der Art des unterbrochenen Träumens, wo wache Phasen mit träumenden über einen längeren, ausgedehnten Zeitraum alternieren, ohne dass ein bestimmtes Thema verlassen würde – nicht wegen den Trauminhalten selbst.

Ich fahre nach einer Tour im Postauto zurück, wahrscheinlich vom Grimsel, zuhinterst im Bus. Noch weit oben, nach weniger als zwanzig Minuten, schaue ich in einer Kurve zurück und sehe, wie man an dieser Stelle, in der Kurve, einen Grat zu sehen bekommt wie unmöglicherweise in solcher Eindrücklichkeit an einem anderen Ort – sowohl die Perspektive wie die Distanz und die Blickhöhe könnten besser nicht sein. Da es nicht in Frage kommt, den Bus anzuhalten, einmal wenden zu lassen, zurückzufahren, dann wieder wenden und an der besagten Stellen stoppen zu lassen, damit ich mehrere Bilder machen könnte, knapp vor, genau an und knapp nach der optimalen Stelle, fahre ich im Bus nach Hause. Das ist nicht Bern, sondern wie in vielen noch gar nicht so viel früheren Träumen der alte Busbahnhof von Luzern. Ich überlege, was zu tun ist, mache mich parat zum Duschen, weiss aber nicht recht, wo ich den Rucksack mit den Kleidern, in denen auch noch fünfzig Franken drinstecken, deponieren soll, ohne dass er geklaut wird. Nun wache ich zum ersten von nicht wenigen Malen auf, sage mir, dass zu duschen gar nicht nötig sei, und suche, nun wieder träumend, einen Platz zum Telefonieren – ob mit einem Handy oder in einer Telefonkabine, ist nicht klar (ich habe am Tag via Zeitung auf Youtube die Sequenz in einem Charly Chaplinfilm gesehen, in der eine Frau mit einem Handy am Ohr eindeutig telefonierend durchs Originalbild aus den Zwanzigerjahren läuft). Ich überlege Verschiedenes und telefoniere mit Verschiedenen, nicht wenige Mal mich auch fragend, ob ich aufstehen solle, ich würde ja doch nicht mehr träumen sondern nur willkürlich traumphantasieren. Durchführbar ist die Idee, dass U.R.d.Ä., der allerdings wie ich selbst kein Fahrpatent hat (was im Traum nicht thematisiert wird), mit einem Lastwagen aufkreuzt. Wir fahren vom Inseli los und sind sehr schnell auf der Grimselpassstrasse in der Kurve, wo die Bildaufnahme auf dem Dach des Lastwagens mit einem Dreibeinstativ, woher es auch kommen mag, tadellos gelingt – es ist nach diesem langen, unterbrochenen Träumen derselbe unwirkliche lange und messerscharfe Grat geblieben, den man unmöglicherweise an einer anderen Stelle auf so beeindruckende Weise hätte fotografieren können.

Das „Experimentelle“ im Titel bezieht sich auf den Traumvorgang und steht in Anführungszeichen, weil es fürs Träumen keine Planung gibt. Fürs Fotografieren der Animation wurde ein grosses Messer auf ein Badtuch geklebt, das über einem Stativ liegt. Im Büchergestell blitzt der externe Flash in der genauen Position der Sonne im Traum. Das Ganze geschieht vor der weissen Stubentür, dem einzigen Fleck in der Wohnung ohne Bild oder sonstige störende Struktur. – Die ersten Bilder wurden äusserst kompliziert sitzend am Tisch mit kleinen Messern durchgeführt; was im Traum besonders erschien, das Bild direkt in der Gratlinie, war dort noch weniger sichtbar als mit dem grossen Messer stehend fingiert.