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Debussy, Adorno, Boulez

Freitag, 20. Dezember 2019

CD: Debussy, Adorno, Boulez

Gesamtpartitur

1. Jeux. Debussy 1912 (Transkription Leonor Dill 2018), 13.20 // 2. Klavierstück. Adorno 1920, 2.25 // 3. Klavierstück. Adorno 1921, 2.40 // 4-6. Drei Klavierstücke für Maria Proelss. Adorno 1924, 5.05 // 7. Vier Lieder für eine mittlere Stimme und Klavier, op 3. Adorno 1928, 9.20 // 8-9. Anfang der Zweiten Klaviersonate von Boulez 1950, 0.41 und Ende der Vier Lieder von Adorno 1928, 1.23 // 10. P.K.B. Eine kleine Kindersuite. Adorno (mit Gretel) 1933, 4.16 // 11. Zwei Propagandasongs von Brecht. Adorno 1943,1.54 // 12. Drei Gedichte von Theodor Däubler für Frauenchor. Adorno 1923 und 1945, 4.5 // 13. Drei kurze Klavierstücke. Adorno 1934 und 1945, 1.47.

Zusatz: Adornos Versuch von 1928, die Avantgardemusik in Gang zu setzen

Hauptstück dieser CD ist die kurze Passage von Boulez- und Adornoausschnitten in den Nummern 8 und 9; der Rest ist Beiwerk des Realismus und setzt der These mässigende Schranken. (Die CD lässt sich ohne Blick auf ein Display durchhören: das entscheidende Stück ist das erste mit einem Zusatz zum Klavier, die Vier Lieder op. 3 von 1928 – danach kommen die Nummern 8 und 9 wieder mit Klavier allein.)

1. Beim Abschreiben von Jeux, in fünf Tagen bis vorgestern, zeigte sich, dass diese Musik eine vergleichbare Komplexität aufweist wie die von Adorno in einigen seiner Kompositionen, aber durchgängig als genial qualifiziert werden darf. Man erfährt während der Arbeit einen ungetrübten Genuss bei jeder der vielen Hörkontrollen (Export der MIDI-Datei aus dem Notationsprogramm MuseScore, langwieriges Anpassen des Instruments in Falcon und Cubase, Export auf einen USB-Stick und eigentliche Kontrolle mit der Stereoanlage unter Kopfhörern). – Die Transkription von Leonor Dill verdient mehr Aufmerksamkeit.

2-3. Wiesengrund-Adornos erste Kompositionen. Auch heutige Teens komponieren in ähnlicher Weise ungelenk und prahlerisch. Es ist nicht nur als Witz gemeint, wenn man das erste Stück als Rockmusik darstellt (Video auf Youtube, mit Bildern von Amorbach, wo die Musik in den Ferien entstanden ist).

4-6. Maria Proelss war nur wenig älter als Adorno und wirkte als anerkannte Konzertpianistin (später wurde sie Kunstmalerin). Man hält es beim Abschreiben der Noten fast nicht aus, so stark triumphiert der Manierismus in diesen drei Klavierstücken. Werden die Schwierigkeiten der Notation von Debussy beim Hören sinnfällig, bleiben sie hier hohl. Kein Wunder, hatte die Widmungsträgerin dieses Werk nie aufgeführt.

7-9. Die Vier Lieder op. 3 hatte Adorno favorisiert wie kein anderes seiner Werke (der frühere Variationensatz des Streichquartetts wäre mindestens so wichtig, muss aber in einem ganz anderen Zusammenhang diskutiert werden als im gesetzten Thema hier). Man hat es mit einem polyphonen Geflecht zu tun, das nur dem einen Gott huldigt: fugir le consonante. Auch Rhythmus- und Taktwechsel gehorchen dem künstlerischen Programm, der Dissonanz alles zu opfern. Die einfach gehaltene Solostimme muss dann jede Winzigkeit und jede Grobschlächtigkeit auf sich nehmen, die als Harmonie gedeutet werden könnten.
Im Hinblick auf das Gesamt der Kompositionen von Adorno haben Berg und Schönberg richtig entschieden, ihm vom Beruf des Komponisten abzuraten. In den Vier Liedern op.3 haben sie aber nicht sehen wollen, dass Adorno den Karren der Neuen Musik weit in Zukunft hinaus gezogen hat. Mit Fug kann Adorno der heute muffige Begriff des einsamen Avantgardisten avant la lettre zugeschrieben werden.
Wie auch immer: entscheidend zu sehen wäre, dass dann, wenn man in Zweifel gerät über Adornos Haltung zur Neuen Musik – ernsthafter Fürsprecher oder doch konservativer, distanzierter Kritiker – auf eine Eigenproduktion hingezeigt werden kann, die eindeutig vorwärtsweisende Merkmale besitzt, Boulez regelrecht vorwegnehmend. Und sie war kein Neben- oder Zufallsprodukt in den Augen des Komponisten, sondern Beleg seines ästhetischen Willens.

10-13. Als Freizeitkomponist hat Adorno nach 1928 die Zügel der Anstrengung wieder fallen lassen. In der Musik zeigt sich dasselbe Bild wie in den Arbeiten der diskursiven Deutung und im Persönlichen: progressive Tendenzen sind krud nostalgischen untergemischt.