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Die Zweite Klaviersonate in Analyse (2)

Donnerstag, 20. Juli 2006

Je mehr einer die Analysen der musikalischen Werke zwischen 1945 und 1970 nachvollziehen kann, weil das Schreiben über diese dichte Musik immer klarer wird, desto grösser wird die Bewunderung für die einzelnen Komponisten dieser Zeit, weil der „Anteil“ des künstlerischen Gestaltungswillens gegenüber dem angeblich rein kalkulierten Organisatorischen immer stärker hervortritt. Eine dieser grossartigen neueren analytisch-diskursiven Arbeiten ist die Dissertation von Inge Kovács, Wege zum musikalischen Strukturalismus – René Leibowitz, Pierre Boulez, John Cage und die Webern-Rezeption in Paris um 1950, Schliengen 2004. Sie folgt einer ganz ähnlichen und gut vergleichbaren Fragestellung wie Barbara Dobretsberger in Première und Deuxième Sonate von Pierre Boulez – Phänomene strukturalistischen Denkens, Frankfurt am Main 2005. Die Vorzüge der beiden Bücher ergänzen sich wie abgesprochen: Liegen die Stärken von Dobretsberger in den detaillierten Analysen und der Vermittlung derselben, so diejenigen von Kovács in der Aufarbeitung des historisch-sozialen Prozesses, in dem der Begriff der Struktur in die Musik Einzug zu halten beginnt. Allerdings fehlt Kovács gerade das, was einem nicht zuletzt durch die Lektüre auch ihres Buches aufgeht, das Verständnis für das Künstlerische im Kompositionsvorgang: mit den treuen Augen der Musikologie klebt sie an den veräusserbaren Vorgängen und an den veräusserten Materialien. Dass da einer mit ihnen sein musikalisches Ohr unterstützt, und dass dieses kompositorische Hören, sei es mit Regeln, sei es spontan ohne, allem Komponieren vorrangig ist, tritt in ihrem Text sosehr in den Hintergrund, dass man fast meinen müsste, sie hätte das Interesse an dieser Kunst zunehmend verloren.
Das Buch hat vier Teile. Der erste und der vierte diskutieren die Entstehung des Strukturbegriffs in der Musik und die späten Debatten um ihn sowohl im ideologischen Feld wie in dem der Musik selbst. Die zwei mittleren Teile analysieren die Werke von Leibowitz, Boulez und Cage, die in diesem engen Zeitraum entstanden waren, als in ihren Texten und Briefen von Struktur anfänglich die Rede war – fast ausnahmslos, aber ständig aus anderer Perspektive, das Verhältnis Webern-Schönberg problematisierend. Ohne Abstriche überzeugt der erste Teil, weil er unmissverständlich klar zu machen vermag, dass in der Entstehungszeit der musikalische Strukturbegriff nicht im mindesten mit demjenigen in Verbindung gebracht werden darf, der sich in der Linguistik und in der französischen Ethnologie (qua Strukturaler Anthropologie spätestens ab 1945) hat etablieren können.
Die Autorin erwähnt alle Texte, die für die Diskussion Strukturalismus und serielle Musik nötig sind, alle aus dem Strukturalismus und alle strukturalismuskritischen – aber sie stehen nur herum wie isolierte Ornamente, als ob eine Vermittlung gar nicht beabsichtigt gewesen wäre. Gegenüber dem Titel des Buches, in dem die Existenz eines musikalischen Strukturalismus behauptet wird, erscheint es als Fahrlässigkeit, dass nicht darüber gesprochen wird, wie der Strukturalismus mit der Pensionierung von Claude Lévi-Strauss in Vergessenheit geraten ist und der Begriff des Neostrukturalismus, der die analytischen Prozesse des Strukturalismus als Wissenschaft abgekoppelt sehen wollte von einer totalisierenden Reintegrierung der allgemeinen Struktur in die Natur, sich nicht hat durchsetzen können wie umgekehrt in der Musik der Begriff Idee der seriellen Musik – von der sich die jüngere Generation allerdings partout in ihren ersten Momenten hat lossagen wollen. (Statt Neostrukturalismus quälen uns seither Poststrukturalismus und Postmodernismus, Begriffe, die kein präzises Verständnis der Zeit und der Umstände voraussetzen, von denen sie sich abheben wollen.) So wundert es nicht, dass Umberto Eco nicht aus seinen längeren, nicht wenig sachkundigen Werken zitiert wird, sondern nur aus einem kurzen französischen, quasi journalistischen und von der Autorin jedenfalls bloss polemisch verstandenen. Das erscheint dann als zu schmale Basis, um seine klare Unterscheidung zwischen ontologisch struktural und offen strukturell zugunsten einer nebulösen Identifizierung der Komponisten mit „dem“ Strukturalismus zurückzuweisen. So gut das Buch dasteht, die Seiten 164f und 255 sind missglückt, weil sich nichts daran ändern lässt, dass alles das, was sich musikalisch als struktural begreifen lässt, auch auf die tonale Musik zurückgeführt werden kann. (Nota bene besteht in der strukturalen Anthropologie kein Platz für musikethnologische Fragestellungen – jeder Winkel ist für Richard Wagner reserviert.)
Inge Kavács‘ Unentschiedenheit im Urteilen über die Frage nach dem Zusammenhang von Strukturalismus und serieller Musik steht Barbara Dobretbergers fast paranoische Identifizierung der beiden historischen Gebilde gegenüber. Dass Boulez kunstvoll mit den Zwölftonreihen umzugehen weiss und nicht „ehrfürchtig“, wie Kavács in Anmerkung 37 Seite 262 meint, zeigt allerdings umgekehrt gerade eben Dobretsberger in ihren didaktisch durchdachten, nichtsdestotrotz sehr komplexen Analysen, die ungleich Kovács dem, was bereits analytisch diskursiv vorliegt, äusserst kritisch gegenübersteht. Nichtsdestoweniger will sie wie unter Zwang und gegen alle theoriegeschichtliche Informiertheit die serielle Musik als Variante des Strukturalismus verstanden wissen. Kovács ihrerseits arbeitet die eigenständige, quasi interne Konsolidierung des Strukturbegriffs in der Musik heraus, positioniert dann aber zumindest Pierre Boulez wieder trotzdem in der Nähe des orthodoxen Strukturalismus, weil sie ihren eigenen Analysen zuwenig vertraut und das Komponieren während der Mitte des 20. Jahrhunderts eben doch mehr des abstrakten Kalkulierens verdächtigt als dass sie bereit wäre, die wunderbare Wirkung, die einzelne Werke daraus uns verschaffen, zuvorderst die Zweite Klaviersonate (die beide Autorinnen reihenalytisch übrigens verschieden deuten), im Reden über sie mit zu berücksichtigen.
Lokaler Zusatz: Leider ist mir ein sozial Zwielichtiger in der Lektüre zuvorgekommen. Das Buch steht knapp ein Jahr in der Bibliothek und ist schon jetzt vollgekratzt, vollgestrichen und überpalimpsiert. Brrrr! Es gehörte auch zum Propädeutikum des Wissens, zur Kenntnis zu nehmen, dass man im Umgang mit ihm nicht alleine dasteht. Weil aber den Attacken eine nicht wenig sachkundige Lektüre zugrunde liegt, die auch einige Flüchtigkeitsfehler hat dingfest machen können, darf das Urteil, für den Rest des Lebens im untersten Bibliotheksverliess alle alten, selbstredend ihrerseits anonymen Ankreuzungen auszuradieren, nur bedingt ausgesprochen werden.
PPS (21.7.06, 11.30 Uhr): Bäääh, da ist er schon wieder, The Greasy Finch, heute in Ulrich Mosch, Musikalisches Hören serieller Musik, Saarbrücken 2004. Und morgen?