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Die Zweite Klaviersonate in Analyse (1)

Samstag, 15. Juli 2006

Vom Strukturalismus sprechen und vom Kategorienpaar Natur/Kultur schweigen ist fahrlässig. Solches widerfährt Barbara Dobretsberger in ihrer Habilitationsschrift Première und Deuxième Sonate von Pierre Boulez – Phänomene strukturalistischen Denkens, Frankfurt am Main 2005. Das äussere Ziel wird verfehlt. Obwohl sie die prominenten Seiten aus den Mythologica I, 41-45 von Claude Lévi-Strauss erwähnt, wenn auch in ihrem Text sehr merkwürdig immer nur indirekt und ausser auf Seite 26 nur in wenigen Anmerkungen, ignoriert sie das Problem, wie es im Strukturalismus selbst schon formuliert worden war, dass ein Gegensatz zwischen ihm und der Seriellen Musik besteht, weil er seine Untersuchungsobjekte mit dem Streben nach Wissenschaftlichkeit in die Natur reintegrieren will und die Neue Musik gänzlich auf der Seite der kulturellen Produktion verbleibt. Wieso die Autorin trotz der widersprechenden historischen Tatsachen ihre These verteidigt, kann in der Lektüre nicht nachvollzogen werden. Soweit ihr Buch vom Strukturalismus spricht, ist es dunkel bis schwarz, und wenn Deleuze als Linguist angesprochen wird und Derrida als Postmodernist, wähnt man sich im fortgeschrittenen Verwesungsprozess der Kultur in die Natur. Wäre die Spur einer Einsicht da in wissenschaftssoziologische Zusammenhänge und mehr Widerwillen gegen willkürliche Lexikoneinträge, könnte der Untertitel durch eine kleine Abänderung gerettet werden; mit weit weniger Problemen zeigte er sich erst in der Umkehrung zu „Phänomene strukturellen Denkens“.
Das innere Ziel als Sprechen über die zwei ersten Klaviersonaten von Boulez zeigt sich ganz anders: einsichtig, konturenreich und eminent bedeutungsvoll. Nicht nur bewegt sie sich den musikalischen Texten gegenüber virtuos, sondern präsentiert ihr Wissen didaktisch so geschickt, dass die Erkenntniselemente auch weniger Versierten zugänglich werden. Zudem gibt sie weiten Einblick ins nicht veröffentliche Frühwerk des Komponisten, so dass man einen fast lückenlosen Zusammenhang der Anfänge der seriellen Musik zu fassen bekommt. Die Bewunderung gegenüber Boulez wird dadurch bis in alle Fasern nicht nur gefühlsmässig sondern auch diskursiv gerechtfertigt.