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Boulez: Prélude, Toccata, Scherzo (1944)

Samstag, 17. Oktober 2020

Hat man die frühen Stücke von Pierre Boulez gut im Ohr (12 Notations 1945, Flötensonatine 1946, Erste Klaviersonate 1946, Zweite Klaviersonate 1949/1950), fragt man sich, wie denn noch frühere Schreibversuche dastehen würden. Öffentlich aufgeführt wurde davon kaum etwas und publiziert gar nichts. Aber im Archiv der Paul Sacher Stiftung wird ein 27minütiges Werk in drei Teilen aufbewahrt, das Boulez nicht selbst verschwinden lassen wollte und das solche Phantasien konkretisiert.

Ralph van Raat studierte die Noten der drei zusammenhängenden Stücke Prélude, Toccata und Scherzo von 1944 und fragte um Erlaubnis, sie aufzuführen. Offenbar zögerten die Verantwortlichen zuerst, gaben die Erlaubnis zu einer einzigen, einmaligen Aufführung, dann zu weiteren, schliesslich zur Veröffentlichung auf CD: Ralph van Raat, French Piano Rarities – Boulez, Debussy, Messiaen, Ravel. Naxos 2020. (In der Schweiz möglicherweise nicht aufzufinden, importierbar jedoch bei jpc.de für 9.99 Euro, ohne zusätzliche Kosten).

1944 geht Boulez nach Paris (die Ereignisse der Befreiung geschehen Ende August) und wird Schüler von Messiaen und Andrée Vaurabourg-Honegger, bald offizieller Schüler des Konservatoriums. Zu René Leibowitz findet er erst 1945: bei ihm, der in der Pariser Resistance aktiv war, schreibt er Stücke von Webern ab und lernt die Musik von Schönberg kennen. Zur Zeit der Komposition von Prélude, Toccata und Scherzo kannte er partienweise die Musik von Olivier Messiaen und Arthur Honegger, nichts aber von Arnold Schönberg.

Da in allen Stücken Messiaens Vogelstimmen en passant aufblitzen, dürften die Stücke nicht schon in Montbrison oder Lyon geschrieben worden sein. Wurden sie noch im Jahr 1944 fertig, muss der Komponist wahnsinnig schnell geschrieben haben. Allein diese Zeitdimension ist Zeugnis einer ausserordentlichen Begabung.

Je öfter man die Stücke heute hört, desto mehr entsteht der Eindruck, es mit zwei Arten von Musik zu tun zu haben, denn peu à peu verblassen die Merkmale des Fremden, Frühreifen oder Vorläufigen, und diejenigen treten in den Vordergrund, die den professionellen und anerkannten Werken ähneln.

Im ersten Hördurchgang fehlt den Stücken eindeutig die Stringenz, durch die die nachfolgenden Werke des Komponisten berühmt werden, ihr interner Schub, der durchs Ganze zieht – durchs Band polyphon. Es ist also noch viel Luft zwischen den Stimmen und den einzelnen Parts beziehungsweise kleinen Formen. Trotz solcher untypischer Leichtigkeit nötigen sie einen zum mehrmaligen Hören. In ihnen dominiert schon eine ästhetische Nötigung, die man zwar nicht benennen, der man sich aber kaum entziehen kann.

Denn da will einer ausbrechen, auch wenn er weder weiss, wohin zu gehen sei, noch woher er überhaupt kommt. Er ist nicht wirklich in der Tonalität gefangen, aber er hat die Dissonanz noch nicht begriffen: allenthalben verfolgt man das Schema von einem horizontalen Prozess, der sich harmonisch abstützen zu müssen glaubt. Es gibt passagenweise Stufenharmonik, plumpe Sequenzen, Rückungen, und statt progressive Repetitionen machen sich zu viele nicht variierte Wiederholungen breit.

Debussy blitzt noch nirgends auf, keine Zerstäubung thematischer Materialien, aber von Rachmaninov kommt immerhin gewiss kein einziger Ton her. Man denkt oft an Bartók, an einen eigenwillig blank polierten, wo die Folklore wegretuschiert ist. Denn dass der Komponist aufs Aufbrechen toter Rhythmen kapriziert ist, beeindruckt am stärksten. Aber es ist eben hier die Leitfigur noch ganz Bartók, und Messiaens Rhythmen, die an den besten, kompliziertesten Stellen die Zeit stillstellen wie der Augenblick in der grossen Lanschaft, wirken hier nur partiell, quasi probeweise.

Hört man sich des längeren in diese Musik des Neunzehnjährigen hinein, erscheinen diese kritischen Merkmale als blosse Ornamente an der Oberfläche, und die Wahrnehmung richtet sich immer mehr auf eine tiefere Schicht aus, die man mit Fug als Tiefenstruktur der Boulezschen Kunst überhaupt bezeichnen kann. Man verfolgt weder Linien, Motive, und funktionale Klänge, noch Rhythmen und geschichtete Metren. Erfasst man endlich die Gesten, kurzen Impulse und langen Gestaltungsbögen, kommt man nicht aus dem Staunen heraus, wie hier schon dieselben Kompostionstechniken am Werk sind wie in den kommenden Zeiten.

Zusatz: Die CD enthält noch ein Spätwerk von Boulez, ebenfalls ein Klavierstück: Une page d’éphéméride 2005. Das Besondere sind lang andauernde Klänge, in die kurze Phrasen oder Formen gespielt werden. Wie das pianistisch zu realisieren ist, dünkt mich ein Rätsel. Auch der alte Boulez vermochte noch kompositorisch zu erstaunen.