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Spahlinger, … eine Welle … anhalten … (1987)

Mittwoch, 18. Februar 2015

Gestern Abend auf SWR2 live von der Uraufführung 1987 (vielleicht auch von der CD):

Mathias Spahlinger, „in dem ganzen ocean von empfindungen eine welle absondern, sie anhalten“ für 3 Chorgruppen und Playback, SWR Vokalensemble Stuttgart, Leitung Klaus Martin Ziegler.

Die Entwicklung der Technologien erlaubt es den Medien, alles von allen Orten jedem einzelnen zuzutragen. Jeder weiss, was los ist, wie es zu benennen wäre und wie man sich als vernünftiger Mensch diesem Ganzen gegenüber zu verhalten hätte. Ebenso ist klar, dass die Kunst keine neuen, zusätzlichen Gehalte in ihre Rede aufnehmen kann, wenn man sie nicht als etwas Irrationales missverstehen wollte. Wie aber hat Kunst zu erscheinen, wenn sie diese historischen Gegebenheiten ungetrübt im Blick halten und sich nicht quasi daneben einem anderen, abstrakteren Strom der Zeit überlassen will?

Das war Spahlingers Fragestellung in den 1980er Jahren, im Titel in die alte Herdersche sprachphilosophische Einsicht mit dem Bild transformiert, dass die gelingende Reflexion nicht bloss den einzelnen Empfindungen und Empfindungsströmen folgt, sondern in derem ozeanischen, also riesigen Gesamtzusammenhang einzelne aktiv zu gewichten imstande ist – durch äusserste Aufmerksamkeit und äusserste Anstrengung. Was jeder weiss und keiner zur Kenntnis nimmt, ist der diskursive Gehalt des Stückes, der Hunger und die Armut in der Welt, derselbst gleichwie alle Momente des musikalischen Werks in ihrer Einzelheit reflektiert und den Aufführenden als Partiturmaterialien präsentiert wird. Das führte in der Realisation zu enormen, indes wie angetönt keineswegs unerwarteten, ungeplanten Schwierigkeiten.

Einer der profiliertesten Chöre sah sich mit Problemen konfrontiert, die über einen langen, mehrwöchigen Zeitraum hinweg das Projekt regelrecht scheitern zu lassen drohten, weil in der Disparatheit und Kleinteiligkeit der Gesangs- und supplementär geforderten Bewegungsmaterialien eine einheitliche ästhetische Idee sich nicht zeigen wollte, und den Playbackwünschen genügten die vorsintflutlichen Computereinrichtungen desjenigen Studios, das zu Zeiten der analogen Aufnahme- und Bearbeitungstechniken am weitesten fortgeschritten war, mit den heute unvorstellbar winzigen Speichern und unausgegorenen Programmen nicht im geringsten. Trotzdem ist das Werk vollendet worden und mit Erfolg beim Publikum zur Aufführung gekommen.

Das Stück dauert ungefähr 20 Minuten und wurde in der gestrigen Radiosendung nach einer halbstündigen Zusammenstellung von Diskussionsausschnitten und Berichten von den Beteiligen aus dem Chor und der „computergesteuerten“ Tonbandproduktion ausgestrahlt. Die Pointe des Stückes beim Hören fast dreissig Jahre nach der Uraufführung ist, dass es musikalisch als so gehaltsreich und schön empfunden wird wie andere aus der Zeit, die avanciert waren und auch dann Neues schaffen wollten, wenn sie nicht in direktem Mass Politisches ins Visier genommen hatten. Die Kunst muss nicht notwendigerweise politisch sein, da wir von der Schuld unserer politischen Ökonomien am Hunger in der Welt auch ohne Gang ins Konzert wissen, aber die Aktivierung des politischen Sensoriums unterstützt die nötige Aufmerksamkeit gegenüber ihren Materialien, deren ästhetische Darstellung das periphere Wissen vom empirischen Detail zu einem notwendigen allgemeinen – zu einem gesellschaftlichen transformieren lässt. Wenn die Medien aufhören, den Kopf in den Sand zu stecken und endlich von neuem beginnen, die Schönheiten der Musik in die Welt zu tragen, steht der Glaube nicht mehr auf verlorenem Posten, dass die Kunst nicht nur Schönes herstellt, sondern auch Bewusstsein schafft, das gesellschaftlich zu wirken imstande ist.