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Wiederholung und Verfall

Freitag, 12. Januar 2007

Die psychologische Erkenntnis, dass dem alten Menschen das Jahr schneller vergeht als dem jungen, weil nur die wenigsten Erlebnisse noch zu neuen Erfahrungen führen, relativiert nicht nur Nietzsches Idee der Ewigen Wiederkunft des Gleichen als die eines im Alter Gefangenen, sondern auch die Hoffnung, die physische Reproduktion der Gesellschaft fördere im selben Zug auch ihre geistige in der Tendenz zum Besseren als dem Neueren. Wichtiger als die Kritik am allgemeinen ontologischen Status der Wiederholung, die nur das in die Tat umsetzt, was Nietzsche sein Leben lang selbst praktizierte, die Rückführung scheinbar grosser Gedanken auf die unmittelbaren Lebensumstände, ist die Wahrnehmung der Unmöglichkeit der Verwirklichung des Neuen, ein Untersuchungsthema, das selbst wieder gefährlich nah an Nietzsches Hypothese zu treten scheint.
Das Kind erfährt in den vielen neuen Erlebnissen, denen es pausenlos ausgesetzt ist, nicht wirklich Neues, sondern nur einfache Schemata auf unendlich vielen Feldern in allen denkbaren Variationen. Erst diejenigen Erlebnisse verdichten sich zu Erfahrungen, die in einem gewissen Bewusstsein oder in einem bewussten Abwägen die neuen Dinge mit erinnerten (oder überhaupt mit Erinnertem als Material) in Beziehung setzen können. Und durchläuft es dann die Klassen seiner Schulen, zeigt sein individueller praktischer Umgang mit dem Wissen, wie es der Welt im Ganzen und wie den Herausforderungen alles Neuen gegenübersteht. Sind die Impulse der Neugierde trotz der falschen Schule intakt geblieben, häufen sich die Erfahrungen des Neuen, wie auch die Gier nach ihm sich weiter steigert. Die Zeit wird in der Weise mit Neuem geradezu zugestopft, dass ihre Einheiten wie gedehnt erscheinen; ständig ist das wache Leben fordernden Aktivitäten ausgesetzt, die von ihm immer schon gesucht worden waren. Das frühkindliche Erleben inhaltsleerer Schemata geht zwar nie vollständig verloren, mutiert jedoch fast gänzlich zur bewussteren Erwartungshaltung, die vor jeder Erfahrung eingrenzt, was von ihr an Neuem überhaupt wahrgenommen werden kann und was nicht; ohne sie, die nicht selten als explizites Vorurteil oder diffuse, aber gefühlsgeladene Ahnung in Szene tritt, bliebe alles Neue unterschiedsloses Chaos. Im Falle des gestörten Erinnerns von Schemata hat man es mit einer organischen Wahrnehmungs- oder gleichwie einer psychischen Krankheit zu tun. Ist dagegen der Umgang mit den eigenen Vorurteilen blockiert, hat man es mit einem ideologischen Phänomen zu tun, dem durch geduldige Kritik wieder auf die Sprünge geholfen wird. Diese praktische Kritik als intellektuelle Alltagsverrichtung ist der gewöhnliche Ausdruck der Gier nach Neuem, nichts Aufgesetztes, das die Gehalte approbierter Erfahrungen einander kindisch gegenüberstellen würde, um von oben herab urteilen zu können, was oder wer gut sei, was oder wer schlecht.
Da die Erfahrung der Welt im Ganzen scheitert und sich nur auf einzelne Gebilde auszurichten vermag, so komplex sie auch sein mögen, muss in den Dingen eine Spur des Neuen objektiv schon gelegt sein, wenn gelingende neue Erfahrungen in der Wirklichkeit gemacht werden sollen. Solche Spuren des Neuen zeigen sich im hohen Alter nurmehr verwischt – dem jungen Menschen springen sie desto mehr förmlich ins Auge. Ist der Alte ein geübter Spurenleser, sieht er neben dem, was ihm als Wiederholung begegnet, feinste Indizien, die Neues auch in scheinbar ganz Altem zuerst vermuten, schliesslich auch aufstöbern lassen. Obwohl sich auch dem Geübten alles wiederholt, muss das Ganze, das sich immer geschwinder dreht und ohne Chance, in ihm aktiv mitzumachen, nicht zwangsläufig langweilig erscheinen. Im Gegenteil: das Wissen, dass in den Wiederholungen viel Neues als immer noch Unerkanntes verborgen liegt, macht das alte Leben sowohl zum schwierigen Ernst als auch spannend problematisch – auch Triviales kann nun Anlass zu Fragen sein nach dem Grund und der Ursache der überall vorherrschenden Gewaltakte. Anders bei den Heranwachsenden, wo immer offensichtlicher die Intensität der subjektiven Neugierde in objektiv wahrnehmbare Langeweile zu kippen droht, weil die Spuren des Neuen in den Dingen, die fast ausnahmslos von der Kulturindustrie herangeliefert werden, eine Form angenommen haben, die zu verfolgen zwar lockt, selbst nie aber in eine andere Sache führt, weil sie in allen Waren dieselbe ist. Die Menschen werden sogar in katastrophischen Gesellschaftszusammenhängen langweilig, ohne es selbst zu merken, weil die Kritik, die sie selbstredend nach wie vor praktizieren, die fette Schicht auf ihren Erlebnisgegenständen, zu denen nach wie vor auch die schlechten der Herrschaftspraktiken weltweit gehören, nicht durchstösst. Das historische Wissen über die Dinge wäre heute zu gross, als dass es noch vorausgesetzt werden dürfte. Der Alte kann den Jungen noch so vielfältig demonstrieren, dass ihr vermeintlich Neues schon in seinen jungen Jahren alt sich zeigte: sie werden immer in der Formel sich schönreden, er lehne ihr eigenes Neues von heute allein deswegen ab, weil es eben neu sei. Was tun, wenn nicht mehr gehofft werden darf, weil das Neue so verfallen und abgeschliffen daherkommt, ja so daherkommen muss? – Die Pfropfen noch tiefer und schmerzhafter in die Gehörgänge hinabstossen, um der Mediengewalt aus der Nachbarschaft nervlich weiterhin widerstehen zu können.