Entengeschnatter

Gestern Abend live auf France Musique l’Orchestre philharmonique de Radio France et Mikko Franck, en direct de l’Auditorium de la Maison de la radio mit Werken von Fausto Romitelli, Thierry Pécou, Luca Francesconi et Henri Dutilleux.

Nach dem Romitelli und während des Stücks von Pécou wurde klar, dass ich über dieses Konzert keine Notiz schreiben werde. Ich ertrug das zwanzigminütige, überaus nervöse „Pausengespräch“, freute mich an der Musik von Francesconi im Werk „Bread, Water and Salt“ und schlief dann ein. Hier verfiel ich in einen langen Traum, in dem ich mich übers radikal tonale Komponieren von Dutilleux wunderte, der gemäss Programm auf den Francesconi folgen sollte – im Traum war ich am selben Ort, also auf dem Sofa, mit derselben Musik auf den Kopfhörern. Als ich mich über die Musik wunderte, kam zuerst eine einzelne Ente zu mir ans Sofa, dann auch mehrere weitere. Zumindest die erste, ziemlich grosse, in der Grösse einer Gans, zupfte an meinen Kleidungsstücken, kam sogar hoch aufs Sofa, zupfte weiter, so nahe, dass ich ihren weichen, angenehmen und mädchenhaften Körper spürte, wurde aber aufdringlicher und biss regelrecht in den rechten Oberarm. Da auch andere Enten nun auf mir waren und sie allesamt an mir zupften, fand ich es an der Zeit, aufzuwachen. Obwohl kein Alkohol im Spiel war, torkelte ich über den Bachtiar zum Tisch. Was für ein Erstaunen, dieselbe tonale Musik auch im wachen Zustand zu hören! Aber es war nicht Dutilleux, sondern Debussys La mer, und es folgte alsogleich die Radioabsage. Zum Teufel, die Aufregung gegenüber Dutilleux beruhte auf einem Missverständnis! Sofort befragte ich mich über die Abneigung gegenüber diesem Komponisten: wer ihn mit Debussy verwechselt, hat kein Recht, ihn abzulehnen. Da es sich bei La mer um eines der zwei „pièces diffusées entre les oeuvres du concert, pendant les déplacements de l’orchestre“ handelte, wurde das Stück von Dutilleux erst jetzt ausgestrahlt. Siehe da! Ich empfand diese Musik auch im selbstkritischen Zustand als lärmig – und insbesondere als ohne Konzept, das man während des Hörens aufdröseln könnte. Dieser negative Blick auf die Ästhetik hat auch dann Bestand, wenn man die kompositorische Versiertheit im Kleinen, also das kompositorische Handwerk, anerkennt. Dutilleux ist ähnlich wie Richard Strauss begabt in Hülle und Fülle und scheitert wie dieser an der Unterlassungssünde, die Ästhetik im Hinblick auf Gesellschaft und Geschichte für das eigene Schaffen zu deuten und auszuformulieren. Beide ignorieren die Umwelt, in die sie zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Räumen hineingeboren waren.

Und doch war die gestrige Aggression gegen Dutilleux nicht allein aus seiner Musik erwachsen, sondern ein Effekt der Pausengestaltung der Radioredaktion von France Musique. Man hat hier immer noch nicht kapiert, dass der Kult des Persönlichen, wie er parallel zum Neoliberalismus sich entfaltete, an seriösen Plätzen längst zu Grabe getragen worden ist. Hört man direkte Livekonzerte auf einem deutschen Sender, werden in der Pause Gespräche übertragen, die in der Probenarbeit vorher aufgenommen worden waren und im Detail also noch korrigiert werden konnten. Nicht so in Paris. Hier wird die Pause von einer äusserst gespannten Nervosität beherrscht, die alle Teilnehmenden zu Trotteln verkümmern lässt und dem Publikum regelmässig einen zwanzigminütigen Frust verpasst. Denn die geforderte Spontaneität im Gespräch heisst nichts anderes als Verleugnung jeder intellektuellen Vorbereitung und Perspektive wie die Betonung des Persönlichen Verleugnung jedes Abstrahierungsvermögens; beides zusammen läuft auf einen dummen Konkretismus hinaus, der zwischen dem empirisch Einzelnen und dem gesellschaftlich Diskutierbaren nicht mehr unterscheidet. So gingen denn die Statements von Luca Francesconi im eigenen Entengeschnatter unter, weil er es im Lampenfieber wohl einfach nicht ertragen konnte, vor der Aufführung seines grossen Werkes, das eben erst nach der Pause auf dem Programm stand, Vernünftiges zur Sprache bringen zu müssen (wem wäre das zu verargen?). Die Charakterisierung der eigenen Musik mündete in kompletter Sinnlosigkeit, zu der er sich in einem normalen, vernünftigen Gedankenaustausch wohl kaum hinreissen lässt. Es muss klar sein heutzutage, dass man es mit zwei Begriffen der seriellen Musik zu tun hat, der reinen Technik, die nicht einmal ein Jahr lang die historische Diskussion beherrschte, und der Idee der seriellen Musik. So ist es langweilig, wenn das einer wie Francesconi ignoriert und freimütig daherplappert, er müsse in seinem Komponieren wie jeder heute sich gegen die Vorherrschaft der seriellen Musik stellen. Er muss es nämlich deswegen genauso sehr wie jeder andere komponierende Mensch, weil die serielle Musik einer Epoche angehört, von der es noch nicht entschieden ist, ob sie füglich schon an ihr Ende gekommen ist. Dass man als progressiver Künstler gegen sie anschreibt und sich selbst schon im Neuen wähnt, ist trivial (und setzt einen wohltuend von Dutilleux ab). Zu benennen in einem Gespräch wäre das Neue aber begrifflich, wenn man sich auf es berufen will. Gelungen ist dies aber bis heute in der Musik noch niemandem. Boulez bleibt.

Samstag, 6. Februar 2016 um 5:03 pm Themenbereich: Musik, Traum                 RSS 2.0 Both comments and pings are currently closed.

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