August 1928

Gestern auf Bayern 4 wie schon am 20. November 2010 auf Espace 2: Paul Hindemith, Cardillac (1926), unter Welser-Möst vom 23. Oktober 2010 in Wien. An diesem Stück lässt sich nachvollziehen, wie Adorno 1928 zu einer eigenständigen Art und Weise gekommen ist, die Dinge zu sehen, zu begreifen und darzustellen, nicht durch Einflüsse anderer Theoretiker oder durch Übernahme einer Theorie, sondern im Nachvollzug der aktuellen Musik. Hindemith wurde von Adorno lange bewundert, und der Komponist sah die Oper Cardillac als eine Art „konsolidiertes standard work“, an dem er als Künstler tel quel nun scheint gemessen werden zu dürfen.

Cardillac ist eine kurze Krimioper, deren Kompositionsweise ein äusserst hohes technisches Niveau mit grosser Könnerschaft darstellt und noch heute zu faszinieren vermag, weil der Komponist nicht zögert, rockige Rhythmen und knallige Effekte einzusetzen. Langeweile kommt musikalisch nicht auf, und würden die Partien von Stars der Unterhaltungsbranche gesungen, also ohne Opernhabitus, würde Cardillac von der breiten KonsumentInnemasse freudig beklatscht werden können. Etwas macht sie verdächtig, und dieses Falsche ist objektiv vorfindbar, gleichzeitig unabhängig vom kompositorischen Vermögen in den Details. Sich vorzustellen, dass sich aus dieser Musik weitere und neuere hätte entwickeln können, ist unmöglich. Der Grund liegt darin, dass ihre Teile in sich keinen Zusammenhang bilden, sondern disparat austauschbar sind und einem äusseren Zusammenhang angehören, der allein sie zusammenhält wie die Nummerngirls die Zirkustiere. Die Themen, die eine Befindlichkeit ausdrücken sollen, erscheinen, und dies keineswegs selten, wie in der Barockmusik in unveränderten Wiederholungen, auch dort, wo die repräsentierte Empfindung eine Erfahrung durchmacht, eine Veränderung. Das Falsche, das Adorno im August 1928 anlässlich einer Besprechung dieser Oper zum ersten Mal als objektive Unwahrheit, als Verfehlen des objektiven Wahrheitsgehalts verstehen möchte (Gesammelte Schriften 19, 138ff), besteht darin, das Einzelne nicht im Ganzen, im Zusammenhang, wie das bei Schönberg durch die Variation geschieht, vermitteln zu wollen, sondern in diesem Ganzen und durch es nur buchhalterisch aufzulisten. Nur die Musik Schönbergs vermag es, dem einzelnen musikalischen Moment so zu vertrauen, dass er sich nicht nur zu wiederholen sondern auch zu entwickeln und zu entfalten getraut. Was einem lächerlich an Cardillac erscheint, ist keineswegs ein Mangel an musikalischer Kraft – die Musik ist farbig und gleichzeitig frei von Kitsch – aber eine Unbekümmertheit der Wiederholung von Melodien gegenüber, wie sie nur der Unterhaltungsmusik heute noch ansteht.

Mittwoch, 2. Februar 2011 um 10:34 am Themenbereich: Musik, Theorie                 RSS 2.0 Both comments and pings are currently closed.

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