Derrida und der Schurkenphilosoph Heidegger

Die Lektüren der ersten ins Deutsche übersetzten Schriften Derridas befassten sich ohne Zweifel und ohne Zagen mit einem Werk, das der Philosophie Heideggers gegenüberstand wie Adorno es vormachte. Doch das philosophische Insistieren auf Heidegger nahm pathologische Züge an, die in der Auseinandersetzung mit Farias den Gehalt der Lektüre zuweilen nur noch schwer begreifen liessen. Der Schurkenverfolger erschien allein nur noch als einer selber. Die letzten zehn Jahre, produktiv wie alle Phasen, stimmten Derrida, der als Schurke die guten Worte über die negative Dialektik mit ins Grab genommen haben wird (aus Rache, klar, dass ich vor seiner Bürotür Reissaus genommen hatte), milder, so dass das, was als Intention mit Händen und Füssen verteidigt werden musste, als klärendes Statement erscheinen darf. Eine solche Stelle steht im Schurkenbuch, im zweiten Teil, nicht im ersten, dessen Schluss mit dem Titel Sendung (150 bis 158) die voranspriessenden wunderbaren 150 Seiten wie in der zweiten, wie gesagt nicht selten üblen Phase, mit dröger Heideggerei fast zunichte pflügen (nur noch ein Gott soll uns retten können – müssen? … zur Hölle mit diesem neoheidnischen Mist!). Wegen ihrer Deutlichkeit und weil ich das Buch natürlich nicht behalten kann, sei die klärende Stelle, eine als Zusatz markierte Anmerkung, ganz zitiert:

Jacques Derrida, Die „Welt“ der kommenden Aufklärung (Ausnahme, Kalkül und Souveränität), Anmerkung 39, in: Schurken, Frankfurt am Main 2003, Seiten 202 bis 204:
Vielleicht ist hier der Ort, nachträglich und dennoch sehr knapp einige Präzisierungen zu der Frage beizubringen, welche Beziehungen zwischen der »Dekonstruktion« – zumindest so, wie sie mir in meiner Arbeit seit langem erforderlich scheint – und der Vernunft als logos bestehen mögen.
Anlaß zu diesen Präzisierungen war eine Diskussion, die am Ende des Kongresses über »metaphysische und nachmetaphysische Vernunft« geführt wurde. Dabei ging es weithin um logos und Dekonstruktion. Aus einer Reihe von Gründen konnte ich mich an der Debatte nicht beteiligen. Ich erlaube mir deshalb, einige Evidenzen ins Gedächtnis zu rufen, die mir damals der unheimliche Gegenstand einer Art von Verwerfung [forclusion] zu sein schienen.
1. Die Heideggersche Dekonstruktion (Destruktion*) richtete sich niemals gegen einen Logozentrismus oder gar gegen den logos. Wenn sie zur Dekonstruktion der klassischen Ontologie oder Ontotheologie schritt, so tat sie es vielmehr häufig im Namen einer »ursprünglicheren« Neuinterpretation des logos.
2. Die »Dekonstruktion«, die ich versuche oder die mich versucht, ist von derjenigen Heideggers nicht nur verschieden (in zahlreichen Merkmalen, die an anderer Stelle zu oft dargelegt worden sind, als daß ich sie hier erinnern müßte). Vor allem hat sie niemals die objektivierende Gestalt eines Wissens als »Diagnose« angenommen und schon gar nicht einer »Diagnose der Diagnose«. Sie ist stets eingeschrieben in das Element ebender Sprache, die sie in Frage stellt; sie ist stets in diesem Element gefangen, wird in ihr verstanden und stets als solche verstanden, wenn sie sich im Herzen metaphysischer Debatten abmüht, die ihrerseits mit selbstdekonstruktiven Tendenzen zu kämpfen haben. Deshalb habe ich das Motiv der Dekonstruktion niemals mit denen verknüpft, die in der Diskussion so oft beschworen wurden: dem Motiv der »Diagnose«, des »Nach-« oder »Post-«, des »Todes« (der Philosophie, der Metaphysik usw.), der »Vollendung« oder »Überwindung«* (beziehungsweise des »Schritts zurück«* dépassement), schließlich des »Endes«. Man wird in keinem meiner Texte irgendeine Spur dieser Lexik finden. Das ist kein Zufall, man darf es mir glauben, und es hatte Folgen vielerlei Art. Nicht zufällig habe ich – seit der Grammatologie (1965) – ausdrücklich erklärt, daß es nicht um ein Ende der Metaphysik geht und vor allem daß Geschlossenheit [clôture] nicht Ende heißt. Ich habe mich beeilt zu erläutern, daß Geschlossenheit nicht gleichsam wie eine kontinuierliche Linie die Metaphysik im allgemeinen und im besonderen umschließt, sondern deren heterogenen Raum gemäß einem Raster komplexer und nicht kreisförmiger Begrenzungen durchläuft.
3. Man darf nicht bloß sagen – wie es, nicht ohne Kühnheit, behauptet wurde: »Luther qui genuit Pascal«, »Luther zeugte Pascal«, sondern vielleicht auch »Luther qui genuit Heidegger«, »Luther zeugte Heidegger«. Was zu ganz anderen Konsequenzen führt. Ich habe an anderer Stelle oft daran erinnert, daß das Motiv und das Wort »Destruktion« bei Luther ein Aufmischen der Ablagerungen [désédimentation] der institutionellen Theologie (man könnte sagen: der Ontotheologie) meinte, um zu einer ursprünglicheren Wahrheit der Schrift zurückzukehren. Heidegger war unzweifelhaft ein gründlicher Leser Luthers. Doch trotz meines Respekts vor dieser ungeheuren Tradition gehört die Dekonstruktion, die mich beschäftigt, ganz und gar nicht in diese Abstammungslinie. Es ist genau dieser Unterschied, den ich gewiß nicht ohne Schwierigkeit zu artikulieren versuche.
Ungefähr das gleiche werde ich zu dem Privileg sagen, das ich beständig dem aporetischen Denken gebe. Ich weiß und ich weiß sehr wohl, was dieses Denken zweifellos den Aristotelischen Aporien schuldet beziehungsweise, ich erinnere gerade hier daran, den Kantischen Antinomien. Doch wie mir scheint, habe ich ihnen eine ganz andere Wendung gegeben. Genau hier stößt die Analogie auf ihre Grenze, und diese Grenze ist allesentscheidend und müßte höchste Aufmerksamkeit verlangen. Und abermals das gleiche werde ich zu dem Hyper- oder Ultratranszendentalismus sagen (der doch auch ein Hyperrationalismus ist), auf den ich mich, um den empiristischen Positivismus zu vermeiden, seit der Grammatologie ausdrücklich berufen habe.
4. Schließlich wage ich kaum ein weiteres Mal auf dem Unterschied zwischen Dekonstruktion und Destruktion zu beharren sowie auf dem zwischen Dekonstruktion und Kritik. Die Dekonstruktion sucht nicht die Kritik zu diskreditieren, sie rechtfertigt vielmehr deren Notwendigkeit und Erbe unaufhörlich aufs neue; doch verzichtet sie niemals auf die Genealogie der kritischen Idee noch auf die Geschichte der Frage und des Privilegs, das dem fragenden Denken eingeräumt wird.
All diese Motive, wage ich zu sagen, waren Gegenstand ausführlicher Darlegungen und zahlreicher Veröffentlichungen im Laufe der letzten vier Jahrzehnte.

Freitag, 7. Juli 2006 um 3:11 pm Themenbereich: Theorie                 RSS 2.0 Both comments and pings are currently closed.

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