Jacques Derrida: Marx & Sons, deutsch 2004
Endlich ein Text von Derrida, der sich ohne grosse Vorbehalte auch denjenigen zur Lektüre empfehlen lässt, denen dieser Autor bis jetzt nur fremd erschien. Jacques Derrida antwortet auf kurzem Platz mehreren gestandenen marxistischen AutorInnen, die in einem Sammelband 1999 je einzeln auf sein Werk Marx‘ Gespenster (fr. 1993, dt. 1996) reagieren. Einerseits bewegt man sich in einer Fragestellung, die auch dem simplen Studenten der Analytischen Philosophie bekannt ist (sie zeigt sich im strammen Ausruf, dass es politisch weder Links noch Rechts gebe); andererseits kann Derrida aus Platzgründen seinem Steckenpferd nicht die Zügel frei laufen lassen, Detailfragen auf dem Feld der Etymologie so ins Wuchern zu bringen, dass die dazugehörigen, aber fürs gewöhnliche Lesen meist wichtigeren oder interessanteren am Schluss nur noch als pendente aufgelistet im Aufschub leerlaufen – eine nervige „Methode“ in den mittleren Texten hauptsächlich der achtziger Jahre allemal. Nein, hier spricht ein Bürger vor seinen Genossen, und er zaudert nicht, einzelnen die Meinung so zu sagen, wie sie es verdienen; die Glacéhandschuhe, die einem im Streit von Popper und Adorno aufgestossen waren, sind ausgezogen. Schade nur, dass Michael Ryan mit keinem Beitrag vertreten ist, den Derrida zitieren könnte. Er hat schon 1982 ein Buch mit dem Titel Marxism and Deconstruction veröffentlicht, Gayatri Spivak gewidmet, die an seiner Stelle Derrida antwortet (ob im Sammelband oder anderswo wird in der deutschen Einzelpublikation nicht klar), in einer Weise, dass einem die Haare zu Berge stehen und gleichzeitig Derridas langes Herumdrucksen um die marxistische Theorie dumpf verständlich machen. Das Buch von Ryan war deswegen eine Besonderheit, weil es zwar der Dekonstruktion kritisch begegnete, aber nie aus der Warte eines Marxismus, der sich darauf versteifen zu müssen glaubte, Grenzlinien zu ziehen wie es eben modisch war und auch bei einigen der Autoren des Sammelbandes noch geschieht.
Im übrigen erscheint es in diesem Text leichter als anderswo, die Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit der Dekonstruktion nachzuvollziehen, die unerbittlicher als je in der Philosophie immer dann auf begrifflicher Ebene weiterfragt, wenn der gesunde Menschenverstand den Bettel hinwirft und sich den misslichen Umständen fügt. Nein, die Theorie soll nicht in einem fatalistischen Tümpel Fuss fassen voller Phrasen à la So ist halt der Mensch, Weniger ist mehr, Take it easy etc. Derridas unermüdliches Aufsplittern von Behauptungen verfolgt den alten ideologiekritischen Zweck, den reaktiven Fatalismus und Defaitismus auch dort aufzustöbern und auszutreiben, wo dem naiven Blick im Alltag alles andere zu begegnen scheint als Passivität.
Dienstag, 4. Juli 2006 um 8:11 am Themenbereich: Theorie RSS 2.0 Both comments and pings are currently closed.
4. Juli 2006 um 2:30 pm
Ich gestehe, während der ganzen Lektüre daran herumstudiert zu haben, ob das eine einmalig gute Übesetzung ist (von Jürgen Schröder) oder ob Derrida hier in anderer Weise geschrieben hat als üblich. Wenn Derrida alle Texte so verfasst hätte wie diesen – was hätte für ein realexistierender Philosoph aus ihm werden können!