Bildungsferne

Der Ausdruck der bildungsfernen Schichten und Milieus gehört zu den wissenschaftlichen Disziplinen der Soziologie und der Pädagogik und soll gesellschaftliche Defizite so beschreibbar und verstehbar machen, dass auf sie eingewirkt werden kann und die Zustände unter den Devisen der Chancengleichheit und der aufgeklärten partizipativen Demokratie nachhaltig verbessert werden. Das ist im ganzen korrekt und drückt sich doch um die Wahrheit, die das Ganze wäre.

Vor dreissig bis vierzig Jahren war es verpönt, über Einzelmenschen zu sagen, sie seien dumm, denn die Dummheit hat man als etwas verstanden, das erlernbar ist: als ein Effekt schlechten Sprechens nicht nur in der Schule, sondern auch in der Familie und in den Medien. Man fühlte sich herausgefordert, auch dem Geringsten die Verhältnisse im Gespräch auseinanderzulegen, damit auch er sich kritisch mit ihnen auseinandersetzen könne. Nur in extremen Fällen fühlte man sich nicht zum Sprechen aufgemuntert oder herausgefordert, weil einem der andere in der Tat als zu dumm erschien. Mich dünkte dieser Entschluss, von einem anderen dessen Natur zu respektieren, etwas Humanes, keineswegs ein Effekt von Eingebildetheit. Im Bildungsdiskurs heute verschwinden diese kuriosen und irritierenden Reste des Humanen auf eigentümliche Weise, wenn alle Dispositionen der Natur als gesellschaftliche begriffen werden – wenn restlos alle mitmachen sollen, auch die, die ihr Leben besser angeschnallt vor dem Fernseher verbringen würden.

Weitaus stossender und füglich ideologisch erscheint der Diskurs der Bildungsfernen, wenn er den lokalen und globalen Machtgebilden mit ihren spezifischen Akteuren gegenübergestellt wird. Denn wenn ein Milieu als bildungsfern zu charakterisieren wäre heute, dann das der Journalisten in der Kulturindustrie, der Schwer- und Kulturindustriellen allgemein, der Banker, der Finanzhändler, der Finanzmarktkontrolleure, der Kontrolleure der grossen Risikoindustrien, der Politiker etc. Unvergessen die gesellschaftlichen Zusammenhänge, als in der Schweiz eine Präsidentin der Sozialdemokraten es wagte, Bildung als Kategorie des politischen Diskurses aktiv in Szene zu setzen: die Meute der Kulturindustrie zerfetzte sie wie ein rares Reh, um bluttriefenden Auges mit den strammen Führern der Politik und der Industrie weiter unabgelenkt und ungehemmt ihrer Wege zu ziehen, weit hinaus in die noch nicht eroberten Gefilde der Bildungsferne.

Dienstag, 26. Juli 2011 um 5:32 am Themenbereich: Theorie                 RSS 2.0 Both comments and pings are currently closed.

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