Die Logik des Fadenscheins als moralische Richtschnur

Der Einzelne in den versunkenen einfachen vorkapitalistischen Gesellschaften erfuhr sich selbst, das Leben und die Gesellschaft als einen einzigen, durchgängigen Zusammenhang. Seiner Position im Gefüge von Herrschaft und Macht entsprach ein Mass an Verantwortung, das mit dem System der Legitimation korrespondierte. Desgleichen vermochte den Mühen der Anerkennung ein individueller Genuss des Selbstbewusstseins zu genügen. In der modernen Gesellschaft sind solche Zusammenhänge unterbrochen. Verantwortung und Macht gehen so weit auseinander wie Anerkennung und Selbstbewusstsein, die nur partiell und zufällig geschehen. Neu ist das vielleicht nicht, aber die Auswirkungen dieses Phänomens zeigen sich heute nicht mehr in denselben romantischen Formen der Entfremdung und der Verdinglichung wie vor 100 oder 200 Jahren; sie sind unvermittelter und brutal. Wo das Ich unreflektiert solche Erfahrungen macht, scheitert es unweigerlich, ohne Chance, das Phantasieren in einer Ideologie mit der Aktivität in solidarischen Gruppen als einen Ausweg aus solcher Negativität auszuprobieren. Aus dem Einzelerlebnis wie dem eines Beifalls halluziniert das scheiternde Ich einen unendlichen Zusammenhang, an dessen Spitze es allseits anerkannt als souveränes Selbstbewusstsein das Leben geniesst. Nicht aufs Mal, aber Stück für Stück und desto unwiderruflicher, weicht diese schöne Logik des Zusammenhangs, die Vernunft und gesellschaftlichen Sinn garantierte, einer Logik des Fadenscheins, die blossstellt, was die frühere durchströmte: die Dinge sind vielleicht nicht absolut isoliert und radikal voneinander abgetrennt, aber was sie zusammenhält, ist alles andere als einheitlich und wäre in keiner Weise mit einem Namen zu benennen, der eben noch für Zusammenhang stünde. Die aufscheinende Blösse gehört nicht den Gesellschaften als Systemen, nicht der Ökonomie, dem Recht oder der Politik, wenn auch die Befolgung der Logik für solche Brüche sensibel macht, durch die beispielsweise ein halbfaschistisches Teilsystem wie das, in dem die Arbeitslosen zu vegetieren haben, parallel neben einer Gesellschaft mit durchdemokratisierten Institutionen zu existieren vermag. Sie gehört auch nicht den Systemen der Natur oder der Natur des Menschen, wenn sie auch sensibel für solche ontologische Undurchgängigkeit macht, durch die beispielsweise die Tiere parallel neben den unendlichen Weiten der Gestirne erscheinen. Die Probleme, die aus der Logik des Fadenscheins hervorgehen, sind am Rande oder schon jenseits des Systematischen. Obwohl sie in der Folge des Kapitalismus entstehen, sind sie ihm nicht wesentlich inne und prägen weder ihn noch die Gehalte der Wissenschaften: ihre Probleme entfalten sich im gewöhnlichen Alltag. Ihnen eignet, dass sie nicht systematisch zu begreifen sind sondern wenn nicht gar ausserhalb dann wenigstens am Rand von Systemen aufgestöbert werden müssen. Ihr logischer Zusammenhang gehört weder zu den Systemen noch zum Wesentlichen der Vernunft wie etwa die Logik des Zerfalls. Um so mehr ist er das, worin dem Einzelnen der Alltag geschieht und also das, worauf er als einzelner zu reagieren hat. In solcher Anerkennung der Logik des Fadenscheins entspringt die Möglichkeit, das Risiko zu minimieren, paranoisch alles einem systematischen Zusammenhang einzuordnen, der einem dann negativ entgegensteht; was einem geschieht, im Guten wie im Schlechten, kann dies auch durch Zufall, selbst reihenweise. Dann setzt sie, die so viel zersetzt, die moralische Kraft frei, gegenüber der eigenen Person das zufällige Geschehen zuzulassen.
Ist das alte bekannte fadenscheinige Argument, von dem der Ausdruck herkommt, leicht zu durchschauen und ein falsches, das das wahre nur schlecht verhüllt, hat die Logik des Fadenscheins als das schlechte Sediment schlechter gesellschaftlicher Kommunikation die ungünstigen Eigenschaften, schnell zu reissen, kaum je ein ganzes Gebilde in vollendeter Gestalt durchzubilden, umgekehrt das immer durchscheinen zu lassen, was es, um dieses selbst in Erscheinung treten lassen zu können, verhüllen und auskleiden soll, das factum brutum. Zerbrechlich wäre auch die Logik der Musik, aus der Gebilde dennoch entstehen. Der Logik des Fadenscheins gehört die Eigentümlichkeit, dass sie keine fertigen und abschlusshaften Gebilde ins Auge fassen kann, Ziele, die die Menschen umtreiben wie das Glück, das Paradies, die Utopie oder das Ende der Vorgeschichte, zudem, dass bei allem Geschehen etwas Zusätzliches durchschimmert. Nur zu leicht könnte man es als das Nichts, als den Machtwillen oder als das neuheidnische infantile Sein bezeichnen. Einen Grund, es überhaupt zu bezeichnen, gibt es nicht. Die überkommenen Geschichten sind genauso schlecht wie ihre Verleugnungen – wahr ist nur, dass sie nicht notwendig sind und folglich nicht als Lehrgebilde gesellschaftlich weiter herumgeistern sollen.
Das Licht aufs Ganze, das von der Logik des Fadenscheins geworfen wird, ist unbunt vernebelt. Es gibt keine Herren mehr, gegen deren Verblödung im Luxus sich die Knechte zu bilden vermöchten; die Welt der Knechte und Mägde lässt sich mit der Neugier des Ethnologen erschliessen und verstehen, nicht mehr aber in den grösseren Prozess integrieren, in dem ihre heutigen Aktivitäten Momente wären, negative oder positive. Eine Notwendigkeit, das Ganze nach ihren dürftigen Regeln zu betrachten, gibt es nicht. Fruchtbar ist sie nur dem Einzelmenschen als moralische Kraft, der im Irren dazu neigt, seinen unmittelbaren Zusammenhang für den ganzen zu halten. Sobald er mit anderen Gedanken austauscht, muss sie abfallen zugunsten der Logik des Zusammenhangs, die allein dem Argumentieren Raum zu geben imstande ist.

Donnerstag, 10. August 2006 um 5:34 pm Themenbereich: Theorie                 RSS 2.0 Both comments and pings are currently closed.

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