Phänomenologie des Berggängerblicks

Das Gärsthorn ist eine nackte Flanke, an deren rechtem Rand man aufsteigt. Gestern ging ich den Weg nach vierzehn Jahren zum zweiten Mal, jetzt den ganzen Tag im dicken Nebel, früher bei klarem Wetter. Die Aussicht auf dem Gipfel ist umwerfend, da man quasi auf Augenhöhe dem Bietschhorn gegenübersteht. Auch wenn die Gipfelrundsicht und also der explizite Sinn der anstrengenden Wanderung gestern sabotiert worden war, erscheint das Erlebnis im ganzen doch eindrücklich. Denn auch wenn man bis zuoberst immer einer bequemen Wegspur folgen darf, gibt es drei Partien, die bei Lichte besehen nicht ganz ohne sind: man muss steile Felsplatten auf dünnen, unterbrochenen, parallel weiter zu verfolgenden Rinnen, die mit rutschigen Kieselsteinen gefüllt sind, überqueren (Bildpunkte 1 und 4, in abgeschwächtem Masse auch 5 (2 zeigt den Platz des Kreuzes auf 2400 m, 3 die falsche Einzeichnung desselben auf der Karte)). Auch wenn die Platten nur zehn Meter breit sind, liegen sie in einem steilen Hang, und sie lassen sich weder oberhalb noch unterhalb umgehen. Bei schönem Wetter erscheinen nicht nur diese Partien steil, sondern der ganze Blick sitzt in einem einzigen, fast randlosen Feld der Steilheit. Je höher gelegen die Passage einen knurrend erwartet, desto riesiger wirkt das Feld der Steilheit, und auch ein Schwindelfreier wird sich gewahr, wie seine übergrosse Vorsicht den Boden der Angst unverhofft schon am Betreten ist. Bleibt einem dieses Feld aber in der dicken Nebelsuppe verborgen, spaziert man über die Platten wie das Kind auf einem gemalten Strich, den es sich als Seil in der Zirkuskuppel vorstellt und wo es sich beim ganzen Vorgang damit brüstet, dank seiner heroischen Selbstsicherheit niemals abstürzen zu müssen. Geschieht dieses Spiel einen Tag lang in einem Gelände, das einem veritabel in die Knie fährt, geht einem auf, wie beschaffen das Sehvermögen derjenigen BerggängerInnen sein muss, die festen Schrittes steilere Passagen mit winzigeren und brüchigeren Rinnen ohne Wimpernzucken tagelang durchsteigen. Das ist nur möglich, weil sie das äussere Blickfeld, die visuelle Protention, je nach Notwendigkeit bis über das eigentliche, fokussierbare Blickfeld hinauszuverschieben vermögen. Sobald sie in einen Steilhang geraten, fahren sie ihre virtuellen Scheuklappen hoch und können es sich nicht verkneifen, dem Weitsichtigen das Zögern als Schwäche vorzuhalten. Sie triumphieren aber nur über ihre eigene Schwäche, das objektive Sehfeld nicht im ganzen nutzen zu können.

Donnerstag, 10. Oktober 2013 um 7:52 am Themenbereich: Vermischtes                 RSS 2.0 Both comments and pings are currently closed.

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