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Bio Olliers Disease (Multiple Enchondromatose)

Manual Segmenter Dicom Viewer (13. 3. 2018)

updated Gunten, 24. 1. 2013

(c) Uli Seidl

Linke Schulter, 2. September 2002

Rot = Fibula des linken Beines
Grün = gesunder Rest des Oberarmknochens

Text

 

... gesund gebettet bequem während 8 Wochen im Körbli-Gips, einer Konstruktion aus der Gipserei der Insel mit (c) Hoffmann,

spazierengegangen bis 2500 m.ü.M. und im Val d'Hérens gemütlich bis in die dunkelsten Chrächen.

 

 

My private 9/11

Das Acromion wächst, der äusserste Teil des Schlüsselbeins (Papierscan):

 

2. September 2002:

Nach den Untersuchungen mit CT und Szintigrafie
wird das Urteil am 9.Oktober 2012 gesprochen werden.

 

Biopsie (Chondromisch Roulette): 9. 11. 2012 6.15 Uhr früh Insel (beim Nachtpförtner klopfen am Eingang mit dem Schild: Lasciate ogni speranza, voi ch'entrate!): Analyseresultat Grad 1.

Operation mit open end am 11. Januar 2013.
- Grosses Kino: Resektion Teil Scapula, Schlüsselbein, Fibula und Material, unterhalb des Montagepunktes 2002.
- Ganz grosses Kino: 4 quarter Amputation.

Dante, Purgatorium 10, 109:
Acht nicht auf des Martyriums Art und Weise,
denk dran, was folgt, und dass im schlimmsten Fall
es mit dem grossen Richtspruch enden muss. (Wartburg)

 

Röntgen 5 Tage nach der Operation, am 16. Januar 2013:

 

Das Röntgenbild aus der Berner Insel vom 16. Januar 2013 kann man als Dokument einer chirurgischen Höchstleistung zu verstehen versuchen, hat dann aber als medizinischer Laie mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass das Rohbild immer schon konkretistisch auf einen wirklichen Körper projiziert wird, sei es auf den eigenen oder auf den des Patienten, mit den bekannten Folgen des körperlichen Unbehagens. Mich dünkt, die AdressatInnen meiner Post sollten sich ohne Gewissensbisse von dieser Aufgabe fernhalten. Denn das Gebilde lässt sich auch ganz anders deuten, auf einem philosophischen und ästhetischen Terrain, das frei ist von allen notwendigen medizinischen Konnotationen, ohne durch eine überstrapazierte Metaphorisierung die Medizin wirklich ins Abseits drängen zu müssen.

Die gelungenen Gebilde in der langen dekonstruktiven Arbeit von Jacques Derrida stehen einem nach der Lektüre auf eine Art und Weise gegenüber, dass man meinen möchte, nicht nur das Ganze, sondern auch seine Teile in ihrer näheren Betrachtung seien unrettbar in einen Zustand kompletter Instabilität versetzt worden, als hätte Derrida der Theorie in ihrer Form der traditionellen Philosophie einen Kinnhaken verpasst. In die gleichen Schwierigkeiten gerät, wer sich der Musik von Boulez aussetzt und vergessen haben möchte, dass zwischen ihr und der herkömmlichen ein äusserst intensiver Verarbeitungsprozess unaufhaltsam am Wirken ist, der nur das als gültiges Musikgebilde gelten lässt, das sich vom Kategoriengefüge der traditionellen gleichermassen emanzipiert wie es im Innersten zum Ziel hat, auch das jetzig Gültige zu überschreiten. Auch in Adornos Textgebilden unter dem Titel der negativen Dialektik hat sich früh schon eine Verschiebung in der Struktur der Begriffe ereignet, die es nicht mehr zulässt, sie passiv, linear und einförmig zu rezipieren.

Man sieht, dass in den grossen, exzeptionellen Gebilden der Gegenwart jede Lektüre scheitern muss, in der die Entzifferung der Momente sich nicht zusammenschliesst mit der Bereitschaft, das schläfrige Vorwissen aufzuwecken, selbst zur Rede zu stellen und zum Teufel zu jagen. Wenn man dem Gebilde 16.1. von Dumont und Zumstein (Insel Bern 11.1.2013) näher treten und es verstehen will, muss man immer schon selbst bereit sein, es aus dem Raum der eigenen Angstgefühle zu entlassen und so weit zu verschieben, bis es als neutrales Kunstwerk vor einem steht und im Vergleich mit anderen Gebilden diskutiert werden kann. Man wird allmählich zu spüren beginnen, dass auf diese Weise, in der die Gebilde der Theorie, der Musik, der Kunst, der Wissenschaften und der Medizin in ihrer historischen Aktualität und Notwendigkeit gelesen und so zueinander in eine Konstellation versetzt werden, ihre Deutung eminent politisch wird und diejenigen der Medizin von dem Geifer reinigt, der die Patienten als schuldig und die MedizinerInnen als verschwenderisch erscheinen lassen will.

Unten rechts ist das Oberarmstück zu sehen, das Hertel 2002 stehenlassen konnte und das noch heute den oberen Teil des nach wie vor funktionierenden Ellenbogens bildet. Von hier bis zu den Fingerspitzen sind alle anatomisch funktionalen Momente unverletzt und werden physiotherapeutisch bis zur Gipsabnahme optimal betreut. Abwärts am Rand des Übergangs vom Knochen zum (gesunden) Gelenkknorpel irritiert ein Loch: dort befand sich die unterste Schraube des sehr langen Titanstabes ("Platte"), die das Gebilde von 2002 massgeblich stabilisierte. Über demselben sehe ich (ich schreibe und entziffere gleichzeitig das Bild an einem Aspire ONE, also durch ein Nadelöhr hindurchgelinst), mindestens vier weitere. Nun befindet man sich in der Zone des Pfropfens, wo der Zusatz dem Originalstück so aufgesetzt worden war, dass die beiden sich vereinigen und veredeln konnten. Der Pfropfen wurde 2002 dem linken Unterschenkel entnommen und als über dem Knie gebrochene Fibula mit der gebrochenen Winkelseite an dieser Stelle "angeheftet" (mein Vater benutzte vor 50 Jahren zum Pfropfen im Garten Bienenwachs, der wohl für immer sichtbar blieb). Für uns gehen die Teile hier so ungeklärt ineinander über, dass es nur nötig bleibt, die zwei Teile der alten Fibula überhaupt zu sehen, wie sie unverwüstlich aufrecht stehen, auf dem Bild schräg nach links oben ragend. Vergleicht man mit 2002, hat die Pfropfstelle heute eine geringere synthetische Unterstützung, weil für uns der Titanstab bloss nach oben verschoben erscheint, verzichtend auf die Verankerung im sechsundfünzigjährigen Oberarmstück. Und doch handelt es sich klarerweise nicht um eine Reziklierung, weil im neuen Stück mit 11 Löchern gegenüber der alten Stange mit 17 keine Drehspuren mehr sichtbar sind: die jetzige Platte ist neu und nur auf der Flächenseite zurechtgedreichselt (wie wir auf dem Amboss im Keller vor über 50 Jahren Schmuck für die Mutter zurechthämmerten, mit einem daumendicken ausgefranzten Holzhämmerchen). Nach dem fünften Loch endet das untere Teilstück der Fibula, das jetzt mit vier Schrauben gesichert ist, und die Platte ragt frei über dasselbe hinaus. Ihre zwei letzten Löcher enthalten Schrauben, die an neuen Stellen im Schulterblatt verankert sind, und in den Löchern vier und fünf von oben stecken zwei noch längere, die auch die Halteplatte des unteren Teilstücks der Fibula durchbohren und absichern, in einem Fall sogar durch ein Loch hindurch, das bereits durch eine Schraube ausgefüllt erscheint. Die untere Fibulahälfte wird zuunterst durch die alte, unveränderte fünflöcherige Platte mit drei Schrauben gesichert, von denen zwei im Reststück des Unterarms beziehungsweise im Ellenbogengelenk stecken. An ihrem oberen, nunmehr kurzen Ende sind zwei Platten sandwichartig befestigt, die aufliegende klein und dreilöcherig, die darunterliegende doppelt so lange. Man hat Mühe, den Schraubenhaufen in einer Ordnung zu sehen, obwohl die Rekonstruktion an dieser Stelle wie an allen ausbleibenden, die zu beschreiben wären, auf alte Strukturmomente keine Rücksichten mehr nimmt. Von hier an beherrschen für uns die Kategorien des Zuviel und des Zuwenig immer aneinandergeklebt das Feld. Man muss sie anstarren, die Schrauben und die von ihnen scheinbar verfehlten Löcher, die dem Ganzen Halt geben sollen, bevor die Schraubenspitzen sich ins Schulterblatt bohren. Leicht sind nun Teilmomente des radikal neuen Zusatzes aus dem linken Beckenkamm auszumachen; für uns erkennbar ist indes nur ein bescheidenes Stück, das, wenn denn überhaupt, nur durch zwei Schrauben von unten gesetzt an Ort und Stelle festgehalten wird. Von jetzt an sind uns nur Verfehlungen sicher, deren Gehalte als quasi Mahnungen erinnert werden: Wo ist das Reststück des Schlüsselbeins und wo das obere Ende des Beckenstücks, wo das untere? Wo verläuft, im Hintergrund, klar, der abgeschnittene Rand des Schulterblattes? Gibt es eine bezeichenbare Passgenauigkeit zwischen diesem Rand und dem Beckenstück? Oder muss man dem Schein folgen, dass dieses Supplement frei im Gefüge plaziert ist und ausschliesslich vom Weichgewebe gehalten wird, in einer Art Ummantelung und in einer Weise, dass in der Tat im Innersten einer Struktur, die vormals von einem festen Rohgerüst getragen war und zusammengehalten wurde, nun eine funktionslose Leerstelle herrscht, die von dem gehalten wird, was die Stelle vor der Dekonstruktion selbst einmal zu tragen hatte?

Auch wenn die grossartigen Gebilde der Gegenwart verquer im Raum der Lektüren herumstehen mögen, besteht kein Grund, vor ihnen Angst zu haben. Was in ihnen sichtbar wird, hat mit dem Innersten der Gesellschaften zu tun und ist Zeichen dafür, dass sie ihr Altes abzulegen und zu transformieren imstande sind. Man muss es lernen, solche Gebilde als die der Hoffnung zu lesen und als Gegenteil des Zusammenbruchs.

Gunten, 21. Januar 2013